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Viele Gesichter der Beheimatung

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Der Begriff ›Heimat‹ – ein ebenso attraktiver wie emotionsgeladener und politisch umkämpfter Begriff – erlebt im 21. Jahrhundert ein Revival, eine Wiederkehr unter neuen Vorzeichen. Lange Zeit konservativ-nationalen Deutungen überlassen, scheint die Idee hinter dem Begriff im deutschen Sprachraum heute wieder eine breitere Aufmerksamkeit zu erfahren: vom Heimatministerium in Bayern über die Belebung regionaler und ökologischer Traditionen bis hin zum Thema politischer Wahlkämpfe, wo, mit Bildern von Heimat und Tradition geworben wird – inzwischen sogar von Österreichs Grünen.

Angesichts der enormen Auswirkungen von Globalisierungsprozessen auf den lokalen Alltag vor Ort, auf das individuelle Lebensumfeld jedes Einzelnen, scheint es an der Zeit, unsere Konzepte von Heimat einer gründlichen Neubetrachtung zu unterziehen. Der hier gewählte Titel Nach der Heimat signalisiert somit nicht die völlige Abkehr von diesem vielbeschworenen Begriff, sondern einen Perspektivwechsel, eine Öffnung: Er bezeichnet einen nachdenklichen, einen reflexiven Zugang zum Begriff ›Heimat‹ im Hier und Heute, ein Um- und Neudenken jenseits ideologisch-nationaler Deutungen. Wir wollen den Blick öffnen auf ein vielschichtiges und hybrides Konzept von Heimat, das je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen entfalten kann. Schnell wird sich dabei eine Topografie des Möglichen abzeichnen.

Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft entstehen aus der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer globalisierten, durch geografische und digitale Mobilität, durch zunehmende Vielheit geprägten Gesellschaft.1

Immer weniger Menschen verbringen ihr ganzes Leben an ein und demselben Ort, viele haben, über Ländergrenzen hinweg, ihren Wohnsitz mehrmals gewechselt. Geografische und kognitive Bewegungen (das Erlernen eines neuen Berufes, lebenslange Weiterbildung) gehen Hand in Hand. Selbst in ›alteingesessenen‹ Familien findet sich bei näherer Betrachtung oft ein ›Migrationshintergrund‹.

Dies alles gehört zum Alltag und wird doch häufig erst auf den zweiten Blick sichtbar, nämlich dann, wenn Lebensgeschichten erzählt und reflektiert werden. Heimat öffnet sich! Vieles, was wir heute als national oder homogen wahrnehmen, ist ein Ergebnis von Vermischung und Übersetzung, ein Teil ineinander verflochtener Geschichten. Und längst haben Lebensweisen und Kulturtechniken aus weit entfernten Teilen der Welt in lokale Lebensstile Einzug gehalten: Ob virtuelle Kontakte im World Wide Web, ob Tai-Chi oder Yoga-Kurs, chinesische Küche oder argentinischer Tango, ob Fernreisen, Freundschaften über Ländergrenzen hinweg oder das Engagement in einer internationalen Organisation – die Beispiele erscheinen fast zu trivial, um sie eigens zu erwähnen.

Aus der Öffnung der Welt leiten sich folgende Ideen ab:

 1) Gesellschaftliche Wandlungs- und Migrationsprozesse stellen konventionelle Konzepte von Heimat in Frage. Sie erfordern ihre Re-Vision bzw. ihre Neubetrachtung und Neuausrichtung.

 2) Durch die Öffnung der Orte zur ganzen Welt hin entstehen neue Verortungspraktiken, die Entferntes miteinander verknüpfen, Raum- und Ortsentwürfe, die sich nicht durch Grenzen oder Abgrenzung, sondern durch Verbindungen konstituieren.

 3) Unterschiedliche kulturelle Elemente, Erfahrungen und Lebensentwürfe von transnationaler Reichweite werden vor Ort aufeinander bezogen und miteinander kombiniert. Auf diese Weise gewinnen sie für die Beteiligten eine individuelle biografische Relevanz.

Doch auch gegenläufige Tendenzen, solche der Grenzziehung und Abschottung, sind zu verzeichnen: Schließungsprozesse, die mit einer Wiederbelebung von Nationalismen, Rassismus und Fundamentalismus einhergehen. Die Öffnung der Orte zur Welt wird durch Re-Nationalisierungsprozesse konterkariert.

Diese Dynamik erfordert ein Überdenken unserer Vorstellungen von Ort, Zeit und ›Welt‹ – und damit auch herkömmlich begrenzter Heimatbegriffe, die eine zukunftsfähige Prägung erhalten und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung tragen sollen. In dieser Sichtweise grenzt Heimat nicht ab, grenzt nicht aus; sie wird zu einem inklusiven, aber auch ›konfliktoffenen Ort‹. Daraus folgt schließlich die programmatische Idee: Heimat ist teilbar, Mehrheimischsein ist möglich. Gehört es nicht längst zur Alltagsnormalität?

Der Begriff ›Heimat‹, der sich nicht ohne Weiteres in andere Sprachen übertragen lässt, ist selbst historischen Wandlungen unterworfen. Zunächst nur rechtlich-normativ gedeutet, wurde Heimat von einigen Literaten, die man der Epoche der Romantik zuordnet, als Gegenentwurf zum Universalismus der Moderne konzipiert: Es ging darum, sich auf die einzelnen Wurzeln (wie etwa im Volkslied) zu versichern.

Später wurde der Begriff mit der Bildung von Nationalstaaten ab Ende des 18. Jahrhunderts für nationalistisches Denken instrumentalisiert, ethnisch-national eingefärbt und durch homogene Normvorstellungen und Denkordnungen radikalisiert. Traditionen werden neu geschrieben, Grenzen neu gezogen, bestimmte Sprachen privilegiert, andere abgewertet.

Völkische Heimatbewegungen beschworen im Nationalsozialismus die fiktive Einheit eines ›rassisch‹ definierten Volkes – nichtzugehörig zu sein hieß minderwertig zu sein. Arbeiterbewegung und politische Linke lehnten ›Heimattümelei‹ oder ›Volkstümelei‹ ab.

Wegen solcher historisch-ideologischen Instrumentalisierungen ist der Heimatbegriff also umstritten, obwohl es Versuche gab, ihn neu zu definieren und positiv zu besetzen. Der Auseinandersetzung stellten sich im 20. Jahrhundert zahlreiche Autorinnen und Autoren, oftmals unter dem Eindruck von Exil und Vertreibung: etwa Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung) und Hannah Arendt (We Refugees), aber auch Vertreterinnen und Vertreter der Neuen Linken angesichts der Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren. ›Heimat‹ firmiert als Utopie, als Prozess, als emanzipatorischer Begriff, auch jenseits bürgerlicher Rückzugsräume, bis seit den 1990er Jahren wieder ein politisches Abdriften nach ›rechts‹ zu beobachten ist.

Was bedeutet Heimat in einer globalisierten Gesellschaft? Nicht ein für alle Mal festgelegte Gegebenheiten, sondern sein beweglicher, prozessualer Charakter machen einen zeitgemäßen Heimatbegriff aus. Die Idee einer mobilen Heimat überwindet die Fixierung auf einen geografischen Raum und widerspricht gänzlich der Heimatideologie des 20. Jahrhunderts.

Heimaten werden sozial hergestellt. Heimat ist ein translokales, transkulturelles Geflecht unterschiedlicher Perspektiven und Erfahrungen, und ist damit immer ein hybrides Konstrukt.

Durch den Blick auf alltägliche Erfahrungen und biografische Beispiele wird nachvollziehbar, dass Mehrfachzugehörigkeiten in einer globalisierten und durch Migration geprägten Welt zur Normalität gehören: Von der ersten Migrationsgeneration über die ›postmigrantischen‹ Nachkommen bis hin zu ›Alteingesessenen‹: Wir alle sind längst dabei, in einer globalisierten Gesellschaft und inmitten gesellschaftlicher Umbrüche auf individuelle Weise mehrheimisch zu werden. Den einen mag dies leichter fallen als anderen. Die gute Nachricht lautet, dass man in diesem Zusammenhang auf langjährige Erfahrungen von Migration und Vielheit zurückgreifen kann, die in unserer Gesellschaft vorhanden, aber lange Zeit ignoriert worden sind. Auf die eine oder andere Weise sind wir alle mehrheimisch geworden, wir leben mit Vielheit – und wir leben gut damit.

Nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft

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