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2. Vor der Hütte

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Ein Netz von Schutzhütten spannt sich über die Berge. Die Maschen dieses Netzes belaufen sich auf etwa zwei bis sieben Stunden Fußmarsch. Einige dieser Hütten waren ursprünglich Behausungen für die Viehhüter. Die Bestimmung der Hütten änderte sich, wie sich der Ruf der Berge vom bloßen Schrecken zur Herausforderung wandelte. Die technische Entwicklung schuf im Kampf ums nackte Überleben allmählich freie Zeit. Bessere Kleidung, bessere Schuhe ließen Vorstöße in höhere Bereiche der Berge zu. Die Welt über der Baumgrenze, vormals Sitz des Teufels, der von dort aus mit Hagel, Blitz und Wolkenbrüchen die Ernte gefährdete und den Menschen nach dem Leben trachtete – die Heimat des Grauens mutierte zum begehrten Ziel von Entdeckern, Romantikern und Sportsmännern. Zahlreiche Opfer steigerten nur noch den magischen Reiz der Berge, sie entfachten den Ehrgeiz der Mutigen, den Tücken der Natur zu trotzen. Die Pessimisten dagegen sahen in jedem Opfer der Berge eine Strafe für die Überheblichkeit, das Schicksal aus purem Vergnügen herauszufordern. Mächtige Kreuze wurden auf die Gipfel geschleppt, sie sollten Gott gütig stimmen und den Teufel vertreiben. Die Sennhütten waren am Anfang der Bergsteigerei begehrte Unterschlüpfe für die neuen Abenteurer, wenn schlechtes Wetter sie überraschte, aber auch Ausgangspunkte zu entlegenen Zielen. Diese Dienste entwickelten sich rasch zum Geschäft und bald entstanden Hütten allein zu diesen Zwecken. Heute dienen nur noch wenige Hütten ausschließlich als Unterkunft für die Viehhüter.

Ben und Babette hörten den Lärm von der Hütte lange bevor sie sie sehen konnten. Auch der Wald um sie herum war voller Stimmen. Ein Mann mit forschendem Blick tauchte vor ihnen auf. Wie schon die jungen Leute vorhin trug auch er einen stattlichen Rucksack. ‚Warum schleppen sie den halben Hausstand mit sich herum’, dachte Ben. Als der Rettungsmann die Beiden sah, stieß er wilde Schreie aus,

„I hob’s, i hooob’s! Juhuhui!” Erst dann nahm er sein Funkgerät und gab seinen Fund weiter. Nun kamen auch die anderen Stimmen aus dem Wald auf sie zu, Ben und Babette sahen sich bald von rot-weiß-karierten Hemden umzingelt. Die Rettungsleute waren mit dem raschen Erfolg ihres systematischen Durchkämmen des Waldes zufrieden, einige zeigten sich erleichtert, andere vorwurfsvoll-belehrend. Sicher geleitete die Gruppe die beiden vermisst Geglaubten die letzten dreihundert Meter bis zur Hütte.

Die Silbersteinhütte ist kein ehemaliges Sennenquartier, sie ist ein behagliches Gasthaus mit rustikaler Küche und Übernachtungsmöglichkeit, sowohl in Zimmern mit fließend Kalt- und Warmwasser, als auch auf romantischem Matratzenlager und Waschtrog hinterm Haus: Verzicht auf Annehmlichkeiten ist auf Wunsch buchbar und meist besser belegt als die komfortablen Zimmer. Weil Abenteuer und Bequemlichkeit einander ausschließen, werden die wenigen Zimmer meist nur von „Fußkranken“ belegt. Es war der witzige Wirt der Silbersteinhütte, der seine Kundschaft in drei Kategorien gliederte: in Bergsteiger, also solche, denen kein Gelände zu schwierig ist; in Wanderer, die auf bequemen Wegen bleiben und eben in „Fußkranke“, die sich von Liften und Seilbahnen hoch schleppen lassen und keinen Schritt zu viel tun. Der Reiz der Berge ist heute jedermann zugänglich. Die Silbersteinhütte ist gleichzeitig Bergstation des Fichtenegger Sesselliftes, der im Winter zum Schlepplift für Schiläufer umgebaut wird. Das macht sie zum beliebten Ausflugsziel im Sommer und zur geschätzten Einkehrstation im Winter, wo vor der Abfahrt noch ein Jägertee eingenommen wird. Ihr Hinterland bietet anspruchsvolle Klettertouren, ausgedehnte Wanderwege und den Fußkranken bleiben ein wunderschöner Blick auf das Heubachtal und selbst ersonnene Wilderer-Geschichten vom Hüttenwirt. Vor der Hütte stehen Tische und Stühle. Bei schönem Wetter isst und trinkt man selbstverständlich draußen, den Wald im Rücken, das Tal vor Augen.

Auf einem der klobigen Holztische neben der Hütte stand eine tragbare Funkstation. Der Funker gab durch:

„Vermisste gefunden – Aktion beendet – over!“ Mitchell Brown stand neben dem Funker. Er kaute auf einem Zahnstocher und grinste breit.

„Na, habt ihr euch gemeinsam verlaufen?“

„Niemand hat sich verlaufen.“ sagte Babette. „Wir waren auf dem Gipfel.“ Helen kam aus der Hütte gelaufen und umarmte die Freundin.

„Bette! Hätten wir gewusst, dass du bei Ben bist, konnten wir uns den Rettungsdienst sparen.“ Babette schüttelte den Kopf.

„Wie bitte? Ihr habt dies Theater hier meinetwegen veranstaltet? Als hätte mein kleiner Spaziergang das ganze Tal gefährdet!“

„Little walk?“ fragte der Einsatzleiter der Bergrettung, „You said »little walk«, Lady? We... the mountain rescue service... thirty bis forty Einsätze... employment’s in one year, Lady! Nix little walk! Five bis ten Tote, dead people just here bei uns. The mountains are no Kindergarten, ja Kruzifix, wia sagt ma denn, it’s no... no playground, you know!“ Babette sah ihn wütend an. Noch ehe sie etwas sagen konnte, drehte Helen sie zu sich herum.

„Wir hatten einfach Angst um dich. Wie hätten wir wissen sollen, dass ihr zusammen unterwegs ward.“

„Warum behandeln mich alle wie ein Kind?“ sagte Babette. „Wir haben bestes Wetter, was hätte mir passieren sollen?“ Ben humpelte ein wenig. Er setzte sich und machte seinen linken Fuß frei. Die Druckstelle am Knöchel hatte sich zu einer Blase entwickelt, die aufgeplatzt war. Eine münzgroße Wunde klaffte.

„It looks terrible.“ sagte der Einsatzleiter, „Warten’s, wir helfen ihnen.“ Er winkte eine Kameraden mit Sanitätskasten zu sich. Mit flinken Händen desinfizierten und verbanden sie Ben’s „Verletzung“.

„Little walk!“ wiederholte Einsatzleiter Grabler abschätzig und sah Babette streng an, „Holt man sich so was auf einem kleinen Spaziergang, ha?“ Der Kampf gegen Leichtsinn und Unwissenheit legte seine Stirn in Sorgenfalten. Babette hatte genug von den Belehrungen, sie war durstig und bat Ben um die Feldflasche. Ben schraubte die Flasche auf und drehte sie auf den Kopf. Sie hatten sie bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken.

„Die hat uns ein freundlicher junger Mann überlassen.“ sagte Ben, „Sie haben recht, wir waren tatsächlich ein bisschen leichtsinnig, Mister...“

„Grabler is my name,“ sagte der Einsatzleiter, „but say ruhig Max to me!”

„Okay Ruhigmax, my name is Ben.“

“No, no Max genügt. Just Max! Always on duty for you. But please, in future, don’t risk so much. We have übrigens ganz ausgezeichnete Guides, very good Bergführer, you know!”

“Thank you!“ sagte Ben und sah hoch zum Gipfel des Silbersteins. In der späten Nachmittagssonne begann seine steile westliche Flanke schon rosa zu schimmern.

„Sieh mal Bette. Er ändert sich ständig. Von jeder Stelle, in jeder Minute des Tages und bei jedem Wetter zeigt er dir ein anderes Gesicht. Ist er nicht wunderschön.“

„Perfekt, Ben.“ sagte Babette.

„Da oben, Helen,“ sagte Mitch, „da oben waren unsere beiden Ausreißer!“

„Unglaublich!“ sagte Helen.

„Indeed, incredible!“

„Na, so unglaublich auch wieder nicht.“ sagte Ben, „Schließlich haben wir zwei Greenhorns es geschafft. In diesen Schuhen, ha! In Tanzschuhen, wie die Jungs spotteten, die ich auf dem Gipfel traf. Ich hab’s in Tanzschuhen da oben hin geschafft, Kumpel, und die letzten Meter zurück zur Hütte hätten wir auch noch ohne Begleitung hingekriegt. Aber gut, ihr habt sie ausrücken lassen, jetzt müssen wir den Jungs von der Bergrettung für ihre Mühe ein Fass Bier spendieren. Das gehört sich so, hat mein Vater erzählt.“ Ben ging in die Hütte und bestellte ein Fass.

„Da heroben gibt’s keine Fassl“, sagte der Wirt, „nur Flaschen in Kisten.“

„Okay, wie viele Kisten sind ein Fass?“ Der Wirt witterte ein Geschäft und sagte „Sieben.“

Die Rettungsmannschaft johlte, als der Wirt sieben Bierkisten vor die Tür stellte und sagte:

„Für alle. Von ihm!“ Auch die übrigen Gäste der Silbersteinhütte, die den Einsatz interessiert verfolgt hatten, fühlten sich eingeladen, dankten den Spendern und feierten deren Rückkehr ins Leben. Bald hatte einer der Rettungsmänner eine Gitarre zur Hand und ein zweiter ein Akkordeon. So ernsthaft sie ihren Job erledigten, so ausgelassen konnten sie feiern, wenn es Anlass dazu gab. Sie tranken, lachten und sangen Lieder, die von den Heldentaten der Bergsteiger erzählten, vom Edelweiß, das als Liebesbeweis aus steiler Felswand geholt werden wollte, und vom Heldentod, wenn der Liebende dabei ausrutschte.

Mitch nahm seine Frau zur Seite, er packte sie am Arm und sagte:

„Mach das nicht noch mal Baby, hörst du!“

„Was meinst du eigentlich? Und nenn mich nicht immer »Baby«, das ist doch albern.“

„Ben ist mein bester Freund, jeden anderen hätte ich erschlagen!“

„Ich glaube, du spinnst, Mitchell Brown. Lass mich los!“ sagte sie und wandte sich aus seinem Griff.

Ben und Helen hatten neben Babette und Mitchell noch vier weitere Freunde im Schlepptau: Bill, Bob, Bert und Geazy. Für sie war die Reise nur ein Vergnügungstrip nach old Europe. Sie kannten Europa von Kalenderfotos: alte Fachwerkstädte, alte Bauernhäuser, alte Schlösser, Burgen, Ruinen; für sie war Europa so, wie ihre Vorfahren es verlassen hatten: eine Vorstufe Amerikas. Sie besuchten Europa wie ein Museum. Eins mit richtigen Menschen, die das Leben naturgetreu nachstellten - Great!

„Spielt’s an Schuhplattler!“ rief einer den Musikanten zu, die sich nicht lange bitten ließen und vier der Bergmenschen begannen zu tanzen, sie stampften mit ihren schweren Schuhen zur Musik, klatschten sich abwechselnd auf Schenkel und Schuhe, zum Klatschen verabreichten sie sich synchrone Scheinohrfeigen. Bill, Bob, Bert und Geazy waren von der alpenländischen Folklore begeistert. Plötzlich sah sich Babette eingekreist von rot-weißkarierten Hemden, sie war schließlich Auslöserin des ungewöhnlich verlaufenden Nachmittags. Geschmeidig wie Raubtiere umtanzten sie die verdutzte Babette mit einem vieldeutig-urigen Lächeln. Bill, Bob, Bert und Geazy hielten den Tanz und den begleitenden kernig-gutturalen Männergesang mit ihren Videokameras fest. Sie gaben Babette Zeichen, wollten sie als Mittelpunkt dieser kultischen Handlung inszenieren,

„Sie haben dich vor den bösen Geistern der Berge gerettet, Baby“, riefen sie, „zeig ihnen, Dankbarkeit, dreh dich, senk den Kopf, schlag die Augenlider nieder, wackle mit dem Hintern, Baby!“ Babette zeigte ihnen den Vogel, drückte zwei der Tänzer weg und ging zu Helen.

„Ich sehne mich nach einer Dusche, ein nach wenig Ruhe und nach einer kräftigen Mahlzeit!“ sagte sie.

„Natürlich!“ sagte Helen, „Du Ärmste, du musst ja völlig fertig sein. Lasst uns aufbrechen, Leute!“ Die anderen schlossen sich dem Vorschlag an, ihre Videokameras hatten genug eingefangen. Sie dankten dem Himmel für die tiefen Einblicke in die Mythologie einer alten Kultur und stiegen in den Sessellift. Von den Eindrücken benommen, vom Bier ein wenig berauscht und ein bisschen müde von beidem schaukelten sie am dünnen Drahtseil zu Tal. Hinter Bill, Bob, Bert und Geazy hingen Babette und Mitchell, der seine erschöpfte Frau besorgt und vorwurfsvoll ansah, und als letzte der Gruppe schwebten Ben und Helen hinunter ins Heubachtal dessen Nordostseite schon im blaugrünen Schatten lag, und je tiefer sie kamen, umso deutlicher wurden die Konturen des Dorfes Fichtenegg. Ben warf einen Blick zurück auf den scharf gezeichneten, glühend roten Gipfel. ‚Jetzt müsste man dort oben sein und die ganze Nacht bleiben!’ dachte Ben, ‚Im kühlen Dunkel der Nacht wäre man wirklich allein!’

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