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1. Kapitel

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Keine Leiche im Kajak und kein Freund im Haubenrestaurant. Aber ein erster Kuß im Friedhof

Auf den Tag genau vierundsiebzig Jahre nach der Rettung des Eilzuges führte ich den Dozenten unterhalb der Festung Hohenwerfen zu einem Gedenkstein zwischen Bahnübergang und Salzach.

„Zur Erinnerung an Alois Kössner, der als Schrankenwärter in treuer Pflichterfüllung hier sein Leben verloren hat“, hieß es auf einer Tafel. Eine kleine, ovale Fotografie zeigte einen hageren Mann mit gescheiteltem Haar und Hitler-Bärtchen. Der Gedenkstein war flankiert von gelber Schafgarbe und einer Krüppelföhre.

Schweigend verharrten wir vor dem Mahnmal. Da tauchte neben dem Stein die flache Schnauze eines Schnellzugs auf, eine unwiderstehliche Kraft preßte uns gegen die Föhre, gefolgt von infernalischem Lärm. Als wir uns gefaßt hatten, war der Cityjet längst in die Kurve vor Imlau eingetaucht.

„Ein Held“, sagte der Dozent.

„Ein Mann, der seine Arbeit gemacht hat“, sagte ich.

„Es ist keine leichte Sache, jahrelang in die Nacht zu starren und Gewitter zu beobachten“, sagte der Dozent. „Und im richtigen Moment loszulaufen, ist eine Glanztat. Ein Held, ich bestehe darauf.“

„Wie Sie meinen.“

In einem Geflecht von Wirbeln und Schaumkronen strömte die Salzach neben dem Gleiskörper dahin. Über dem Hochkönig wuchsen Wolkentürme in den Himmel. Als ich den Blick senkte, sah ich, wie sich aus dem milchigen Dunst ein Paddelboot löste. Es fuhr in gefährlicher Nähe zum Ufer.

„Ein mutiger Sportler!“, stieß der Dozent hervor. „Oder eine tollkühne Sportlerin“, setzte er hinzu.

„Ein Idiot“, rief ich. „Oder ein Lebensmüder!“

Ich rollte ein paar Meter auf die Brücke, fischte meinen Feldstecher aus dem Rollstuhlnetz, verriegelte Josefs Bremsen und setzte das Glas an. Ich traute meinen Augen nicht. Der Paddler war ohne Helm unterwegs und steckte in einer Kluft, die ich auch bei den verrücktesten Wassersportlern noch nicht gesehen hatte, er trug ein Jackett.

Der Dozent lief dem Kajak auf den Bahngleisen entgegen. Dabei ruderte er mit den Händen in der Luft. Das signalgelbe Boot wurde von der Strömung weiter ans Ufer gedrückt. Der Oberkörper des Kajakfahrers wippte vor und zurück. Die Bewegung nahm aber nicht vom Einsatz des Paddels ihren Ausgang. Es gab kein Paddel, es schien, als wären die Arme des Mannes hinter dem Rücken zusammengebunden. Das Boot würde in der nächsten Sekunde an den Felsen zerschellen und der Paddler mit den gefesselten Händen würde in die reißende Salzach kippen. Was für eine ausgefallene Methode, sich eines Menschen zu entledigen, dachte ich noch, da sah ich den Dozenten behende über die Ufersteine turnen. Mit einer Hand griff er nach dem Ast einer Weide, mit der anderen bekam er den Bug des Kajaks zu fassen. Der Kampf zwischen der Salzach und dem Dozenten wogte hin und her. Da brach der Ast und der Dozent drohte auf das Boot zu fallen. Wie er es schaffte, den Sturz zu vermeiden und das Kajak aufs Ufer zu ziehen, ist mir heute noch ein Rätsel.

Kurz darauf saß der Dozent neben dem Kajak im Gras. Als ich bei ihm angelangt war, sah ich, daß die vermeintliche Leiche eine Strohpuppe war. Sie sollte wohl einen distinguierten älteren Herrn vorstellen. Während der Dozent mit seiner nassen Hose beschäftigt war, durchstöberte ich das Jackett und fand in der Innentasche einen Umschlag. Ich nahm ihn an mich und verstaute ihn in Josefs Rollstuhlnetz.

Ein Folgetonhorn schreckte uns auf. Auf der gegenüberliegenden Flußseite näherte sich ein Feuerwehrauto der Zaismann-Brücke. Der Wagen fuhr mit Blaulicht, er wirbelte meterhoch Staub auf.

Wenig später beugte mein Freund Toni Poschacher sich über das Kajak. Toni war Gemeindesekretär, wir waren seit dem Bubenalter, in dem ich jeden August bei meiner Großmutter in Werfen verbracht hatte, eng befreundet. Er war kaum gealtert, sein lausbübisches Lächeln, sein volles Haar und seine tiefe Stimme nahmen die Menschen seit jeher für ihn ein. Ich stellte die beiden einander vor. Als Hoffnungsträger der Humanwissenschaften den einen, als Koryphäe der angewandten Verwaltung den anderen – worauf sie sich höflich zunickten. Er habe das Boot von seinem Büro aus gesehen, erzählte Toni. Immer wieder komme es vor, daß unerfahrene Paddler den Fluß unterschätzten. Außerdem gebe es weit und breit keine geeigneten Ausstiegsstellen. Wer einmal bis zur Brücke gekommen war, befinde sich in Lebensgefahr, denn wenige Meter flußabwärts verenge die Salzach sich zu einer Klamm, ein Vorbote der reißenden Salzachöfen.

„Das ist keine Schaufensterpuppe“, sagte Toni. „Wir haben Puppen im Zeughaus der Bischofshofener Sprungschanze, ein gutes Dutzend. Sie sind Werbeträger für die Vierschanzentournee. Aber sie sind nicht aus Stroh.“ Er zupfte am Jackett der Puppe. „Aber das hier …?“

„Vielleicht eine Werbung für den Jedermann?“, meinte der Dozent. Hingebungsvoll massierte er seine vom eiskalten Wasser geröteten Zehen.

Er werde seine Schwester Elfi fragen, meinte Toni ausweichend. Die arbeite seit vielen Jahren im Stab der Salzburger Festspiele und kenne sich da aus.

Ich schloß die Augen. Und da war sie: Elfi – die erste Frau, die ich geküßt habe. Großgewachsen, schlank, ihre strohblonden Haare sind zu einem Zopf gebunden. Stundenlang lungerte ich neben der Keusche ihrer Eltern, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Als ich sie zum ersten Mal küßte, waren wir keine fünfzehn Jahre alt. Genauer gesagt, blieb es beim Versuch eines Kusses. Wir saßen im kleinen Kuhstall der Poschachers auf wackeligen Klappstühlen. Die drei Kühe waren für die vielköpfige Familie wichtig, die Poschachers durften sie auf die große Weide der Hoteliersfamilie Obauer treiben, wofür die Kleinhäusler dankbar waren.

Mein erster Kußversuch war technisch mangelhaft. Ich beugte mich weit vor, da kippte mein Stuhl und ich landete im Stalldreck. Elfi bekam einen Lachkrampf, die aufkeimende erotische Stimmung war zerstört. Ich habe damals meine Lektion gelernt. Wenn eine Sache peinlich wird, muß man die Peinlichkeit auf die Spitze treiben. Und man muß das Ganze oft wiederholen. Auf diese Weise gewinnt man im Minnedienst wieder Oberwasser. Und so strauchelte, rutschte und stolperte ich in den nächsten Tagen bei jedem weiteren Kußversuch. Bis es Elfi zu dumm wurde. Sie drückte mich an die Innenseite der Friedhofsmauer und küßte mich leidenschaftlich. Ich schwöre Stein und Bein, daß sehnsuchtsvolle Seufzer und Anfeuerungsrufe von den Grabsteinen aufstiegen.

Wir trafen uns gern im dunkelsten Teil des Friedhofs, er war von uralten Tannen beschattet, beim Grab des jungen Erb, Sohn des Gemeindearztes, der beim Edelweißpflücken an der Bundesstraße oberhalb von Tenneck abgerutscht und einige Meter tief auf die Straße gefallen war. Heutzutage würde er das wohl überleben, denn seit der Eröffnung der Tauernautobahn ist auf der alten Straße nicht viel los. Damals aber wälzte sich der Transitverkehr halb Europas durch Werfen und die Geschäftsleute und Hoteliers am Hauptplatz wurden steinreich. Da waren die reisefreudigen Tschechoslowaken in ihren Škodas, die Deutschen, Holländer und Belgier in ihren vollgestopften Käfern, Kadetts und Renaults, winzige Fiats und mächtige Haubenlaster der Marken Mack und Freightliner mit persischen Nummernschildern. Es war eines dieser Ungetüme, das den Verletzten überrollte. Aufigstiegn, obigfalln, hingwesn – stand fälschlicherweise auf dem Grab. Vor das hingwesn hätte ein zammgführt gehört. Im Winter zuvor hatte der junge Erb noch den sechzehn Kilometer langen Abfahrtslauf vom Hochkönig nach Werfen gewonnen. Die gesamte Marktgemeinde verehrte den gutaussehenden, liebenswürdigen Jüngling, der, daran war kein Zweifel, eines nicht fernen Tages die Praxis seines Vaters übernehmen würde.

Als Elfi von mir abließ, sagte sie: „Jetzt hast du beim Grab vom Erb einen Kuß geerbt.“ Ihre künstlerische Ader war damals schon ausgeprägt. Es war nur folgerichtig, daß sie beim größten Kunstspektakel der Republik beschäftigt war, den Festspielen.

Toni machte ein paar Lagefotos und kümmerte sich um den Abtransport von Puppe und Kajak. Auch Rettung und Polizei waren mittlerweile eingetroffen, und wie immer, wenn Uniformierte verschiedener Stämme zusammenkommen, wurden Revierkämpfe ausgetragen. Daß diese in miserable Witze verpackt waren, linderte die unterlegte Aggressivität nicht.

„Da riskieren Sie Ihre Knochen … und retten eine Puppe! Wie fühlt man sich als verhinderter Lebensretter?“, fragte ich den Dozenten.

Er hängte seine Hose auf die Äste einer Jungweide und grinste mich an. Der Dozent war sichtlich stolz auf sich.

In Josefs Netz läutete mein antikes Mobiltelefon. Nur wenige Menschen kennen meine Nummer, ich mußte also davon ausgehen, daß es sich um etwas Wichtiges handelte. Oder der Vorsitzende des „Ständigen Ausschusses zur Lösung sämtlicher Welträtsel, welcher beim Binder-Heurigen in Permanenz tagt“, Wenzel Schebesta, hatte einen Auftrag für mich. Ich fuhr ein paar Meter zur Seite und nahm das Gespräch an.

Die Mutter des Dozenten erkundigte sich mit schneidender Stimme nach meinem Aufenthaltsort. Ob ich noch nüchtern genug sei, ihren Ausführungen zu folgen. Als ich bejahte, fragte sie noch nach ihrem Sohn.

„Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen“, sagte ich. „Er erwähnte etwas von einem Segeltörn am Neusiedlersee.“ „Wahrscheinlich mit irgendeiner akademischen Nutte“, schnarrte Madame. „Mein Sohn wird nie mit einer vernünftigen Dame bei mir vorstellig.“

Vernünftige Damen waren in den Augen von Madame Erbinnen von Unternehmen mit mindestens fünfhundert Beschäftigten, adeliger Hintergrund kein Nachteil. Die Frauen mußten seit längerer Zeit in leitender Position tätig sein und die Betriebe sollten ihren Ursprung in der Monarchie haben. Waren die Voraussetzungen erfüllt, stand einem Kaffee auf der Frühnachmittagsveranda ihrer Hietzinger Villa nichts im Wege. Bei zufriedenstellendem Verlauf des Gesprächs, konnte man schließlich auf die Spätnachmittagsterrasse wechseln, um einen Sherry oder einen amalfitanischen Limoncello zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit konnte dann auch ein Termin für die Besichtigung von Madames Maschinenbaufabrik vereinbart werden, was einer halben Verlobung gleichkam.

„Das sieht meinem Sohn ähnlich, daß er in einem austrocknenden See baden geht.“

„Er sagte etwas von einem Segeltörn“, wagte ich einen Einwand.

„Wenn der See austrocknet, stirbt auch der Wind. Viel Vergnügen beim Rudern“, höhnte Madame.

„Ich werde es ihm ausrichten“, erwiderte ich sachlich.

„Hören Sie zu, geschätzter Groll! Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns! Wehe, Sie weihen meinen Sohn ein! Ich bin wie jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen. Den Opernkram nehme ich hin wie einen Schnürlregen, tatsächlich treibe ich meine Geschäfte voran, die sind in der letzten Zeit nicht einfacher geworden. Am Beginn meines Aufenthalts treffe ich im Restaurant Obauer in Werfen einen alten Geschäftsfreund. Dieses Treffen hat Tradition, wir haben uns schon zu Lebzeiten meines Mannes gesehen. Aber das gehört nicht hierher. Dieser Termin ist wichtig für mich, sehr wichtig. All die Jahre sind wir gemeinsam von unseren Hotels in der Salzburger Altstadt nach Werfen gefahren, wo wir den Mittagstisch bei Obauers reserviert hatten. Aber dieses Jahr ist mein Freund nicht vor meinem Hotel, der Blauen Gans, erschienen, worauf ich mit Herrn Kálmán nach Werfen vorausgefahren bin. Jetzt sitze ich hier bei Obauers. Kein Anruf, keine Botschaft, nichts. So etwas ist noch nie vorgekommen, mein Freund ist die Zuverlässigkeit in Person. Ein Unfall mit einem Bentley wurde auch nicht gemeldet, sagen die Obauers, die wie alle anständigen Wirtsleute den Polizeifunk abhören. Mich plagen schlimme Vorahnungen. Wann können Sie in Werfen sein? Ist 19 Uhr für Sie machbar? Die Sache ist heikel, nur Sie können Aufklärung bringen. Ich zähle auf Sie.“

Ich jubelte innerlich. Der Umstand, daß ich bereits in Werfen war, weil ich das Grab meiner Großeltern auflassen wollte, spielte mir in die Hände. Wenn ich eine tollkühne Fahrt von Wien hierher vorspiegeln könnte, würde sich das vorteilhaft auf die Höhe meines Honorars auswirken.

„Madame, ich bin bereits unterwegs. Ich schlage als Treffpunkt das Gasthaus zur Stiege am burgseitigen Ende des Hauptplatzes vor. Das Restaurant Obauer ist nur einen Steinwurf entfernt. Industriemogule, Finanzjongleure und Oligarchen tauchen in der Stiege nicht auf. Man kann sich dort ungestört unterhalten.“

„Gasthaus zur Stiege. 19 Uhr. Sie scheinen sich ja gut in diesem Nest auszukennen.“

„In meiner Kindheit habe ich einige Sommer hier verbracht. Da wäre noch eine Kleinigkeit.“

„Sie kriegen schon Ihr Honorar!“, sagte Madame und es klang wie ein Befehl an einen Lakai.

„Das meine ich nicht“, sagte ich. „Es wäre gut, wenn man Sie am Nachmittag nicht in Werfen sehen würde.“

„Ich verstehe. Wo soll ich Ihrer Meinung nach …“

„In der Hölle.“

Madame schwieg. Ich beeilte mich zu ergänzen: „Das ist ein Ortsteil Werfens, in einem Taleinschnitt am Fuße des Hochkönigs. Dort gibt es ein Gästehaus, wo man wunderbar ausspannen kann. Die Besitzer sind Zeugen Jehovas. Sie interessieren sich nur für Geld und das Jüngste Gericht. Und sie sind sehr schweigsam.“

Madame räusperte sich. Als sie ihre Contenance wiedergefunden hatte, sagte sie: „Sie denken mit, das ist gut. Noch etwas: Lassen Sie meinen Sohn aus dem Spiel. Der soll sich mit seinen Schnapsdrosseln im Schilf vergnügen.“

„Selbstverständlich, Madame.“

„Und Sie schaffen es wirklich bis zum Abend nach Werfen? Fahren Sie neuerdings einen Porsche?“

„Madame, Sie unterschätzen mich. Deutsche Autos sind in meinen Kreisen tabu. Mein Renault 5 wird vom Motor eines französischen Luxussportwagens namens Facel Vega aus dem Jahr 1962 angetrieben. Der Renault ist unscheinbar, aber seine Straßenlage und Motorstärke sind unerreicht. Ein Honorar für einen komplizierten Fall in St. Nazaire an der Mündung der Loire in den Atlantik. Sie wissen, dort wo die Queen Mary II gebaut wurde. Es ging um dreizehn tote Arbeiter während des Baus des Ozeanriesen, zwei waren aus Österreich, einer aus Eisenkappel und einer aus Floridsdorf. Die Versicherung weigerte sich zu zahlen.“

Madame schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie: „Ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Ich glaube, in den siebziger Jahren besaß ein Betriebsratsvorsitzender meiner Fabrik einen Wagen dieses Namens. Er ist damit gegen einen Baum gefahren. Zu seinem Begräbnis erschien die gesamte rote Reichshälfte, Ehefrau und mehrere Geliebte mit unehelichen Kindern. Herr Kálmán! Auf in die Hölle!“

Für den Dozenten und mich war die Reise nach Salzburg ein Glücksfall. Keine Ermittlungen, kein Auftrag, nur Müßiggang und italienisches Flair. Und dann gab es noch ein Herzensziel: den Almkanal, ein genialisches Wasserbauwerk in Höhlen und Schluchten, das die Stadt vor allen Städten Mitteleuropas auszeichnet. Ein Ho-Chi-Minh-Pfad der Alpen. Ihn wollte ich von seinem Ursprung, der Königsseer Ache, bis zu seinem Ende oberhalb des Domplatzes begehen. Einmal im Jahr wird der Kanal gesäubert, in dieser Zeit fließt kein Wasser und man kann ihn mit dem Rollstuhl bewältigen. Zumindest hoffte ich das. Auch Josef freute sich auf die Expedition. Der Dozent hatte vor, eine Jugendliebe zu treffen, die im Vorstand einer schweizerischen Privatbank saß.

Auf der Fahrt nach Salzburg hatte ich den Dozenten gebeten, eine elektronische Botschaft an Mister Giordano abzusetzen. Ich hatte nicht vergessen, daß Giordano 1955 als amerikanischer Presseoffizier von Salzburg nach Wien zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper geschickt worden und auf den Serpentinen des Riederbergs mit seinem Jeep gegen einen Lastkraftwagen gekracht war. Der LKW hatte Wein geladen, was man auch von seinem Chauffeur sagen mußte. Bei dem Unfall kam der amerikanische Fahrer, ein junger schwarzer Installateur aus Staten Island, ums Leben und Giordano erfreut sich seither einer schlecht sitzenden Unterschenkel- und einer besser funktionierenden, aber stark quietschenden Oberschenkelprothese. Er sollte wissen, daß ich den umgekehrten Weg auf mich nahm, von Wien in die Kulturhauptstadt Salzburg. Und er sollte vorgewarnt sein, falls mir etwas zustoßen sollte. Mehr als fünfzig Prozent aller Autounfälle geschähen in Österreich auf dem Weg zur oder von der Kultur, behauptete ich dem Dozenten gegenüber. Der schwang sich aber nicht zu einem Protest auf, sondern nickte nur und tippte meine Worte ein.

Auf der Höhe von Melk erhielten wir eine Antwort.

Werter Groll! Schwiegersohn!

Ich bin seit drei Tagen im Mount Sinai Hospital in Quarantäne. Die Leute hier behaupten, ich wäre mit dem Corona-Virus infiziert. Ich glaube aber, daß sie mich nur finanziell schröpfen wollen und betrachte das Ganze als eine Art unfreiwillige Gesundenuntersuchung. Ich fühle mich gut. Asymptotisch nennen die Quacksalber das, mir soll’s recht sein, ich hab das lateinische Gequassel schon in meiner Jugend in Enna durchschaut. Es handelt sich um die Geheimsprache eines Kults, der zwei Flügel hat, Geistliche und Mediziner. Und die Apotheker laufen zwischen beiden hin und her. Und alle strotzen sie vor Gesundheit und sitzen auf dicken Geldbündeln. Ich esse täglich eine sizilianische Blutorange und trinke einen Liter Rotwein vom Ätna. Wem das nicht hilft, der hat auf diesem Planeten ohnehin nichts verloren.

Kulturkarambolagen sind also in Österreich für die Masse der Unfallopfer verantwortlich. Ich weiß von Geschäftsfreunden, daß in deinem Land Geschäfte, Wein und Schnaps untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn man nicht illuminiert und für alle riechbar zu Geschäftsterminen erscheint, kann man sich den Deal gleich abschminken. Des weiteren berichten sie, daß die wirklich bedeutsamen Politverhandlungen grundsätzlich in entlegenen Weinstuben geführt werden. So kommt es, daß die Parteiführer morgens mit einem Brummschädel erwachen – und mit einem Koalitionspartner, den man eigentlich in der Donau ersäufen wollte. Und euer Gewerkschaftspräsident, ein rundlicher Mann, habe in seiner Antrittsrede verkündet, er gehe lieber zu Heurigen oder Gestrigen – heißen die Weinstuben so bei euch? – als auf die Barrikaden. In der Rangordnung der verkommenen Arbeiterbewegungen scheint deine weit vorn zu sein. Ich schätze das, mit Repräsentanten dieser Schichten kann man meist gute Geschäfte machen. Billig sind sie obendrein. Daß der Wein bei euch eine gesellschaftliche Hauptrolle spielt, ist also nicht bedenklich. Schlimm ist, daß euer Wein sauer ist. Ein Freund hat mir einst eine Flasche Rotwein aus der ungarischen Grenzregion mitgebracht, einem Gebiet mit Kohleförderung. So schmeckte der Wein auch. Verschlossen, rußiger Abgang. Andererseits, es ist nicht eure Schuld, daß ihr keinen Ätna habt. Oder vielleicht doch? Es würde mich nicht wundern, würdet ihr eure Vulkane mit Müll zuschütten und darauf Schipisten installieren.

Aus leidvoller Erfahrung weiß ich, daß ihr Österreicher für eure Gesangskultur bekannt seid: Opern, Operetten, Weihespiele aller Art. Und politisch seid ihr Schlitzohren. Jetzt, wo es um nichts mehr geht, entdeckt ihr eure Liebe zu Israel. Pfui Teufel, Groll!

Ich bin redselig wie nie. Und da sagt man, ich hätte keine Symptome. Für einen Mann meiner Branche ist Redseligkeit tödlich. Ich werde das Aspirin absetzen.

Eigentlich wollte ich dir etwas mitteilen, von Schwiegervater zu Schwiegersohn sozusagen. Aber ich habe vergessen, was es war. Habe ich dir schon gesagt, daß ich per Du mit Ihnen bin und daß ich die Medikamente absetzen werde?

Richten Sie Grüße an Ihren akademischen Begleiter aus. Ich weiß es zu schätzen, daß er sich um Sie kümmert. Das muß Schwerstarbeit sein.

Giordano

Herr Groll und die Wölfe von Salzburg

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