Читать книгу Die kühle Blonde. Zweiter Band - Ernst von Wolzogen - Страница 4
Elftes Kapitel. Im Reichstag.
ОглавлениеDer 28. April sollte für den Abgeordneten Freiherrn von Drenk ein bedeutungsvoller Tag werden. Er gedachte an diesem Tage seine Jungfernrede vom Stapel zu lassen. Immer noch hatte die Gelegenheit sich nicht zeigen wollen; nun aber galt es, nicht mehr zu zaudern. Die Sitzungsperiode näherte sich stark ihrem Ende. Am 28. April kam eine Novelle zum Vereinsgesetz zur Beratung; das musste ihm den willkommenen Vorwand für seine Anklage wider die Freimaurerei abgeben. Am Abend vorher hatte er an seinen Schwiegersohn, sowie an seinen Neffen, Günther von Schlichting, Tribünenkarten mit höflicher Einladung gelangen lassen.
Günther machte sich beizeiten auf, um seine schöne Base abzuholen. Lori bedauerte sehr, dass ihr Gatte nicht mitkommen könne: er befinde sich seit einigen Tagen gar nicht wohl, leide an Kopfschmerzen und an einer nervösen Unruhe, die ihn besonders beängstigend in zahlreicher Gesellschaft überfalle. Der Arzt habe ihm dringend eine Erholungsreise empfohlen. Sie würden nach dem Süden aufbrechen, sobald erst gewisse Geldangelegenheiten geordnet wären.
Günther machte einige heuchlerische Redensarten und citierte dabei im stillen Hamlets: „Jetzt könnt’ ich’s thun — bei Gott, jetzt will ich’s thun!“
Unterwegs suchte er seine heute mehr als gewöhnlich stille Base vorsichtig über den wahren Grund von Renards Nervenverstimmung auszuforschen. Er wusste noch nicht, dass der alte Döhmke bereits seine Keulenschläge auf des Schuldigen Haupt geschmettert hatte, vielmehr gedachte er selbst die Rolle des olympischen Donnerers zu übernehmen. Die nötigen Redeblitze waren in der Werkstatt seines rachesinnenden Geistes schon längst zurechtgeschmiedet worden. Lori aber war klug genug, um aus seinen versteckten Anspielungen zu entnehmen, dass er um den Verdacht wisse, der über der Ehre ihres Mannes schwebte, und sie hütete sich wohl, in seine Schlingen zu treten. Sie hob vielmehr auf das nachdrücklichste hervor, dass der Schmerz über den Verlust seines Kindes ihm so tief ans Herz gegriffen habe. Bei dieser Gelegenheit habe sie selbst erst recht erkannt, wie sehr das allgemeine Urteil ihm unrecht thue, welches, wie sie wohl wisse, und wie auch Günther ihr schon angedeutet habe, ihm die Gemütstiefe abzusprechen geneigt sei.
Günther ärgerte sich nicht wenig über diese Wendung ihres Gesprächs. Er konnte doch nicht so brutal sein, gerade jetzt ihrem schönen Glauben die hässliche Wirklichkeit entgegenzusetzen! Den Rest des Weges suchte er daher mit gleichgültigen, scherzhaften Gesprächen zu verkürzen. —
In den Wandelgängen des Reichstags fanden sie den Freiherrn bereits ihrer wartend. Er ging ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen und bemühte sich, höchst aufgeräumt und unbefangen zu erscheinen, was aber freilich nicht verhindern konnte, dass Tochter und Neffe ihm seine Aufgeregtheit auf den ersten Blick ansahen. Seine leicht ergrauten Locken erschienen noch wirrer denn gewöhnlich — ach, wie oft waren die zitternden Finger heute schon hindurchgefahren! Selbstverständlich sass auch die Krawatte so schief wie nur möglich, ja, zur Erhöhung der Feierlichkeit war auch noch die Weste falsch zugeknöpft, indem der erste Knopf in das zweite Knopfloch geraten war. Lori zog ihren Vater in eine Ecke und bemühte sich lächelnd um die Verschönerung seines äussern Menschen.
„Ihr werdet etwas Geduld haben müssen,“ sagte der Freiherr; „Eugen Richter macht heute dem Minister wieder besonders viel zu schaffen. Wahrscheinlich wird auch Bebel eine längere Rede halten — nun ja, es ist ja natürlich: die Sozialdemokraten sind ja bei diesem Vereinsgesetz am meisten interessiert. Aber nach Bebel komme ich! Oh, ich denke, meine Rede wird einiges Aufsehen machen! Bisher hat kein Mensch an die Freimaurerei gedacht, und man lässt sie ihre gefährliche Wühlarbeit ganz ungestört verrichten. Na, ich werde der Regierung endlich einmal die Augen öffnen.“
„Aber, lieber Onkel,“ wandte Günther ein, „hast du auch bedacht, dass Seine Majestät selbst das Haupt der Preussischen Loge ist?“
„Gewiss, gewiss! Aber ich werde eben den Mut haben, das schändliche Lügengewebe dieser Menschen zu zerreissen. Oh, ich sage euch: Majestät wird meine Rede lesen und — dann hat die letzte Stunde der Loge geschlagen! Ist es nicht geradezu Hochverrat, durch Vorspiegelung ihrer sogenannten humanen Zwecke sich die Sympathie des Monarchen zu erschleichen, während im Grunde doch gerade die Vernichtung der Monarchie eines ihrer vornehmsten geheimen Ziele ist?“
„Ja, Pardon, lieber Onkel,“ beharrte Günther lächelnd, „du hast doch deine Ansicht von den revolutionären Bestrebungen der Loge nur aus Büchern geschöpft, und zwar meist aus Werken des vorigen Jahrhunderts, soviel ich weiss. Inzwischen sind aber doch die meisten der damals neuen liberalen Ideen uns allen in Fleisch und Blut übergegangen. Einiges davon gibt man freilich auch heutzutage noch nicht gern öffentlich zu — wir Säulen des Staates wenigstens nicht; aber so unter uns aufgeklärten Männern — na, Onkel, da mauern wir alle ein bisschen! Mir hat neulich erst jemand, der selbst Maurer ist, gesagt, dass die ganze Geschichte heutzutage kaum noch was andres vorstelle, als eine recht platte Vereinsmeierei, die durch ihren theatralischen Aufputz und die Geheimthuerei gerade auf beschränkte Köpfe einen besondern Reiz ausübt. Die Brüder Streber schieben einander gegenseitig weiter, das ist die Hauptsache, gerade so, wie es bei uns alten Herren vom S. C. auch die Hauptsache ist! Nimm mir’s nicht übel, Onkelchen, aber ich glaube, die wissenden Logenbrüder werden dir alle sagen, dass du sie aus Unkenntnis überschätzest.“
„So, glaubst du das wirklich!?“ fiel der Freiherr etwas gereizt ein, „dann bitte, sieh dir ’mal dies an! Was sagst du dazu?“ Er entnahm seinem Taschenbuche einen Brief, den er seinem Neffen mit einem triumphierenden Blick überreichte.
„Was Tausend!“ rief Günther, nachdem er die ersten Zeilen überflogen, „da redet dich einer mit ‚hell leuchtender Bruder‘ an?“
„Ja, und siehst du die Unterschrift? Meister der Loge Royal York. Der Mann dankt mir für meine von echt maurerischem Geiste erfüllte Abhandlung über den Gesang des Ariel in Goethes ‚Faust‘ und sagt — ja, das ist alles so schmeichelhaft, das darf ich gar nicht wiederholen! Meine Ironie hat er für bare Münze genommen, und mich hält er für ein grosses Licht der Loge — mich! hahaha! Du siehst also, dass ich die Dinge doch wohl einigermassen kennen muss!“
Günther trat unter allerlei Entschuldigungen den Rückzug an. Er wollte dem guten Onkel auch nicht gar zu bange machen, denn er erhoffte sich von seiner Rede einen hübschen Spass.
Lori hatte dem Gespräche mit ziemlichem Unbehagen zugehört, da sie wohl merkte, wie Günther den guten Papa mit seiner fixen Idee innerlich verhöhnte. In der Einsamkeit von Klein-Pölzin hatte sie ja immer nur gesehen, mit welcher Gründlichkeit ihr Vater bei seinen wissenschaftlichen Forschungen zu Werke ging; sie wusste, wie ernst es ihm mit allem war, was einmal seine geistige Teilnahme erregt hatte, und darum schmerzte es sie, wenn man dies alles zu bespotten wagte. Freilich hatte auch sie, seit sie in Berlin lebte, besonders im Gedankenaustausch mit ihrem so völlig vorurteilslosen, modernen Gatten erkannt, dass die Arbeit der Grossstadt mit ihrer ewig brodelnden Intelligenz etwas ganz andres sei, als die phantastische Grillenfängerei ländlicher Musse, ja, dass eine ganze Reihe von Anschauungen, die da draussen in der Provinz noch für völlig gegenwärtig gelten, von der flinken Kritik des Grossstädters längst überwunden und für gar nicht mehr diskutierbar erklärt worden waren. Wenn sie daran dachte, dass ihr lieber Vater vor dieser hochansehnlichen Versammlung, vor diesen hohnlachenden Fortschrittlern insbesondere, das Ergebnis jahrelanger, mit so heiligem Eifer betriebener Studien verkünden sollte, so überlief sie ein gelinder Schauder. In diesem besondern Falle vermochte sie ja nicht zu beurteilen, ob ihres Vaters Ansichten wirklich ernst zu nehmen seien; doch sagte ihr eine Ahnung, dass er im Begriff stehe, sich lächerlich zu machen. Sie wusste aber auch, dass ihr Papa recht eigensinnig sein konnte, wenn man seinen vorgefassten Meinungen widersprach, und darum wagte sie auch nicht, ihm von seinem gefährlichen Vorhaben auch ihrerseits noch abzureden. Vielleicht wirkten die spottenden Einwände des Vetters noch nach und machten ihn bedenklich.
Ein paar Minuten später sass Günther mit seiner schönen Base auf der Tribüne. Die Bänke der Abgeordneten waren ziemlich stark besetzt, und Günther vermochte eine ganze Anzahl parlamentarischer Charakterköpfe zu erkennen. Lori hatte sich nie viel um Politik gekümmert, doch interessierte sie immerhin das Treiben im hohen Hause, in welchem dem Reiche Gesetze gegeben wurden und das sie sich doch sehr anders vorgestellt hatte. Sie sah die meisten Abgeordneten mit Briefschreiben, Zeitunglesen und Schwatzen beschäftigt. Der Redner schien überhaupt nur für die Stenographen zu sprechen und höchstens für die paar Gegner, welche sich, Notizen machend, dicht an der Tribüne aufgestellt hatten. Am Schlusse klatschte die Partei des Redners diesem pflichtschuldigst Beifall, obwohl sie mit kaum grösserer Aufmerksamkeit als die Gegner zugehört hatte. Als der Abgeordnete Richter sprach, wurde man aufmerksamer, aber wie es Lori schien, auch nur, um die Gelegenheit zu höhnischem Gelächter und Zwischenrufen auf der Rechten, zu manchem triumphierenden „Hört! Hört!“ oder „Sehr richtig!“, zu lautem Beifall auf der Linken nicht zu versäumen. Genau das Umgekehrte wiederholte sich, als nach Richter ein bekannter Hochkonservativer das Wort ergriff.
Lori hatte den Eindruck, als ob es das einzige Bestreben aller dieser geschickten Redner sei, ihre Gegner als Dummköpfe darzustellen und die Lacher auf ihre eigene Seite zu ziehen. Der Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verhandlung war Lori meist sehr unklar und sie begriff nicht, wozu alle diese spitzigen Auseinandersetzungen eigentlich führen sollten. Die lange Reihe von persönlichen Bemerkungen, welche die letzten Reden hervorriefen, arteten zu einem fröhlichen Witzgeplänkel aus, in welchem sogar der Kalauer nicht verschmäht wurde und in dem die kleine Excellenz von Meppen schliesslich den Vogel abschoss.
„Heute haben wir’s aber gut getroffen! Nicht wahr, Lori, das ist doch ganz lustig hier?“ wandte sich Günther lachend an seine Base.
„Ja, ich muss gestehen, etwas ernsthafter hatte ich mir eine Reichstagssitzung doch vorgestellt,“ erwiderte Lori, „dies hohe Haus scheint nur ein Eitelkeitsmarkt, wie andre mehr. Im Gegenteil, wenn unser Freund Werner Grey einen Toast auf die Damen ausbringt, so ist er wahrscheinlich ernstlicher für seinen Gegenstand begeistert, als diese Herren Volksvertreter hier.“
„Du sprachst ein grosses Wort gelassen aus!“ citierte Günther und fuhr dann mit überlegenem Lächeln fort: „Weisst du, wenn die Reichstagsverhandlungen nicht Wort für Wort in die Zeitungen kämen, dann würden sich verwünscht wenig Menschen bereit finden, Abgeordnete zu werden. Dass jemand sich durch die Rede eines Gegners von seiner vorgefassten Meinung abbringen liesse, das kommt so gut wie gar nicht vor. Die Parteileithämmel haben die Meinung für ihre Herde, und wehe dem, der einmal eine eigne Ansicht zu äussern wagte, oder der gar anerkennen wollte, dass ein Gegner ihn überzeugt habe! Solange das politische Fraktionswesen blüht, wird dieser ganze kostspielige Apparat nie etwas Positives für die Gesetzgebung leisten.“
„Aber wozu denn dann das alles?“
„Oh, die Regierung hat ja nur Vorteil davon, dass sie der Grossmannssucht, der eitlen Kannegiesserei dieses Ventil geöffnet hat. Die civilisierte Menschheit kommt sich heutzutage so überaus klug vor, dass sie alles besser wissen will, als die Leute, die die Regierungsarbeiten zu thun haben. Wenn diese eitlen Weisheitspächter nicht hier reden dürften, dann würden sie vielleicht handeln — und das könnte gefährlich werden! Sie glauben wunder, was sie mit ihrer Konstitution erreicht haben! Für den vernünftigen Mann ist diese Puppenkomödie nur ein Spass mehr in unsrer närrischen Welt. Wenn wir ’mal einen Kaiser und einen Kanzler hätten, die sich vor diesen Maulhelden da fürchteten, ja, dann sähe die Sache schlimm aus. Aber Gott sei Dank, unser Bismarck mit seiner souveränen Verachtung dieser hohen Körperschaft, der treibt sie ja noch alle zu Paaren. — Da, sieh ’mal, das ist Bebel. Ja, siehst du, die Leute sind gefährlich, die wissen, was sie wollen, und das kann sich natürlich keine Regierung gefallen lassen!“
Lori lauschte mit grosser Aufmerksamkeit den beredten Ausführungen des berühmten Sozialdemokraten. Die schneidende Ironie, mit welcher er die Absicht der Regierung, seiner Partei einen neuen Stein auf die Schienen zu wälzen, bekämpfte, machte einen ganz andern Eindruck auf sie, als die gesuchten Witzeleien der früheren Redner, ganz besonders aber die ruhige Sicherheit, mit welcher er den einstigen Triumph seiner Ideen verkündigte, trotzdem er die Vergeblichkeit der gegenwärtigen parlamentarischen Kämpfe einsah. Sie ärgerte sich nicht wenig über Günthers fortwährende Zwischenbemerkungen, durch die er ihre Aufmerksamkeit auf äusserliche Dinge abzulenken suchte.
„Ich weiss nicht, was du willst,“ suchte ihn Lori etwas ärgerlich abzuweisen, „ich finde diese Rede höchst interessant. Wenn nur die Hälfte von all dem wahr ist, was er hier über die ungerechte Behandlung seiner Parteigenossen vorbringt, dann muss ich wirklich sagen ...“
„Du hättest Lust, Sozialdemokratin zu werden, nicht wahr?“ vollendete Günther ironisch lächelnd. „Ja, das kenne ich! Das geht vielen idealen Schwärmern so, die nie aus ihrem Museum herauskommen. Wenn hier die Herren sozialistischen Abgeordneten ihre brillanten Reden halten, anständig angezogen, mit den Manieren gebildeter Männer — ja, das imponiert gewaltig! Aber nun brauchst du bloss von hier nach der Stadtbahn zu gehen und so zwischen Sechs und Sieben eine Strecke in einem Wagen dritter Klasse zu fahren — wetten, dass dir in dieser Atmosphäre von Schweissgeruch, Fuselduft und Tabaksqualm die sozialistischen Anwandlungen sofort vergehen! Rein theoretisch betrachtet, ist diese Partei sicherlich diejenige, welche die höchsten Ideale hat — das hat auch dein Papa mir neulich ’mal ganz kleinlaut zugestanden — aber um diese Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen, müssten die Menschen zunächst ’mal Engel werden. Betrachtet man die Wirklichkeit und guckt möglichst genau den einzelnen Menschenklassen in die Fenster, dann kommt man zu der Erkenntnis, dass doch diese engherzige Absonderung der Menschen nach Stand, Geburt und so weiter ihre guten Seiten hat: es ist nicht nur der Geist, der sich zu einer gewissen Eigenart zuspitzt, sondern vor allem auch der Charakter, so weit er auf festgewurzelten moralischen Anschauungen beruht, der durch diesen heut noch herrschenden Kastengeist erzogen wird.“
„Ah, nun wirst du gewiss wieder auf das berühmte Beispiel vom preussischen Sekondelieutenant kommen, diesem angeblich unnachahmlichen Nationalkleinod!“
Lori war wider Willen durch die neue Wendung, die der klugschwätzende Vetter dem Gespräche gegeben hatte, gefesselt worden. Durch ihre ziemlich unfreundlich gegebene Antwort gedachte sie Günthers lehrhafte Sicherheit ein wenig einzuschüchtern.
Aber so leicht liess sich der zungengewandte Vetter nicht abschütteln, zumal, da er jetzt plötzlich den Weg klar vor sich sah, auf dem er zu dem Ziele gelangen konnte, das er sich für heute gesteckt hatte. Mit seinem gewohnten überlegenen Lächeln fuhr er scherzend fort: „Allerdings, Cousinchen, ich hätte auch wieder auf meinen berühmten Sekondelieutenant kommen und den Beweis antreten können, dass ein sorgfältig durchgezogener Scheitel zum Beispiel von grösster Wichtigkeit für die Entwickelung militärischer Talente sei. Uebrigens, ich weiss ganz wohl, woher der Wind bläst! Dein Mann ist ja ein wütender Gegner des Militarismus. Sehr begreiflich ...!“
„Ja, allerdings: sehr begreiflich! Du weisst, dass mir die fade Geckerei junger Offiziere und — Corpsstudenten“ — dies Wort unterstrich Lori mit einem Seitenblick auf den Vetter — „schon als Mädchen gar nicht sympathisch gewesen ist. Mein Mann betrachtet die Frage mehr vom volkswirtschaftlichen Standpunkt, und auch da muss ich ihm vollständig recht geben. Du als Reserveoffizier darfst ja natürlich nicht anders als vorschriftsmässig denken ...“
„Ich darf aber vor allen Dingen auch manches nicht thun, was leider sehr vielen Civilisten keine besondrer: Gewissensbisse zu verursachen pflegt,“ fiel Günther mit scharfer Betonung ein. „Es ist doch eine ganz schöne Sache um die Kitzlichkeit des militärischen Ehrbegriffs — ich verstehe sehr wohl, dass gewisse Leute sich unbehaglich fühlen in Gesellschaft von Männern, in deren Augen sehr viele ihrer harmlosen Geschäftsgewohnheiten als gemeine Schurkereien erscheinen müssten.“
Lori wurde blass. Sie sah nun, worauf Günther hinaus wollte: er wusste offenbar etwas von dem Verdachte, der auf ihrem Manne ruhte. Und sie fühlte, wie Günthers kleine Augen jede ihrer Mienen belauerten. Zum erstenmal empfand sie es heute mit schmerzlichem Erschrecken, wie die Welt auch die Frau eines Mannes, der an seiner Ehre Schaden genommen, mit büssen lasse. Jetzt erst erkannte sie, eine wie schwere Aufgabe sie dadurch übernommen, dass sie bei diesem Manne auszuharren sich entschlossen hatte.
Erst nach einer kleinen Pause der Sammlung fand sie eine Antwort. „Es scheint mir doch sehr fraglich, ob gerade ihr mit euren sehr einseitigen Ehrbegriffen menschliche Verirrungen gerecht zu beurteilen vermögt. Ich glaube zum Beispiel, dass unsre Gerichtshöfe nicht so überaus häufig solche aller psychologischen Einsicht ins Gesicht schlagende Urteile fällen könnten, wenn sie nicht ausschliesslich von Juristen gebildet würden — unter denen eben die Corpsstudenten und Reserveoffiziere gar so zahlreich sind.“
„Na, erlaube ’mal, das ist denn doch etwas stark!“ entgegnen Günther gekränkt. „Ich denke, man braucht nicht gerade Corpsstudent und Reserveoffizier zu sein, um einen solchen Vertrauensbruch, einen so kolossalen Betrug gegen einen väterlichen Freund für eine ehrlose Handlung zu erklären. Na ja, jetzt ist es heraus! Ich wollte es dir vor vierzehn Tagen schon sagen, dass ich Renards schöne Streiche kenne, und dass meiner Ansicht nach eine Drenk nicht abwarten darf, bis der Staatsanwalt sich ihres unwürdigen Gatten erbarmt! Aber da kam der Todesfall dazwischen und — auch ohne deine psychologische Einsicht nimmt man ja gewisse menschliche Rücksichten!“
„Woher weisst du ...?“ flüsterte Lori mit bebenden Lippen, „hat Herr Döhmke dir etwa ...?“
„O nein! Ich weiss die Geschichte von dem Manne, durch den sie auch der alte Döhmke zuerst erfahren hat. Einen gewissen Pickel — einen Menschen, der klatscht wie ein altes Weib. Da werden es bald die Spatzen von den Dächern zwitschern!“
„Mein Gott!“ seufzte Lori auf. Ein kalter Schauder lief über ihren Rücken; sie krallte die schmalen Finger auf ihrem Schosse fest ineinander und biss sich auf die erbleichten Lippen, um eines Ohnmachtsgefühles Herr zu werden.
Günther griff nach ihren zusammengeballten Händen und drückte sie warm, während er sich flüsternd ganz nahe an ihr Ohr beugte. „Arme, liebe Lori,“ sagte er, „was musst du gelitten haben! Glaube mir, bei diesem Menschen auch jetzt auszuharren, das wäre ein übel angebrachter Heroismus. Was soll auch für die Zukunft dabei herauskommen? Ihr habt ja nie füreinander gepasst — du konntest unmöglich glücklich werden mit einem Manne, der unsrer Art so fremd ist! Erinnerst du dich noch, wie ich ihn dir schilderte, als wir ihn damals in der Kneipe zuerst sahen? Freilich, es ist ja eine alte Erfahrung, dass die klügsten Mädchen die allerärgsten Missgriffe in Herzenssachen begehen!“
Lori wollte sein Mitleid nicht. Günthers aalglatte Weltweisheit, seine anmassende Lehrhaftigkeit war ihr immer zuwider gewesen. Er sollte sich ihr nicht als Beichtiger und Berater aufdrängen — er am allerwenigsten! Unter seinen Worten fand sie ihre Fassung wieder. Sie machte ihre Hände aus den seinen los und versetzte mit einem kühl abweisenden Blick: „Lieber Günther — du magst ein sehr scharfer Beobachter sein, aber meinen Mann vermagst du doch nicht richtig zu beurteilen; und ich glaube, mich noch weniger. Der alte Herr Döhmke hat ihm im Zorn eine Beschuldigung ins Gesicht geschleudert ... in meiner Gegenwart sogar ... es sieht allerdings so aus, als ob ... auch ich war erst ganz fassungslos. ... Aber jetzt weiss ich, dass es Verhältnisse im Leben gibt, die auch einen Ehrenmann von dem geraden Wege gewaltsam hinunterstossen können. Mein Mann wird sehr bald in der Lage sein, den geldlichen Schaden wieder gut zu machen, den er Herrn Döhmke zugefügt hat. Aber du weisst nicht, was ihn damals zu der That trieb: Seine erste Frau, sein Bruder, der jetzt in Amerika ist und der durch seinen gewissenlosen Leichtsinn, ja durch Schlimmeres ...“
„Aha! Auf seinen Bruder will er die Schuld abwälzen? Da mag er dir schöne Dinge aufgebunden haben! Nun ja, freilich! Ein Windhund ist der kleine Henri wohl; aber er hat in seinem Leben keine Nichtswürdigkeit begangen, dafür kann ich einstehen!“
„Du? — Ja, woher willst du ihn denn kennen? Er ist ja schon seit Jahren in Amerika,“ versetzte Lori erstaunt.
Und höhnisch erwiderte Günther: „In Amerika? Ja, das glaubt dein Mann vielleicht. In Wirklichkeit ist er schon seit einem halben Jahre wieder in Berlin und arbeitet in aller Stille an seiner Ausbildung. Er wird sich nächstens wohl öffentlich als Komponist vorstellen. O, ich sage dir, es ist ein reizender Mensch — wir sind die besten Freunde! Du kennst ihn übrigens auch!“
„Ich?“
„Der bescheidene junge Mann, der dir neulich mit dem Maler Vollborth zusammen die Kinder nach Hause bringen half.“
Eben als Lori wieder das Wort nehmen wollte, entstand eine lebhafte Bewegung unten im Sitzungssaal wie oben auf den Tribünen. Der Reichskanzler, in seiner Kürassier-Interimsuniform, war plötzlich unerwartet eingetreten und hatte nach lebhafter Begrüssung des greisen Feldmarschalls Moltke und einiger andrer alter Freunde auf seinem Sessel am Bundesratstische Platz genommen. Der Rede Bebels, die nun schon eine gute halbe Stunde lang währte, schien er nur eine halbe Aufmerksamkeit zu schenken, da er während derselben in einer Mappe herumkramte und sich Schriftstücke und Zeitungsausschnitte daraus zusammensuchte.
„Das nenne ich aber wirklich Glück!“ raunte Günther seiner schönen Base zu. „Heut hat offenbar kein Mensch geahnt, dass der Kanzler kommen würde, sonst hätten wir es hier kaum so hübsch leer gefunden. Donnerwetter, nu hat Onkel Drenk die Ehre, seine Jungfernrede vor dem Gewaltigen zu halten!“
Lori hatte unter dem Sturm, der über sie hereingebrochen war, des Zweckes ihres Hierseins ganz vergessen. Erst Günthers Worte erinnerten sie wieder an ihren Vater und mit banger Erwartung sah sie dem Augenblick entgegen, wo er die Tribüne besteigen würde, denn das Gespräch zwischen ihm und Vetter Günther, welches sie vorhin mit angehört, hatte sie davon überzeugt, dass ihr Vater mit seinen Ansichten über die Gefährlichkeit der Freimaurer wahrscheinlich mehr Hohn als Zustimmung ernten werde.
Dem guten Freiherrn selber schwante auch etwas dergleichen, seit die Einwendungen seines superklugen Neffen ihm einen Vorschmack von der gegenwärtigen Meinung der gebildeten Mehrheit gegeben hatten. Doch während der langen Reden, die er noch abzuwarten hatte, bis die Reihe an ihn kam, fasste er wieder Mut, besonders wenn er an das grosse Beweismaterial dachte, das er aus der gesamten Freimaurerlitteratur mit solchem Fleisse zusammengetragen und das er nun so am Schnürchen hatte, dass er jeden gegnerischen Einwand damit niederschmettern zu können glaubte. Als aber des eisernen Kanzlers überragende Gestalt mit wuchtigen Tritten zur Tribüne hinanschritt, da ward dem armen Freiherrn ungefähr so zu Mute, wie einem unsicheren Gymnasialprüfling, wenn unerwartet der gefürchtete Herr Schulrat den examinierenden Lehrer bittet, selber einige Fragen stellen zu dürfen. Vor seine Seele drängte sich die Erinnerung, wie nach jenem parlamentarischen Diner in dem Palast der Wilhelmstrasse der Fürst ihm seinen Mangel an Teilnahme für die Freimaurer, wie für die Judenfrage in so unzweideutiger Weise zu erkennen gegeben habe. Als er den Gedankengang seiner Rede sich noch einmal in aller Geschwindigkeit zu vergegenwärtigen suchte, ward er zu seinem Entsetzen gewahr, dass die Erscheinung des Kanzlers seine so schön gerundeten, von Ideenschmalz gemästeten Haupt- und Nebensätze in alle Winde auseinander und in alle Löcher hineingejagt habe, wie die Mäuse in einem Keller, wenn jemand mit Licht eintritt.
Und nun war der grosse Augenblick seines Lebens gekommen. Unter dem lebhaften Beifall der Sozialdemokraten verliess Bebel die Rednerbühne. Die Herren Abgeordneten, die bislang allerlei Allotria getrieben hatten, legten ihre Zeitungen beiseite, ihre Briefmappen in die Schubfächer, setzten sich zurecht und nahmen eine Miene an, welche deutlich besagte: „So, nun passen wir aber auf.“ Und auf den Tribünen der Zuhörer erhob sich gleichfalls ein Flüstern, Rücken und Rascheln der gespannten Erwartung. Die Glücklichen, die heute der Zufall hierher geführt hatte, putzten die Opern- und die Brillengläser, reckten die Hälse und lehnten sich so weit wie möglich vor. Der Fürst selber rückte die Papiere gerade, die er vor sich liegen hatte, nahm dankend das Wasser und das Cognacfläschchen entgegen, das man ihm brachte, und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an den Präsidenten des Reichstags.
Jedermann erwartete, dass nunmehr der Kanzler reden werde, und ein Gemurmel der Enttäuschung flog durch das Haus, als der Vorsitzende mit lauter Stimme verkündigte: „Der Herr Abgeordnete Freiherr von Drenk hat das Wort!“
Der gute Baron raffte seines Leibes Fülle schwerfällig von seinem Sitze empor, taumelte einige Schritte in dem Mittelgange vorwärts, blieb stehen, fuhr sich verwirrt mit den gespreizten Fingern der Rechten durch die dichten Locken und sagte dann laut, mit einer verdächtigen Hast: „Ich verzichte auf das Wort zu gunsten des Herrn Reichskanzlers!“
Schmunzelnd blickte der Gewaltige von seinen Papieren auf und erwiderte prompt: „Ja, das ist ja sehr freundlich von Ihnen, mein verehrter Herr; aber ich habe ja noch gar nicht ums Wort gebeten. Ich hätte recht gern noch eine gute Rede gehört.“
Ungeheure Heiterkeit durchbrauste die weite Halle; alle Operngucker richteten sich auf den bescheidenen Abgeordneten für Klein-Pölzin und Umgebung, welcher diese heitere Unterbrechung herbeigeführt hatte, und selbst einige der rotesten Sozialdemokraten lachten so herzlich, als ob sie niemals mit Dynamit gespielt hätten.
Der Kanzler war aufgestanden und an den Katheder des Präsidenten getreten, um ihn leise zu fragen: „Wissen Sie vielleicht, lieber Wedell, worüber der Herr zu reden beabsichtigte?“
„Jedenfalls über die gemeingefährlichen Bestrebungen der Freimaurer oder auch des internationalen Judentums. Ich höre, das soll sein Steckenpferd sein!“
„Ach, der ist das!“ versetzte der Fürst lächelnd. „Ich glaube, dann thue ich doch wohl gut daran, sein freundliches Anerbieten dankend anzunehmen. Ich melde mich zum Worte!“
Nach der Rede des Kanzlers, welche diesmal keine von europäischem Interesse gewesen war, sondern nur einige Unterstellungen der Sozialdemokraten energisch zurückwies und die Absicht der Regierung bezüglich der geplanten Verschärfung des Vereinsgesetzes klarlegte, schlich sich der Freiherr von Drenk aus dem Saale. Günther hatte dies von oben aus bemerkt und beredete nun noch Lori, ihm hinaus zu folgen. Auf der Treppe fragte sie Günther, ob ihr Vater etwa auch schon von dem Verdacht wisse, der auf Renard ruhte? Und als Günther dies verneinte, bat sie ihn inständig, nicht zum Verräter zu werden.
Günther liess sich nur ungern bewegen, ihr dies zu versprechen, indem er ihr erklärte, dass er es eigentlich für seine Pflicht halte, dem Oheim über seinen Schwiegersohn die Augen zu öffnen. Jedoch wolle er ihr zuliebe noch abwarten, ob ihre so sicher ausgesprochene Erwartung, dass es Gisbert bald gelingen werde, sein Unrecht wieder gut zu machen, sich erfüllen würde. Sie dürfe nur nicht von ihm verlangen, dass er selber noch ferner mit einem Manne verkehre, dessen Ehre in jedem Falle Schaden gelitten habe. —
Eine halbe Stunde später sassen der Baron, Lori und Günther zusammen in dem italienischen Ristorante Unter den Linden beim Mittagessen. Aber es war eine trübselige Gesellschaft, welche auch alle Anstrengung des Vetters Schlichting nicht von der gedrückten Stimmung befreien konnte. Eine wahre Erlösung für sie alle war es, als endlich der Freiherr seinem nagenden Groll dadurch Luft machte, dass er die ganze Einrichtung des Reichstags, das Parteiwesen und den Zwang, den es der freien Einsicht anthue, einer vernichtenden Kritik unterzog.
„Ich passe hier nicht hinein; weder in das lärmende protzenhafte Berlin, noch in dies Kasperltheater, das sich Reichstag nennt,“ schloss der gute Alte im eifernden Zorn. „Ich lege mein Mandat nieder. Morgen bitte ich um Urlaub — und übermorgen bin ich wieder zu Hause.“
„Und wenn du uns haben willst, Papa, dann komme ich in acht Tagen mit Evchen nach und lasse meinen Mann allein reisen.“
Der Alte war sehr glücklich über diese Aussicht und bestellte noch eine Flasche Asti spumante, um auf die frohe Wiedervereinigung in Klein-Pölzin zu trinken. Auch Günther hatte versprechen müssen, nach bestandenem Examen, das in der nächsten Woche stattfinden sollte, sich einzufinden.