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Kapitel

3

Jetzt sind es sechs Monate, daß mein alter Vater zum letzten Male hier war, ich weiß es noch genau, denn es war sein letzter Besuch. Aber nicht vom »Letzten«, nicht von T., so tief auch beide zusammenhängen, will ich jetzt sprechen, nicht von alt, auch wenn er, mein liebster Vater, damals so alt war, wie ich, dank einem schönen T., nie zu werden hoffe.

Die Brücke über den Abfluß des Sees, über die jetzt unser Wägelchen schaukelt, ist auch nicht die jüngste. Das Holz ist weich und verfault, es duftet nach Pilzen, die in nicht geringer Menge an der Unterseite der kleinen Brücke gedeihen und dort das morsche Holzwerk unterminieren. Ich fahre langsamer, nicht aus Angst, die Brücke könnte unter unserm Gewicht einbrechen, sondern damit mein junges Pferdchen seine schmalen Hufe nicht zwischen den Holzschwellen verhakt und stolpert.

Fremde Menschen kommen vorbei, die Frauen tragen große grünlichweiße Hauben bis über die Augen, deren Glanz trotzdem durch die Löcher der Stickerei flimmert. Die Männer marschieren in hohen Stiefeln, um den Mund haben sie große Bärte. Erinnert man sich jetzt der Schulstunden in der Mitte der geschwätzigen, meist gutmütigen, oft aber auch boshaften Kameraden in Onderkuhle und sieht man jetzt die Brücke, den See vor sich statt der vertrauten Institutswände, dann erblickt man in diesem Augenblick ein langes und vielfältiges, nie auszuschöpfendes Leben vor sich. Alles ist voller Hoffnung.

Mein Freund Titurel, der von seiner letzten Krankheit sich noch nicht ganz erholt hat (stets wird er so schwer mit allem fertig, auch mit seinen Aufgaben), verdankt eben seiner Schwäche und Erholungsbedürftigkeit den Urlaub von heute nachmittag und die Erlaubnis zur Wagenfahrt. Sein Rücken preßt sich, als wir nun den See hinter uns lassen und in schnellerer Fahrt auf der Hauptstraße nach der Stadt zwischen Kartoffeläckern und wohlbewässerten Wiesen und Rübenplantagen dahineilen, fester an mich. Der Wagen wirft sich. Irgend etwas hat verdächtig in dem Federwerk geknackt. Ich bremse, bringe das Pferd, und zwar nicht durch Reißen an den Zügeln, sondern eher durch Nachlassen, zum Halten. Außerdem beginne ich ganz fein zu pfeifen, ein Appell, welchen mein Pferdchen sofort versteht und befolgt. Ich habe es seinerzeit erzogen, habe ihm mit weicher, bittender Hand die ersten kunstgerechten Gänge an der Longe beigebracht und habe es an das ganz fremde, ihm anfangs unbegreifliche Gebiß gewöhnt.

Der Freund gleitet nun mit großer Schnelligkeit von seinem Sitz herab, ohne zu bedenken, daß er die Deichselspitze dadurch in die Höhe reißt und dem im Maule noch sehr weichen Tiere nicht eben wohltut, nun steht er vor mir und will mir von meinem Sitz herunterhelfen. Ich blicke mich um, ob auf der Chaussee nicht ein anderer Wagen oder ein Automobil kommt. Plötzlich fühle ich den Knöchel meines linken Fußes von Titurels Hand umklammert. Er breitet mir etwas Weiches unter meinen Fuß, mit dem ich eben, möglichst sanft, abspringen will, um das gebrechliche Gig nicht zu sehr zu erschüttern. Jetzt stehe ich auf dem Erdboden, vor mir den Freund, der seine linke Hand mit meinen Handschuhen mir als Fußstütze dargeboten hat. Wollte er mir damit einen besonders ritterlichen Dienst erweisen, worauf ein krankhaftes Lächeln seiner geschlossenen Lippen hindeutet? Seine Zähne sind schlecht, aus Scham öffnet er seinen Mund so wenig wie möglich. Deshalb wirkt er oft schüchtern, ist es aber nicht, eher ironisch. Aber ich habe die Handschuhe ihm zur Aufbewahrung gegeben, nicht zu Ritterdiensten. Ich sehe jetzt vor mir meinen alten Vater, an den ich das Gedenken bis jetzt gewaltsam unterdrückt habe. Ich weiß, wie schwer er das Geld für ein neues Paar erschwingen wird. Trägt er doch die seinen nur zur »Parade«, das heißt bei Besuchen in Onderkuhle oder bei wichtigen Ausgängen und Staatsvisiten, bei denen man auf ihn, das heißt auf seinen Namen, rechnet. Der Freund schweigt. Er erwartet wohl ein gutes Wort von mir. Ich kann aber meinen Zorn nicht beherrschen. Ohne zu reden, nehme ich die feuchten, beschmutzten Handschuhe ihm aus der Hand und werfe sie, als wären sie nun ganz wertlos geworden, über meine Schultern nach rückwärts in die Rübenfelder. Sodann bücke ich mich unter den Wagen und finde eine Stellschraube der rechten Federlasche gelockert, die ich mit der Handhabe eines meiner Schlüssel fassen und anziehen kann.

Dann sitzen wir auf und kehren den gleichen Weg zurück. Doch es ist nicht mehr das gleiche. Auf der Waldstraße hören wir hinter uns einen Wagen heranrollen. Unsere Rücken haben sich schon lange voneinander gelöst. Wir sitzen steif und voll Haltung da, niemand, auch nicht der Zeremonienmeister, könnte etwas auszusetzen haben. Er kennt nur Haltung, nie Herz, nie Gefühl. Kennt er auch den T. nicht? Kennt er ihn? Ich treibe mein Pferd, ich schone die Peitsche nicht. Trotzdem überholt uns der andere Wagen. In ihm sitzt der Zeremonienmeister, der uns nicht zu erkennen scheint. Weder erwartet er einen Gruß, noch denkt er daran, den unsern zu erwidern. Vielleicht denkt er in diesem außerdienstlichen Augenblick nicht an uns, die Schüler, sondern an sich und seine »privaten« Reichtümer, die er hier gesammelt haben soll und die ihm bald auch eine Herrschaft außerhalb von Onderkuhle ermöglichen werden. Wen wird er in Brüssel beherrschen? Herrlich und einsam lehnt er mit gesenkten schweren Augen in seinem Wagen. Die Pferde wiehern einander zu, auch die seinen sind nicht alt, reines Blut und noch nicht lange im Zuge. Auf ihren schlanken Lenden, auf den glatten, wie reife Kastanien glänzenden Flächen der breiten Kruppen und auf den scharf gekanteten Seiten des Halses unter der ganz kurz gehaltenen Mähne spielt hin und wieder der Schatten der Bäume. Ein leichter Wind hat sich erhoben. Das Licht der sinkenden Sonne wird ab und zu verdeckt. Regen liegt in der Luft wie Abendrot. Den Kuckuck hört man nicht mehr. Die Brücke ist sehr dunkel und riecht jetzt mehr nach Fäulnis und Moder. Die Pferde des Leibeigenen wenden sich nach uns um. In den großen sumpfbraunen Augen des einen sehe ich den See gespiegelt oder das Laub, halb blau, halb grün, nur ein Schein, nur ein Augenblick, ein Schimmern. Mein Pferd beginnt zu schwitzen, und es färbt sich die Haut zuerst an den Rändern des Geschirrs dunkler, dann wachsen die Härchen zusammen, stehen in Reihen, als hätte man sie mit einem breitsträhnigen Kamme gestriegelt. Jetzt riecht es, aromatisch und schwer, nach Schweiß, nach Tannen, Regen und Staub.

Es war früh am Abend, die Schüler der »Fünften« waren auf dem Tennisplatz, wo durch die Dämmerung die Bälle flogen, sehr hell gegen die dunklen Drahtnetze geschnitten. Dann kommt das Aufschlagen der Bälle an den stark gespannten Saiten der Raketts und das gleichmütige Zählen der Partie, wobei ich die etwas fette Stimme des jungen Prinzen X. (Piggy) erkenne, der gern dieses Amt übernimmt, sich aber ungern in einen Kampf einläßt. Handelt es sich aber darum, einem Schüler nachts im Schlafe mit einer Gartengießkanne einen »Rückenguß« zu geben, ist er als erster dabei. Auch das »Flohpulver« kennt er und die »russische Lektion«. Er selbst ist aber immer »neutral«.

Die kleineren Kameraden spielen Kricket auf einem andern Platze. Ihr Kreischen und Lachen ist sehr laut, oft übertönt es die Schläge mit den Holzhämmern. Ab und zu schreit auch einer auf, den ein Kamerad, sei es aus Ungeschicklichkeit (wie er sagt) oder aus Bosheit (wie es meist ist) oder »um den Mann auf die Probe zu stellen«, mit dem Holzhammer in die Achillesferse oder auf die Kniescheibe geschlagen hat. Auch ich kenne diesen Schmerz. Keine von diesen sehr unbarmherzigen und doch zur Erlangung des Ranges als »Mann« notwendigen Proben hat man mir in den ersten Jahren hier erspart. Mich hat daheim niemand gestraft. Ich wußte nicht, was körperlicher Schmerz ist. Ich empfand ihn auch hier nicht als Strafe, niemals habe ich, wie Prinz X., mich bei den Lehrern oder bei dem Zeremonienmeister über einen älteren und stärkeren Kameraden beschwert, obwohl ich oft nachts vor Schmerzen nicht einschlafen konnte. Denn es gab viele Proben.

Nun lagern die Lehrer in ihren weißen, leichten Interimsröcken auf den mit rotweißgestreifter Leinwand überzogenen Gartenstühlen, die Wolken aus ihren Zigarren sammeln sich zu einem blauen Diadem über ihnen unter den hohen Sommerbäumen. Der Russe geht bereits zwischen ihnen und den Spielplätzen umher, scheinbar, um nach den Wünschen der Lehrer zu fragen, in Wirklichkeit, um alle, Lehrer und Schüler, zu überwachen.

Jetzt sind wir im Hofe bei den Ställen. Seine Pferde sind schon ausgeschirrt. Ein Stallpage (Fredy) reibt sie am Rücken und am Bauche mit trockenem Stroh ab. Sonst verschmähen sie im allgemeinen Stroh, jetzt aber schnappen sie nach demselben mit ihren langen, wie Erdbeereis blaßroten Zungen und fletschen ihre dunkel elfenbeinfarbenen, matt blinkenden Raffzähne, wobei sie den Ärmel des ängstlich lachenden Stalljungen mit erfassen. Mein Pferd öffnet wieder das Maul zum Wiehern, wobei es den schönen dreieckigen Kopf etwas hebt und seitwärts nach dem Stalleingang wendet. Nun steht es wieder still auf meinen Blick, tänzelt bloß ein wenig auf den Vorderbeinen. Die Zügel sind in festem Knoten um die Kurbel der Bremse geschlungen. Ich will meinem Freunde Titurel vom Sitze herabhelfen. Er ist so still, stiller als sonst. Jetzt fällt er mir wie eine leblose Masse in den Arm, er blickt mich stumm mit seinen überaus glänzenden, messingfarbenen Augen an, will lachen, aber die Bewegung geht nur in wilden Wellen über sein blasses, sommersprossiges, etwas derbes Gesicht. Er klagt nicht. Er zeigt seine Zähne nicht. Er zittert, wohl infolge eines Fieberfrostes, und so nehme ich ihn denn, obwohl ich kleiner bin als er, ohne besondere Mühe auf meine Arme und trage ihn über den Hof, wo er vom aufsichthaltenden Unterpräfekten empfangen und sofort mit einer strengen Bemerkung in das Krankengebäude hinübergeschafft wird. Als ich mich umsehe, steht der Wagen nicht mehr vor der Freitreppe, aber mein kleines Pferd ist dem Hütejungen ausgekommen, es trabt, schelmisch mit dem allzu langen Schwanze schlagend, zwischen den im Abendschimmer leuchtenden Gebäuden umher, wiehert ohne Aufhören, die Stimme willkürlich hebend und senkend, als spräche es zu sich selbst. Jetzt ist es an die geschorene Hecke gekommen, welche die Spielplätze von den Wirtschaftsgebäuden trennt, und tobt sich in lustigem Schreien und hohen Sprüngen über das dunkelgrüne Buschwerk aus.

Wer wollte nicht mit ihm tauschen? Nicht mehr Boëtius von Orlamünde sein, sondern ein dreijähriges, starkes, vollkommen gesundes und schönes Tier, das nichts vom T. weiß, das ganz im Leben aufgeht.

Ich liebe Tiere sehr, aber etwas von dieser Liebe ist Neid.

Boëtius von Orlamünde

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