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Die Adoption
ОглавлениеWie uns der Klapperstorch boykottiert und Jesus die Vertrauensfrage stellt
„Jesus“, fragte ich, „warum können wir unser Kind nicht bekommen wie andere Leute auch?“
„Glaubst du, ein selbst geborenes wäre besser als das, was jetzt auf euch wartet?“, erwiderte Jesus.
„Nein, das nicht unbedingt, aber beim selbstgeborenen wäre alles mehr wie ein Geschenk aus deiner Hand, und jetzt … ähh, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll …“
„Du weißt, dass du Unsinn redest“, sagte Jesus. „Es wäre ehrlicher, du würdest dir deine Angst vor dieser Reise eingestehen.“
„Na hör mal, so ganz ohne ist eine Auslandsadoption wirklich nicht. Man weiß ja nie, was für ein Kind … also, wie der später mal einschlägt.“
Jesus schmunzelte; das tat er öfters bei mir. Ich konnte es natürlich nicht sehen, diese ganzen Gespräche mit ihm waren ja nur fiktiv, in meinem Kopf gewissermaßen; aber doch wieder so real, dass ich mir seine Gemütsregungen gut vorstellen konnte. Und dass er in letzter Zeit so oft schmunzeln musste, behagte mir gar nicht.
„Vielleicht beruhigt es dich ein wenig“, fuhr er fort, „wenn ich dir sage, dass euer Kind eine Mischung aus Tante Leni und Onkel Ludger geworden wäre.“
Das war nun gerade die Aufmunterung, die ich gebraucht hatte. Judiths Tante Leni, glühende Verehrerin von Marcel Lefèvre. Das war dieser Erzbischof, der sich seinerzeit mit dem Papst überworfen hatte, weil er dieses ganze moderne Zeug in der Kirche nicht mochte und seine Messen lieber lateinisch gehalten hatte. Und dann mein Onkel Ludger. Für den waren alle Pfaffen Lügner und Verbrecher. Die kamen direkt nach den Politikern, und die wiederum direkt nach den Handwerkern. Es hatte einige wenige Familienfeiern gegeben, auf denen sich die beiden begegnet waren. Und wir waren inzwischen alle froh, wenn sie sich nur mit Missachtung straften. Es war mir absolut unvorstellbar, wie sich so unterschiedliche Veranlagungen in einem Menschen vereinigen könnten. Bei der Befruchtung im Mutterleib würde es wahrscheinlich schon zur ersten großen Auseinandersetzung kommen.
„Jesus“, begann ich wieder, „willst du damit sagen, dass Judith und ich Träger dieses familiären Erbgutes sind?“
„Wenn du in die Tiefen deiner Seele blicken könntest“, sagte Jesus, „wärest du erschrocken, was du alles zu sehen bekommst. Aber wir kommen vom Thema ab, Achim. Warum kannst du denn der Adoption nicht mit der gleichen Zuversicht entgegenblicken wie einer Geburt?“
„Herr, hast du eine Ahnung, was da alles schiefgehen kann?“
„Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir?“
„Ja … eigentlich schon.“ Da war sie wieder, diese Vertrauensfrage. Natürlich, eigentlich hatte ich schon Vertrauen, aber was hieß das schon? Hatte ich von Jesus etwa die Gewähr, dass alles gut gehen würde? Hatte er mir versprochen, dass wir alle Formalitäten erfolgreich abwickeln würden? Konnte ich mir sicher sein, dass das Kind bei unsrer Ankunft überhaupt noch da war? Und welche Zusagen hatte ich über die Gesundheit und die Entwicklung des Kindes? Vielleicht war der Vater Alkoholiker, die Mutter drogenabhängig, das Kind im Mutterleib schon vorgeschädigt. Vielleicht gab es schlimme Erbschäden, die erst im Teenie-Alter zu Tage treten würden. Und dann die soziale Integration. Worauf konnte ich mich denn da verlassen bei Jesus? Vielleicht würde das Kind gehänselt und geärgert. Vielleich würde die dunkle Hautfarbe doch mehr auffallen, als wir uns dachten. Vielleicht gab es jetzt schon so ein paar superblonde Säuglinge in unsrer Stadt, die nur darauf warteten, unserem Kind später in der Schule irgendwas Gemeines nachzurufen. Und da fragte Jesus mich so einfach, ob ich denn kein Vertrauen hätte!
Und wie in Gedanken murmelte ich erneut meine Antwort: „Ja … eigentlich schon, aber …“ Dieses Aber – es saß einfach drin in meinem Kopf.
„Vertrauen ist mehr“, sagte Jesus, „mehr als die Gewissheit, dass sich alles nach deinen Wünschen entwickeln wird.“
„Ich weiß“, sagte ich leise, aber eigentlich wusste ich gar nichts. Im Moment hätte mir diese kleine Stück Gewissheit auf jeden Fall sehr gut getan.
Wie wir mit guten Ratschlägen überschüttet werden und ein Toyota uns göttliche Weisung geben soll
Unser Weg bis zur Adoption war schon lang und steinig gewesen. Bereits vor zwei, drei Jahren war der Kinderwunsch bei uns gewachsen, und wir hatten mit viel Elan und Fantasie versucht, auf natürliche Art zu einem Kind zu kommen; Tage zählen und Candle-Light-Dinner inklusive. Aber all unsere Bemühungen hatten nicht gefruchtet … im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei waren Judiths mütterliche Ambitionen immer stärker geworden, nicht zuletzt beim Anblick des Kindersegens in unserer Gemeinde. Und bei mir lagen schon umfangreiche Pläne für eine Modelleisenbahn in der Schublade, die nur darauf warteten, endlich in Produktion gehen zu dürfen. Doch Monat um Monat verging, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einstellen wollte.
„Kinder sind eine Gabe des Herrn, so etwas muss erbeten sein“, war der erste gute Ratschlag, den wir erhielten. Es erschien auch mir absolut logisch, dass so ein elementarer Lebensabschnitt durch ein Gespräch mit Gott Unterstützung finden sollte.
„Jesus, du weißt schon, warum ich mit dir reden muss“, fing ich eines Tages an. „Das mit unserem Kind, beziehungsweise, dass wir kein Kind … Wo wir doch jetzt alles tun, damit endlich … Du verstehst, was ich meine.“
Ich lauschte in die Stille, lauschte in mich hinein, konnte jedoch keine spontane Reaktion Jesu erkennen.
„Schau mal: Wie viele Paare kriegen Kinder und wollen gar nicht! Wie viele Frauen werden mit Kindersegen überschüttet, ohne dich ein einziges Mal zu konsultieren. Und wir, wir möchten liebend gerne, und nichts tut sich! Du musst zugeben: Das ist nur schwer zu begreifen.“
Ich machte eine kurze Pause und schob dann schnell hinterher: „… aus menschlicher Sicht, meine ich natürlich.“
Da ich Jesu Stimme immer noch nicht hörte, wurde ich etwas offensiver.
„Jesus, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum du uns den Kinderwunsch abschlagen solltest. Schließlich bieten wir doch gute Voraussetzungen für ein Kind … Judith als Pädagogin und dann bei all ihrer Mutterliebe. Es kommt mir manchmal so vor, als verteilst du deinen Segen nach dem Gießkannenprinzip.“
Ich hielt wieder inne. Warum antwortete Jesus mir nicht? Wenn ich gar nichts von ihm hörte, war das weitaus schlimmer, als wenn er schmunzelte. Natürlich, ich konnte mir seiner Nähe sicher sein, auch wenn ich seine Stimme nicht direkt hörte. Die Sonne scheint auch, wenn der Himmel bewölkt ist, man kennt das ja … rein theoretisch wenigstens.
Aber warum? Warum bekam ich keine Antwort? Eine Sache, die mich schon immer beschäftigt hatte. Wie höre ich Gottes Stimme? Wie erkenne ich seinen Willen? Wann und warum redet er zu mir? Wann und warum schweigt er? Und das Wichtigste: Wann, wie und wo kann ich ein Stück seiner Nähe ergattern? Ein unerschöpfliches Thema, mit dem ich mich demnächst noch mal auseinander setzen sollte. Doch im Moment fühlte ich mich wie jemand, der mit nassen Haaren und Föhn in der Hand verzweifelt die Steckdose sucht.
Ein paar Wochen später erhielten wir dann den zweiten guten Ratschlag: „Es gibt Schuld in eurem Leben, die nicht bereinigt ist. Der Herr kann nicht segnen, solange ihr nicht die volle Vergebung eurer Sünden habt.“
Ich muss zugeben, dass die Sache mit der Sündenvergebung nie ein großes Thema für mich gewesen war. Ich war ein Mensch und als solcher automatisch mit Schwächen, Fehlern und Verfehlungen behaftet. Und ich wusste: Wie sehr ich mich auch abmühen würde, beim besten Willen könnte ich nicht fehlerfrei werden. Natürlich wusste ich auch, dass Gott das wusste. Und dann war da noch das Kreuz. Theoretisch war mir alles klar, die Sache mit der Sündenvergebung. Es gab ja auch genug Gleichnisse und Geschichten, die einem die Symbolik erklären sollten: Der Herrscher, der dem Verurteilten gegenübersteht und aus dem Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit heraus die Strafe auf sich nimmt …
Natürlich – so klang es direkt logisch, die Sache mit dem Kreuz. Aber ich hatte mich einmal im Gespräch mit Jesus zu einer fatalen Äußerung hinreißen lassen. „Jesus“, hatte ich gesagt, „ich glaube, ich habe das mit der Sündenvergebung endlich verstanden. Eigentlich ist es ganz einfach.“
„Für mich“, hatte Jesus geantwortet, „war es alles andere als einfach.“ Und dabei hatte er so einen komischen Unterton in der Stimme gehabt, dass mir mit einem Schlag bewusst wurde, wie wenig ich verstanden hatte. Doch irgendwann hatte ich aufgehört, mir zu viele Gedanken über Sünde, Schuld und Vergebung zu machen. Nicht zuletzt hatte ich das traurige Beispiel einzelner Geschwister vor Augen, die sich jahrelang mit Versündigungsgedanken herumquälten.
Trotzdem blieb dieser gut gemeinte Ratschlag bei mir nicht ohne Folgen. Sollte es möglich sein, dass es eine Schuld gab, die nicht unter Gottes Generalamnestie fiel, sondern für die man eine Sonderbegnadigung brauchte, quasi auf speziellen Antrag hin?
Genau in dieser Zeit, als ich mein Sündenregister näher unter die Lupe nahm, kam von einem Bekannten aus der Gemeinde ein dritter gut gemeinter Ratschlag: „Ihr müsst mit eurem Kinderwunsch in der rechten Demut vor den Herrn treten.“
Sollte hier vielleicht eine unerkannte und somit unvergebene Schuld vorliegen? Mangelnde Demut hatte ich bis dahin nie für mein Hauptproblem gehalten, aber je länger ich darüber nachdachte, umso mehr fielen mir Schwachpunkte meiner inneren Haltung auf. Hatte ich unseren Kinderwunsch nicht wie eine Selbstverständlichkeit eingefordert? Hatte ich Judith und mich nicht als hoch qualifiziertes Elternpaar dargestellt wie bei einem Bewerbungsgespräch? Und dann die Sache mit dem Gießkannenprinzip, was war mir das peinlich! Wie hatte das nur passieren können? Ich hatte Gott Vorschriften und Vorwürfe gemacht. Wie zum Zeichen tiefer Reue kramte ich meine Bibel hervor und schlug das Buch Hiob auf. Hinten am Ende, da gab’s doch die Antwort Gottes auf Hiobs Bemerkungen … da, ich hatte den zentralen Satz gefunden: „Wer ist’s, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand?“ Und dann folgte eine endlose Litanei von Naturgewalten, die Gottes Allmacht bezeugen sollten. Schließlich stieß ich auf einen Satz, den ich wie ein Stoßgebet zum Himmel schickte: „Siehe, ich bin zu gering; was soll ich antworten?“ Und dann noch als Schlusswort: „Dein Wille geschehe.“
Natürlich war diese innere Einkehr ein zweischneidiges Schwert. Denn kaum hatte ich mein kurzes Gebet gesprochen, fand ich mich selbst ganz schön demütig. Und so viel Demut verdiente eigentlich eine Belohnung.
Wieder vergingen Monate. Wieder warteten wir auf den gewünschten Erfolg, und wieder wuchs die Enttäuschung. Da erreichte uns der vierte gute Ratschlag.
„Euer Glaube soll geprüft werden. Wer nicht von ganzem Herzen glaubt, der empfängt auch nichts.“
Damit befand ich mich natürlich in einer geistlichen Zwickmühle. Liebend gern war ich bereit, von ganzem Herzen an die Erfüllung eines Gebetswunsches zu glauben ... wenn er denn irgendwann auch erfüllt würde. Aber wie sollte ich blind vertrauen, wenn ich schon so oft enttäuscht worden war. Na schön, zugegeben, enttäuscht war nicht das richtige Wort, aber irgendwie doch ... manchmal ... so ein bisschen.
Ich wandte mich an Jesus in der Hoffnung, diesmal eine klare Antwort zu erhalten.
„Herr, ich glaube ja, dass wir in deiner Hand geborgen sind. So im Allgemeinen habe ich damit auch keine Probleme, aber manchmal wünsche ich mir auch etwas Konkretes. Wenn wir keine Kinder haben sollen, dann will ich das ja gerne aus deiner Hand nehmen …“ (Hätte ich das gerne jetzt lieber weglassen sollen?) „Aber ich will ja nicht nur für mich reden. Schau mal, Judith gerät über kurz oder lang in eine Krise, wenn das so weitergeht. Wie wäre es, wenn du uns direkt sagst, was jetzt dran ist, so mit einem Zeichen, du weißt schon, was ich meine.“
Die Idee mit dem Zeichen war nicht schlecht. Das hatte was Konkretes, da würde mir das Glauben schon leichter fallen.
„Jesus, du musst ja nicht gleich ein Wunder tun … ich weiß, dass du mit solchen Sachen sehr zurückhaltend bist. Wir könnten ja unter Wahrung der Naturgesetze etwas vereinbaren. Wie wäre es mit ...“ Ich sah mich suchend um, mein Blick fiel auf die Ablage unter dem Fernseher. Unter der Programmzeitschrift schaute eine Ecke meiner Bibel hervor. Ich könnte den Finger blind auf einen Bibelvers legen und den dann als Antwort auf meine Frage sehen: Kind ja oder Kind nein.
Ich wollte schon aufstehen und nach dem Buch der Bücher greifen, da zögerte ich. Es gab ja so endlos viele Verse, die mehr allgemein blieben. Was wäre, wenn ich zum Beispiel auf „Der Herr ist mein Hirte“ oder etwas Ähnliches tippen würde? Da wäre ich so schlau wie vorher. Nein, ich musste etwas finden, was kategorisch nur ein Ja oder ein Nein zuließ. Gab’s da nicht diese Bibelstelle mit dem Fell? Jemand hatte über Nacht ein Fell vor die Tür gelegt, und je nachdem, ob es am nächsten Morgen mit Tau bedeckt war, bedeutete das ein Ja oder ein Nein von Gott. Ich hatte schon von Leuten gehört, die so was gemacht hatten, ob mit Erfolg, war mir jetzt entfallen. Aber Judith besaß leider keinen Pelzmantel; wahrscheinlich hätten die Nachbarn auch seltsam geguckt, wenn ich ihn vor die Tür gelegt hätte. Nein, ich musste etwas Einfacheres finden. Wie wäre es mit einem Blick aus dem Fenster, und das nächste Auto ... ja, das war’s!
Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus. Unsere Straße lag einsam und verlassen da. Ich hatte plötzlich ein bedeutungsvolles Gefühl im Bauch.
„Jesus“, begann ich feierlich, „ich trete jetzt vor dein Angesicht und bitte dich um Klarheit. Auf dein Wort wollen wir hören und deinen Weisungen folgen. Deinen Willen wollen wir erkennen und nach deinem Weg fragen. In aller Demut wollen wir uns unter deine leitende Hand stellen und uns nach deiner Führung ausstrecken ... Mann, Jesus, ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus. Pass mal auf, ich habe mir das folgendermaßen überlegt: Die Farbe des nächsten Autos, das hier vorbeifährt, ist deine Antwort. Ein rotes Auto bedeutet ‚Ja, ihr bekommt ein Kind’, jede andere Farbe bedeutet ‚Nein, ich habe andere große Aufgaben für euch‘.“
Jetzt war’s raus. Noch nie hatte ich an Gott so eine konkrete Anfrage gerichtet. Natürlich war ich mir unsicher, ob das Ganze überhaupt biblisch legitim war, aber die Sache mit dem Fell hatte mir dann doch Mut gemacht.
Unsere Straße war eine Nebenstraße, es könnte leicht passieren, dass ich eine Viertelstunde auf das nächste Auto warten müsste. Die Minuten verstrichen, und nichts passierte. Ein einsamer Radfahrer kam vorbei. Ich trat zwei Schritte vom Fenster zurück, um nicht gesehen zu werden.
Eigentlich hatte ich mit meiner Aufgabenstellung die Chancen schon zu unseren Ungunsten verteilt. Der prozentuale Anteil roter Autos am gesamten Straßenverkehr lag ja weit unter fünfzig Prozent. Bedeutete das nicht, dass ich die Aussichten auf ein Kind entsprechend niedrig angesetzt hatte? Vielleicht hätte ich es umgekehrt machen sollen, rot heißt „Nein“, alles andere heißt „Ja“. Aber jetzt noch tauschen? Nein, wie hätte das ausgesehen vor Gott? Schließlich stand ich hier nicht am Roulette-Tisch, sondern vor Gottes Angesicht. Sollte er diese ungleichen Spielchancen doch ruhig als Beweis sehen für meinen tiefen Glauben an seine Führung.
Ein Motorgeräusch näherte sich. Es war soweit, in wenigen Sekunden würde Gott zu mir reden, würde diesen ahnungslosen Autofahrer zu einem Werkzeug seines Wirkens machen. Da ... jetzt ... der Wagen, gleich würde er ... und schon sauste er vorbei, ein älterer Toyota ... Farbe: orange ... Eigentlich richtig orange, genau genommen ein rötliches Orange, ein Orange, das sich auf der Farbskala deutlich im rotstichigen Bereich bewegte ... Aber eigentlich nicht richtig rot.
Wie konnte man nur ein Auto so lackieren! Noch nie hatte ich solch eine seltsame Farbe gesehen, einfach schauderhaft. Bestimmt hatte da jemand selbst mit Pinsel und Farbe rumgekleckert. Wahrscheinlich war die Originallackierung purpurrot gewesen.
Aber es half nichts. Mein Ärger über diese Farbe sollte ja nur von meiner Unsicherheit ablenken, wie ich das Ganze zu bewerten hätte. War das ein rotes Orange gewesen oder ein orangefarbenes Rot? Die Frage benötigte dringend eine wissenschaftliche Klärung. Hatte ich nicht in meinem Zeichenschrank im Keller diese große Farbpalette liegen? Na klar, das gesamte Farbspektrum mit allen denkbaren Schattierungen war da vertreten. Chromorange und cadmiumrot lagen denkbar dicht nebeneinander.
Ich rannte los, riss die Kellertür auf und sprang die Stufen hinunter. Gleich würde ich Klarheit haben. Auf dem letzten Treppenabsatz traf mich dann die Stimme Jesu. Sie war wesentlich gewaltiger als sonst, fast wie ein kleiner Donnerschlag. Man hätte auch meinen können, es wäre die Stimme von Gottvater gewesen, obwohl es natürlich Quatsch ist, so was an der Stimmlage auszumachen.
„Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde“, rief mir Jesus zu, „ich würde es nicht glauben, was du da gerade tust.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Herr, ich dachte doch nur ...“, stammelte ich, doch Jesus unterbrach mich, was sonst gar nicht seine Art war, mitten im Satz.
„Wenn du so weitermachst, wirst du dir deine Lebensfragen alle selbst beantworten und sogar noch fest daran glauben, du hättest deine Weisheit von mir bekommen. Jetzt habe ich dir mit diesem komischen Toyota schon eine Antwort gegeben, die selbst du verstehen könntest. Ich hätte mich auch raushalten können und zusehen, wie du dir mit dem erstbesten Wagen deine Antwort zusammenbastelst. Wann begreifst du das endlich? Glauben heißt nicht Wissen. Glauben heißt mehr als Wissen.“
Es war wieder still. Ich stand immer noch wie angewurzelt am Fuß der Kellertreppe.
„Jesus?“, fragte ich vorsichtig, doch ich bekam keine Antwort. Anscheinend hatte er mir alles gesagt, was gesagt sein musste. „Glauben heißt mehr als Wissen“, wieder einer von seinen schwer verdaulichen Sprüchen. Warum war das alles nur so kompliziert?
Als ich die Treppe langsam wieder hochging, kam mir aber doch noch ein passender Bibelvers in den Sinn, den ich wie ein Stoßgebet nach oben schickte.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Wer hatte das noch gesagt und warum? Müsste ich bei Gelegenheit mal nachsehen.
Wie Bruder Ernst Mahler am Globus dreht und mein Schulatlas im Regal verstaubt
Als wir beim Thema „Auslandsadoption“ angekommen waren, lag bereits eine Menge hinter uns: Zahlreiche Besuche bei verschiedenen Ärzten, der Gang zum Jugendamt wegen einer deutschen Adoption und schließlich die Anfrage bei diversen Organisationen, die eine Auslandsadoption vermitteln. Wir wollten uns aber nicht nur auf amtliche Stellen verlassen, sondern versuchten auch privat, Kontakte ins Ausland zu knüpfen.
In unsrer Gemeinde gab es schließlich Ernst Mahler, einen alten Missions-Hasen, schon seit längerer Zeit aus dem Dienst ausgeschieden, aber immer erfreut, wenn man seine Hilfe in Anspruch nahm. Als er unser Informationskonto mit Ratschlägen und Kommentaren auffüllte, drehte er vor seinem geistigen Auge den Globus herum wie einen Ansichtskartenständer.
„Die Philippinen würde ich empfehlen, ein wunderschönes Land ... sehr intelligente Menschen, die Filipinos ... Da müsste doch was zu machen sein ... Oder wie wäre es mit Bangladesch? Ein Land mit großer Armut und noch größerem Kindersegen ... Die Hautfarbe wäre natürlich dunkler als bei den Filipinos ... Wenn das ein Problem ist wegen der sozialen Integration und so ... Unter diesem Gesichtspunkt wäre Schwarzafrika natürlich auch zu überdenken, obwohl ... Wir als Gemeinde haben einen Bruder mitten ins Missionsfeld der afrikanischen Savanne ausgesendet vor ein paar Jahren, da könnte man doch über diesen Kontakt ... Südamerika kann ich natürlich auch empfehlen ... reizende Menschen, diese Südamerikaner; vielleicht etwas unorganisiert, aber sonst ... In den Partnergemeinden dort haben sich die herzlichsten Freundschaften ergeben ... Unter den Mestizen, also den Mischlingen, gibt es ausgesprochen schöne Menschen“, wahrscheinlich meinte er die Frauen, „während im Hochland die Indios ... Also die Indiofrauen haben alle krummen Beine, aber das kommt sicher von der schweren Arbeit.“
Bei dieser internationalen Auswahl, die wir da von Bruder Ernst Mahler präsentiert bekamen, war es mir selbst nicht mehr ganz klar, wieso wir überhaupt irgendwelche Zweifel und Probleme hatten. Die Auswahl war riesig. Es gab Millionen armer, elternloser Kinder rund um den Globus, die nur darauf warteten, dass wir uns endlich in den Flieger setzen würden. Doch wie sollten wir nur an eines dieser Million Kinder herankommen?
Wir bemühten unsere vielfältigen, internationalen Kontakte und hofften auf die Wegweisung Gottes. Da war zum Beispiel unser China-Restaurant. Durch unsere regelmäßigen Besuche waren wir mit der Familie Wong ein wenig vertraut, soweit die asiatische Höflichkeit dies überhaupt zuließ. Und so fragten wir eines Tages, ob man über die familiären Beziehungen nach Hongkong Kontakt zu einem Kinderheim bekommen könnte. Herr Wong lächelte uns fernöstlich an und versprach, im nächsten Brief an seinen Bruder unsere Bitte vorzutragen.
Da war zum Beispiel die Aussendungsfeier einer Nachbargemeinde. Eine junge Schwester wurde ausgerüstet für ihren Dienst in Indonesien. Wir gaben ihr einen Brief mit, in dem wir uns vorstellten und unser Anliegen formulierten. Es könnte ja sein, dass sie bei ihrer Arbeit auf der anderen Seite des Globus genau auf das Waisenkind treffen würde, das Gott für uns schon ausgesucht hatte. Außerdem hatte ich im Atlas nachgesehen: Indonesien lag praktisch in direkter Nachbarschaft zu den Philippinen, laut Bruder Ernst Mahler eine empfehlenswerte Ecke.
Da war zum Beispiel dieser Pastor auf unserer Sommerfreizeit. Der kannte wieder einen Amtskollegen, der hatte mal in Südamerika adoptiert; Peru, Kolumbien oder diese Ecke da. Ich traute mich zwar nicht zu fragen, ob das Kind ein Hochlandindio war, aber Judith und ich verschickten wieder unser Brieflein: „... möchten wir uns auf diesem Wege vorstellen und wären Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie uns bei unserem Anliegen ... usw., usw. ...“
Im Laufe der Zeit bekam ich Zweifel, ob unsere Versuche jemals belohnt würden. Herr Wong lächelte uns immer noch mit asiatischer Vieldeutigkeit an. Der Luftpostbrief aus Indonesien, den ich eines Tages in den Händen hielt, war nicht von unserer Missionsschwester, sondern enthielt die garantierte Gewinnmitteilung einer Lotterie, die ich nie mitgemacht hatte. Und aus Peru kam auch keinerlei Lebenszeichen.
Mein alter Schulatlas, der einige Monate auf der Ablage neben dem Fernseher gelegen hatte, um immer griffbereit zu sein, wanderte wieder ins Bücherregal. Bei Gesprächen mit Freunden und in der Gemeinde vermieden Judith und ich inzwischen das Kinderthema. Wir wollten auf jeden Fall mitleidige Kommentare vermeiden.
Ein letztes Gespräch mit meinem Arbeitskollegen Makowiz gab mir den Rest. In der Frühstückspause sah er mich voller Mitgefühl an und meinte: „Mach dir nichts draus, Achim. Wer weiß, was ihr euch da für einen Kuckuck ins Nest geholt hättet. Du brauchst sie dir ja nur mal angucken, da hinterm Stadtpark an den Containern ... Wie die schon aussehen! Außerdem ist das Leben ohne Kinder viel angenehmer. Kannst dir ja nichts mehr leisten, wenn du mal so ein paar Blagen zu füttern hast. Und außerdem leben wir nicht im Urwald, wo man viele Kinder zur Altersvorsorge braucht. Also ... warum willst du dich damit belasten?“
„Du hast doch auch zwei Kinder“, wandte ich ein.
Er lächelte gequält. „Eben, drum! Früher hätte man ja noch sagen können, man will dem Führer ein Kind schenken, aber heute? Ich gebe dir einen guten Rat, Achim. Mach dir ein schönes Leben“, er zwinkerte mir zu, „du weißt ja, man lebt nur einmal.“
Der letzte Satz war natürlich wieder als kleiner Seitenhieb auf meinen Glauben gedacht. Aber heute verzichtete ich aufs Kontern. Ich hatte die Nase voll von all diesen Ratschlägen. Vielleicht hatte er ja nicht mal ganz Unrecht. Judith und ich könnten uns auch auf ein Leben ohne Kinder einstellen, obwohl dieser Gedanke Judith sicher schwerer fiel als mir.
Wie ein Telefonanruf unser Leben verändert und mein persönlicher Hahn dreimal krähen will
Über ein Jahr war vergangen. Das Thema „Kinder“ beherrschte nicht mehr täglich unsere Gedanken. Nur heute, da war wieder so ein Tag. Wir hatten Besuch von den Reismüllers – eine reizende, junge Familie aus unserer Gemeinde mit noch reizenderen Kindern. Es war inzwischen spät geworden, es ging schon auf elf zu.
Die drei Kinder im Alter zwischen fünf und zehn waren total übermüdet und somit unausstehlich, ein Tatbestand, der für mich niemals begreiflich sein wird. Jeder normale Mensch wird still und schläfrig in diesem Stadium, nicht so Kinder bis zu einer bestimmten Altersgruppe. Gerade hatte der Älteste der Kleinen unseren Kater Ingo am Schwanz gezogen. Der war zwar auf die oberste Plattform seines Kratzbaumes geflüchtet, das Kind war ihm aber unter Zuhilfenahme eines Stuhles nachgestiegen. Ingo fühlte sich bedroht und langte mit ausgefahrenen Krallen zu. Der kleine Reismüller, an der Hand getroffen, schrie auf, als wäre er King Kong begegnet.
Mutter Reismüller sprang auf und zog ihren Sprössling vom Stuhl. Vater Reismüller begann einen Vortrag über das Aggressionsverhalten bei Säugetieren. Die beiden Reismüller-Geschwister tanzten hämisch lachend um ihren Bruder herum. Judith versuchte Ingo zu beruhigen, der mit hochstehendem Nackenhaar vom Kratzbaum herunterfauchte, und ich, ich wollte gerade ins Bad gehen, um aus dem alten Schuhkarton in Hängeschrank Pflaster und vorsichtshalber auch gleich Verbandszeug zu holen. In diesem Moment klingelte das Telefon.
Man hätte es leicht überhören können in dem Durcheinander – und überhaupt, wer rief um diese Zeit denn noch an? Wahrscheinlich wieder ein fröhlicher Zecher, der ein Taxi brauchte. Bis auf eine Ziffer war unsere Nummer mit der Taxizentrale identisch ... lästig, lästig. Ich nahm den Hörer ab, bereit, eine kleine Nettigkeit in die Sprechmuschel zu zischen. In der Leitung knackte es ein paar Mal, dann rief eine Frauenstimme: „Hallo?“
„Ja ... hallo“, antwortete ich.
Der kleine Reismüller hielt derweil seine Hand empor wie ein Mahnmal. Ein roter Streifen zierte den Handrücken.
Doch dann fing die Stimme am anderen Ende der Leitung an zu reden. „Hier ist Christa-Maria Stark aus Peru. Ich habe ein Kind für euch. Wann könnt ihr kommen?“
Ingo hatte beschlossen, von seinem Kratzbaum herabzusteigen, um das lärmende Wohnzimmer zu verlassen. Als er auf den Boden sprang, hüpften die drei kleinen Reismüllers johlend zur Seite, als wäre King Kong vom Empire State Building herabgestiegen.
Mit diesem Bild vor Augen stammelte ich: „Ja, natürlich ... die Papiere, wenn wir die Papiere fertig haben.“
„Ich schicke euch noch ein Telegramm“, hörte ich die Frauenstimme, „ich muss jetzt Schluss machen, ich habe schon seit heute Mittag versucht durchzukommen, jetzt hat’s endlich ...“, der Satz wurde durch ein kurzes Knacken abgebrochen. Dabei war das Schlusswort so tiefsinnig doppeldeutig gewesen: „Jetzt hat’s endlich geklappt.“
Ich hielt den Hörer regungslos umklammert, als kämen noch weitere geheime Botschaften, doch die Leitung war tot. Nachdem ich mich eine halbe Minute nicht gerührt hatte, wurde Judith auf mich aufmerksam. Sie kam zu mir und fragte: „Ist was mit deinem Vater?“
Erst jetzt sah ich wieder die drei kleinen Reismüllers, die respektvoll unserem Ingo hinterher schauten.
„Nein, nein, mit Vater ist nichts“, sagte ich, „im Gegenteil, wir haben gerade ein Kind gekriegt.“
Der Abend wurde noch richtig spät, zum Glück hatten wir eine Flasche Sekt im Keller. Die Kinder waren wieder auf der Suche nach der Katze, während wir vier Erwachsenen auf das bevorstehende Glück anstießen. Immer wieder musste ich die paar Sätze wiederholen, die ich gerade am Telefon gehört hatte.
Vater Reismüller erhob sein Glas und sagte: „Ich denke, wir sollten uns das Du anbieten.“ Und als er unser zustimmendes Nicken sah, fuhr er fort: „Wenn ich dann den Anfang machen dürfte, ich bin der Heinz.“
Während seine Frau sich als Annelene vorstellte, hatte ich das Gefühl, als hätten wir eine Klubmitgliedschaft erworben. Raus aus dem einsamen Dasein der Kinderlosen, rein in den fröhlichen Klub der Eltern.
Heinz überflog gleich darauf mit Kennerblick unsere Wohnungseinrichtung mit all den geschmackvollen Nutzlosigkeiten, die Judith so gern dekorativ verteilte. „Sieht ja alles hübsch aus“, sagte er dann, „aber wenn euer Kind erst mal da ist ...“
Weiter sagte er nichts. War mir auch egal. Ich verbuchte diesen Satz auf unser ohnehin schon überfülltes Konto mit guten Ratschlägen, dann erhoben wir die Gläser und stießen nochmals an.
Zwei Wochen später kam schließlich das Telegramm aus Peru: „euer kind ist geboren 5. januar junge 2500 gramm liebe grusse christa.“ Die folgenden Wochen bis zu unserem Abflug waren ausgefüllt mit Behördengängen und Papierkram. Unsere Adoptionsakte wuchs rasant. Nach Jahren des Wartens erfüllte uns auf einmal eine große Anspannung und Hektik. Eines der wichtigsten Dokumente, das wir benötigten, war der sogenannte Sozialbericht des Jugendamtes. Zu diesem Zweck hatte sich der Jugendamtsleiter zu einem Hausbesuch angekündigt.
Wir hatten alles gut präpariert. Die Wohnung war geputzt und aufgeräumt, trotzdem hatten wir einige Dinge wie zufällig auf dem Tisch und in den Ecken verstreut, um nicht in den Verdacht von Perfektionismus zu geraten. Unsere Kleidung war bewusst leger gewählt. Auf meiner Hose sollte schließlich auch ein gespuckter Spinatfleck denkbar erscheinen.
Nur eines bereitete mir Kopfzerbrechen. Inwieweit sollten wir bei diesem Besuch unseren Glauben bekennen? Schließlich kannten wir die persönliche Einstellung des Jugendamtsleiters überhaupt nicht. Sicher, irgendeine Konfessionszugehörigkeit und ein gelegentlicher Kirchgang waren angebracht. Aber unsere Gemeinde war für Außenstehende nicht gerade alltäglich, unser praktizierter Glaube ebenso wenig. Wie schnell geriet man da in den Ruf des Sektierertums? Außerdem sah unser Besucher überhaupt nicht konfessionell gebunden aus. Die etwas strähnigen Haare, diese Leinenweste und die Nickelbrille ... wie ein zu spät gekommener John Lennon. Sicher war er Humanist, Freidenker oder so etwas? Unter diesen Sozialarbeitern gab’s bestimmt auch viele Anthroposophen. Da würde mir ein Satz wie „Wir glauben an den Herrn Jesus Christus“ nur schwer über die Lippen gehen. Schließlich mussten wir für unseren Sozialbericht im allerbesten Licht stehen.
Andererseits wollte ich auch nicht dastehen wie Petrus in der Verleugnungs-Geschichte. Womöglich würde ich später einen Misthaufen vor unserer Haustür antreffen, mit einem Hahn darauf, der dreimal laut krähen würde. Nein, das Ganze musste höchst diplomatisch behandelt werden. Ich könnte ja noch schnell Jesus um Rat fragen. Aber nein, ich war mir nicht sicher, ob ... Doch, ich war mir sicher ... sicher, dass er für meine Gedanken kein Verständnis aufbringen würde.
Aber Judith war mal wieder schneller als alle meine Gedanken. Mit wenigen Sätzen schilderte sie unser Glaubens- und Gemeindeleben, und unser humanistischer Anthroposoph machte sich ein paar Notizen, ohne weiter nachzufragen. Ein paar Tage später schickte er uns einen Sozialbericht, bei dem ich selbst staunte, was für ein tolles Zuhause wir vorweisen konnten.
Wie Kap Horn zum Meilenstein unserer Reise wird und wir dem Schutz der deutschen Botschaft anbefohlen werden
In drei Tagen war unser Flug gebucht. Ein letztes Mal in der Gemeinde zum Gottesdienst – es erschien mir wie eine Abschiedsvorstellung. Noch bevor wir Platz nehmen konnten, kam Gertrud auf uns zu, eine ältere Dame, die vor einiger Zeit ihren einzigen Sohn verloren hatte. Sie hielt unsere Hände.
„Heute früh in der Stillen Zeit“, sagte sie, „habe ich ein Wort für euch bekommen: ‚Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Dabei sah sie uns mit Tränen in den Augen so mitfühlend an, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
„Ich bin sicher“, fuhr sie fort, „dass ihr mit Gottes Geleit alle Gefahren und Anfechtungen bestehen werdet, und dass der Widersacher kein Anrecht auf euch hat.“
Dann drückte sie mich so fest an sich, dass auch ich feuchte Augen bekam. Eigentlich wollten wir in fünf Wochen zurück sein, aber dieser Abschied wäre auch für fünf Jahre geeignet gewesen.
Bruder Seidler, der Geschäftsführer unserer Gemeinde, trat hinzu. Zunächst trat er etwas verlegen von einem Bein auf das andere, bis Gertrud mich aus ihrer fülligen Umarmung entließ und sich Judith zuwendete. Er zog mich beiseite und tat dabei etwas geheimnisvoll.
„Ihr könnt ganz beruhigt sein“, flüsterte er mir zu, „aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass der Leuchtende Pfad überwiegend im Süden von Peru aktiv ist. Wolltet ihr nicht in den Norden?“
Ja, unser Ziel lag mehr im Norden, also ein wahrhaft tröstender Zuspruch von Seidler. Der Leuchtende Pfad, der Sendero Luminoso, war eine Guerillaorganisation, die sich bis in die 90-er Jahre einen Krieg mit dem Militär lieferte, mit allen schrecklichen Folgen, die so ein Kampf für die Bevölkerung mit sich brachte. Seidler schien bemüht, mich zu beruhigen und Judith erst gar nicht mit dieser Thematik zu konfrontieren.
„Man hat ja in letzter Zeit davon gehört“, fuhr er flüsternd fort, „dass der Leuchtende Pfad selbst in der Hauptstadt Lima aktiv ist. Aber ihr braucht euch keine großen Sorgen zu machen. In Lima ist die Präsenz des Militärs entsprechend groß, und als Ausländer steht ihr sowieso unter dem Schutz der deutschen Botschaft.“
Seine beschwörend beschwichtigenden Worte hatten bei mir genau das Gegenteil erreicht. Wieso hatten wir uns ausgerechnet so ein zerrissenes Land wie Peru ausgesucht? Es schien mir angebracht, all diese Details von Judith fern zu halten. Man sollte sie nicht unnötig beunruhigen. Außerdem fragte ich mich, ob ich den Schutz der deutschen Botschaft höher einstufen konnte als den Schutz Gottes. Das Orgelvorspiel setzte ein, und ich bedankte mich bei Seidler mit einem herzlichen Händedruck. Dann rutschten Judith und ich in die hinterste Stuhlreihe.
Heute war ein Gastprediger angekündigt. Für mich war das immer eine interessante Abwechslung. Nicht dass unser Prediger, der gute Bruder Bödeker, schlecht gepredigt hätte, ganz im Gegenteil, aber von Zeit zu Zeit war ich neugierig auf andere Gedanken. Nach zwei Liedern und den Ankündigungen trat der Gast nach vorne, eine wahrhaft imposante Erscheinung. Ein Kreuz wie ein Kleiderschrank, auf dem einen Arm ein tätowierter Anker, auf dem anderen ein Drache oder so was ähnliches. Er sortierte ein paar Blätter vor sich auf der Kanzel und sah nach vorn. Ebenso schien er seine Gedanken zu sortieren, bevor er mit lauter Stimme begann.
„Brüder und Schwestern“, rief er, „ich will euch heute Zeugnis geben, wie der Herr mich befreit hat von meinem alten Adam, und wie ich durch seine Gnade die Welt überwunden habe. Ja, ich war in der Welt zu Hause, von St. Pauli bis Kap Horn, von Shanghai bis Lima ...“
Beim Wort Lima richteten sich schlagartig alle meine Antennen auf; vielsagend blickte ich Judith an. Vielleicht hatte uns dieser Bilderbuchseebär da vorne mehr zu sagen, als ich ahnte. Doch zunächst erzählte er von seinem verwegenen Lebenslauf als Zeitschriftenwerber in einer Drückerkolonne.
„Ihr müsst nur erst mal zur Tür reinkommen, dann habt ihr es schon fast geschafft. Ich habe alle Rollen durchgespielt: ‚Haben Sie Vorurteile gegen Vorbestrafte?’ Die Nummer lief eine Zeit lang ganz gut, oder auch: ‚Ich mache eine Umfrage übers Fernsehprogramm.’ Da fallen die Leute reihenweise drauf rein. Ich habe in unserer Gruppe die meisten Abos reingeholt. Meine größte Leistung war eine alte Frau aus Frankfurt. Die hatte schon alles abonniert, was in Frage kam. Da hab’ ich ihr noch den Playboy aufgeschwatzt, oder waren es die St. Pauli-Nachrichten? Na, ihr wisst schon, was ich meine.“
Sein Zeugnis hatte eine fesselnde Wirkung auf die versammelte Gemeinde. Viele lauschten ihm mit großen Augen und offenem Mund. Ich versuchte derweil, mir unsere liebe Gertrud mit einem Playboy vorzustellen.
„Geschwister“, rief er wieder laut, „der Widersacher hat viele Fallstricke ausgelegt, um euch in die Tiefe zu ziehen. Auch mich hat er geblendet mit den Lüsten dieser Welt, damit ich das Gnadenangebot unseres Erlösers nicht erkenne.“
Jetzt begann er mit seiner großen Fahrt über die Weltmeere. Ein Hauch von Fernweh wehte durch unseren Gemeindesaal.
„Da hatte mal so ein stiller, junger Mann bei uns angeheuert“, erzählte er weiter, „der war natürlich ein gefundenes Fressen für uns. Aus dem wollten wir erst mal einen richtigen Seemann machen. Am ersten Abend an Bord wurde er zwangsweise abgefüllt, bis er seine eigene Großmutter nicht mehr kannte. Und in seinem beduselten Kopf hat er uns dann gebeichtet, dass er noch nie so richtig mit einer Frau ... na, ihr wisst schon. Da haben wir dann alle zusammen geschmissen und im nächsten Hafen, war es in Rio? Nein, ich glaube, es war in Sao Paulo, na, ihr kennt das ja, die Animierzeilen sehen in allen Häfen der Welt gleich aus.“
Immerhin hatte unser Seemann auf dem Globus schon Südamerika erreicht. Gewiss wollte ich diese letzte Predigt vor unserem Abflug nicht als orakelhaften Fingerzeig Gottes sehen. Trotzdem spürte ich eine wachsende Unruhe in mir, als er durch die sturmgepeitschte See von Kap Horn fuhr und sich an der Westküste des Kontinentes Peru näherte.
„Brüder und Schwestern“, rief er, als er im Hafen von Lima vor Anker gegangen war, „so wie Jona vor dem Herrn auf hoher See geflohen war, so suchte auch ich mein Heil in den Versuchungen der Welt. Bei einem alten Schamanen ließ ich mir die Zukunft deuten. Wir haben die Ahnen befragt. Und von diesem Tag an, das könnt ihr mir glauben, ging es bergab mit mir.“
Er blickte vielsagend in die Runde, niemand wagte auch nur, sich zu räuspern. Bei Bruder Seidler konnte ich förmlich erkennen, wie ihm die Haare zu Berge standen. Was folgte, war eine kurze Karriere als Drogenkurier. Er erzählte vom Hochland der Anden und vom Urwald des Amazonas, von Scharmützeln mit dem Militär, mit der Drogenmafia und mit den Guerilleros. Die Welt war ein einziger Sündenpfuhl, und Peru schien mir im Augenblick das Zentrum davon zu sein. Dieser Moment an jenem Sonntagmorgen war sicher mein moralischer Tiefpunkt vor unserer Adoption. Ich war drauf und dran, eines meiner Streitgespräche mit Jesus anzuzetteln. Vorige Woche hatten Judith und ich noch gelacht, als meine Mutter mit sorgenvoller Miene von ihren Ängsten erzählte. Und jetzt? Jetzt saß ich hier mit feuchten Augen und sah uns gefangen im Dickicht aller südamerikanischen Drogenmafia- und Untergrundkämpfer, bedroht von muskelbepackten, tätowierten Kleiderschränken.
Irgendwann war die Predigt doch noch zu Ende. Das Schlusslied wurde heute nicht aus unserem Gesangbuch angestimmt, sondern von den ausgelegten Liederblättern.
„Leuchtend strahlt des Vaters Gnade aus dem obern Heimatland“, schmetterte uns der Prediger entgegen, als gelte es, den gesamten Tingeltangel der Reeperbahn zu übertönen, „doch uns hat er anvertrauet Rettungslichter längs dem Strand.“
Die getragene Melodie bewegte sich wie schwerer Seegang durch unseren Gemeindesaal. Spätestens beim Refrain zeigte sich, dass dieses alte Erweckungslied bei den älteren Leuten noch in guter Erinnerung war. „Lasst die Küstenfeuer brennen, lasst sie leuchten weit hinaus“, brandete es über unsere Köpfe hinweg, „denn sie zeigen manchem Schiffer sicherlich den Weg nach Haus.“
Selbst unsere Orgel schien ihren Klang verändert zu haben. Sie jammerte wie ein altersschwaches Harmonium im Sturmwind des Ozeans. „Dunkel ist die Nacht der Sünde, schaurig klingt der Wogen Lied“, unwillkürlich griff ich nach Judiths Hand, „manches Auge sucht voll Sehnsucht, ob’s am Strande Lichter sieht.“
Dieser Gottesdienst war für die meisten von uns recht ungewöhnlich und bewegend gewesen. Als wir uns schließlich nach dem Segenswort zwischen Büchertisch und Kaffeetafel verteilten, kam unser Prediger Bödeker auf uns zu.
„Ich habe die ganze Zeit an Sie denken müssen“, sprach er uns an. „Hätte ich geahnt, dass die Predigt so dramatisch von Südamerika handelt, hätte ich den Bruder an einem anderen Sonntag eingeladen. Ich hoffe, seine Erzählungen haben Sie nicht beunruhigt.“
„Oh nein, keineswegs“, sagte ich, „ich glaube kaum, dass man seine Erlebnisse mit unserer Reise vergleichen kann.“
Judith blitzte mich von der Seite an; natürlich hatte sie meine Lüge durchschaut.
„Ich glaube, Achim ist so überaus gelassen, weil wir auf unserer Fahrt ja unter dem Schutz Gottes stehen.“
Ja unter dem Schutz Gottes und unter dem Schutz der deutschen Botschaft, wie Seidler gesagt hatte, was konnte da noch schief gehen? Jetzt stellte sich auch Bruder Ernst Mahler zu uns. Er lächelte verschmitzt und sah uns mit leuchtenden Augen an.
„Man möchte am liebsten mitfahren mit unseren beiden Weltenbummlern“, sagte er dann zu Bödeker gewandt, „aber in gut fünf Wochen sind sie ja schon wieder da. Eigentlich ist es nur eine kurze Stippvisite.“
Wir saßen später noch mit Bödeker in einer stillen Ecke des Gemeindesaales, wo er mit uns für unsere kurze Stippvisite betete. Es war erstaunlich, aber noch nie hatte mir ein Segenswort von ihm so gut getan.
Wie sich unsere Gemeinde mit hartgesottenen Kämpfern füllt und eine Detonation uns im Dunkeln stehen lässt
Zu dritt saßen wir im Flughafenkaffee. Nach dem Einchecken blieb uns noch etwas Zeit zum Abschiednehmen von Heinz Reismüller, der uns nach Frankfurt gebracht hatte. Während ich versuchte, an der lauwarmen Kaffeetasse meine Finger zu wärmen, erzählte Judith zum hundertsten Mal unseren geplanten Reiseverlauf.
„In Lima werden wir sofort am Flughafen erwartet. Eigentlich ist alles perfekt organisiert. Herr Paulmann, du weißt schon, dieser Missionar, von dem ich erzählt habe, holt uns ab. Für zwei Tage werden wir bei ihm wohnen, bis unser Flug nach Cajamarca ins Hochland geht. Man könnte auch mit dem Bus ins Hochland fahren. Aber sechzehn Stunden Schotterpiste, da sind wir froh, dass Cajamarca ebenso mit dem Flugzeug erreichbar ist. Und dort werden wir auch abgeholt. Warte, ich habe ein Foto von dieser Christa-Maria Stark eingesteckt.“
Judith kramte in ihrer Handtasche, diesem unergründlichen Depot von weiblichem Chaos. Dann zog sie einen mehrfach zusammengeknickten Handzettel heraus.
„Hier, das ist die Frau“, sagte sie und zeigte auf ein kleines Bild. „Ihr habt ja mitbekommen, wie sie uns damals angerufen hat. Vor etwa zehn Jahren ist sie als Entwicklungshelferin nach Peru gegangen. Vorher war sie Sonderschullehrerin in Bethel, das ist diese bekannte Behinderteneinrichtung bei Bielefeld, und jetzt leitet sie eine Sonderschule in Peru. Bei ihr werden wir etwa vier Wochen wohnen und den Papierkram abwickeln.“
Während Judith erzählenderweise schon mit dem Kind im Arm vor den peruanischen Behörden stand, wanderten meine Gedanken zurück. Vor Wochen schon, als unser Flugtermin feststand, hatte ich nach einer Weissagung Gottes gefahndet. Natürlich, alle unsere Wege liegen in Gottes Hand, das wissen wir. Aber man wäre ja doch froh, wenn man auch etwas Schriftliches in den Händen hätte. So kam ich auf den Gedanken, dass Gott mir in unserem Losungsheft eine Nachricht zukommen lassen könnte. Unter dem Datum unserer Abreise könnte Gott mir doch endlich schwarz auf weiß die ersehnte Zusage geben, dass alles gut ausgehen würde. Große Männer der Bibel hatten Verheißungen bekommen. Abraham hatte Nachwuchs versprochen bekommen wie Sand am Meer und wie Sterne am Himmel. Was war dagegen unsere läppische Stippvisite? Schließlich brauchte ich keine Prophetie über die mir nachfolgenden Generationen meiner Kinder und Kindeskinder, sondern nur ein kleines, aufmunterndes Wort für die nächsten Wochen.
Also begann ich, im Losungsheft langsam vorzublättern. Nun hatte ich dieses kleine Büchlein ja fast täglich in der Hand gehabt, oft genug mit einer Kaffeetasse in der anderen Hand und mit den Gedanken bei der Reklamation von gestern, die es heute zu klären galt. Aber diesmal erschienen mir die gedruckten Bibelverse mehr zu sein als ein paar Sprüche, die ich an der ersten Ampel auf dem Weg zur Arbeit schon wieder vergessen hatte. Was gab es da für schöne Worte. Hier zum Beispiel: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Das war ja schon fast ein Freibrief für die Erfüllung meiner Wünsche. Oder hier, noch besser: „Alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen.“
Natürlich wusste ich aus vielfältiger Erfahrung, dass mit diesen Bibelstellen irgendwas nicht stimmte. Zumindest bei mir hatte das oft genug nicht so einfach funktioniert, wie es da geschrieben stand. Hätte eine der beiden Stellen unter dem Datum unserer Abreise gestanden, dann hätte ich mal wieder mit mir kämpfen müssen, wie wörtlich ich so einen Satz nehmen darf. Aber dann blätterte ich um und las unter dem heutigen Tag: „Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ Ich war etwas hin- und hergerissen. Sollte das ein Trost sein? Wusste ich jetzt mehr als vorher? Zumindest konnte ich davon ausgehen, dass mein ganzes sorgenvolles Gerede irgendwo da oben ankommen würde. Aber eine Zusage über den Verlauf unserer Reise hatte ich natürlich nicht.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Judith und Heinz aufstanden. „Wir müssen los“, sagte Judith, „sonst geht der Flieger ohne uns.“ Jetzt war es endlich soweit, die Warterei hatte ein Ende.
Unsere Reise über den Atlantik sollte etwa 20 Stunden dauern. Zwischenstopps hatten wir in Madrid, San Juan und Quito. Dabei konnten wir die Uhren um sechs Stunden zurückstellen. Nach einer endlos langen Nacht in den engen Sitzen war der Blick auf das Morgenrot am Himmel wie eine Erlösung. Wie war das noch mit den „Flügeln der Morgenröte“? Könnte es sein, dass der Schreiber dieses Psalms auch in einem Düsenjet hoch über den Wolken gesessen hatte?
Gegen zehn Uhr morgens standen wir schließlich in der großen Abfertigungshalle des Flughafens in Lima und schauten uns um; wo war Herr Paulmann? Wir waren doch absolut pünktlich, warum stand er nicht mit ausgebreiteten Armen da, um uns in Empfang zu nehmen? Doch bevor ich nervös werden konnte, sah ich ihn zielstrebig aus der Menge heraus auf uns zukommen. Ich hatte ihm als Erkennungszeichen meine orangefarbene, karierte Jacke genannt, ein wahrhaft einzigartiges Merkmal, hatte dabei natürlich vergessen, dass wir vom tiefsten Winter in den tropischen Sommer geflogen sind. Somit hing die Jacke nur noch dekorativ über meinem Arm.
Herr Paulmann erwies sich als routinierter Missionsprofi. Allein wir er uns im Wagen durch die chaotischen Straßen der Stadt chauffierte, war bemerkenswert. Die schwüle Hitze wurde immer unerträglicher. Gelegentlich war die Straße mit tiefen Schlaglöchern garniert.
„Ist das nicht gefährlich?“, fragte ich. „Ich meine, die tiefen Löcher im Asphalt … bei dem Tempo und bei diesem Verkehr.“
„Wieso?“, meinte Herr Paulmann lapidar, „wir kennen die Löcher doch. Da fahren alle drum herum.“
An jeder Kreuzung standen meist jugendliche Verkäufer mit irgendwelchen Waren.
„Wenn ich einmal durch die Stadt fahre“, sagte Herr Paulmann, „kann ich mich mit allem versorgen, was ich zum Leben brauche, von Cola bis zum Motoröl.“
Wir standen wieder an einer Ampel. Ein Junge von etwa zwölf Jahren sprang an unseren Wagen und wischte schnell mit einem nassen Lappen über die Frontscheibe. Dann sah er Herrn Paulmann fragend an. Der zog etwas aus seiner Brusttasche und drückte es ihm wortlos in die Hand. Die Ampel schaltete auf grün, und wir fuhren weiter.
„Ich habe mir angewöhnt“, sagte er, „zu jedem Geldschein ein Traktat mitzugeben – auch eine Möglichkeit, Gottes Wort zu verbreiten. Aber ich sehe, du trägst deine Uhr am rechten Handgelenk. Als Beifahrer solltest du sie links tragen, sonst hast du hier nicht lange Freude daran. Die Versuchung könnte für so einen kleinen Fensterputzer zu groß sein.“
Ein Wagen kam aus einer Seitenstraße und nahm uns die Vorfahrt, irgend so ein Uralt-Straßenkreuzer, der noch von Bonnie und Clyde durchlöchert worden war. Herr Paulmann rief etwas Spanisches durch das offene Fenster.
„Der Verkehr ist das Anstrengendste hier“, fuhr er fort, „die allererste Qualifikation als Missionar in Lima ist ein nervenstarker Fahrstil. Wenn man das schafft, schafft man den Rest auch.“
An etlichen Stellen in der Stadt fielen mir bewaffnete Militärposten auf. Herr Paulmann bemerkte meinen Blick. „Das geht leider nicht anders. Von der Bank bis zum Supermarkt muss alles bewacht werden. Nachts haben wir übrigens Ausgangsperre. Ich nehme an, ihr habt vom Leuchtenden Pfad gehört, oder?“
Wir nickten still. Herr Paulmann schob das Bündel Geldscheine zurück, das er gerade halb aus der Brusttasche herausgezogen hatte. „Macht euch keine falschen Vorstellungen. Mit dem Geld hier könnte man noch nicht mal essen gehen.“
„Sieht aber nach viel aus“, wandte Judith ein.
„Kann schon sein. Aber das hier ist unsere alte Währung“, er gab uns einen zerfledderten Schein, der sich schon beim Ansehen auflösen wollte. „Das sind 1000 Soles, umgerechnet etwa 10 Pfennig. Man ist manchmal geneigt, so ein Bündel Geldscheine nicht mehr zu zählen, sondern nur noch zu wiegen. Unsere neue Währung ist der Inti; mal sehen, wie lange der hält. Aber unsere eigentliche Währung ist der Dollar. Ihr habt ja sicher auch Dollars mitgebracht und keine Intis, oder?“
Wieder nickten wir still, während Herr Paulmann schimpfend einem mit Bananen beladenen Lastenfahrrad auswich. Endlich bogen wir in eine Auffahrt ein.
„Da wären wir“, sagte er, als er vor seinem Haus den Wagen abstellte. Die Straße machte einen gepflegten Eindruck, ein wenig erinnerte mich alles an unseren letzten Spanienurlaub. Doch schon wieder wurde unser Weltbild zurechtgerückt.
„Seht ihr die hohen Mauern um jedes Grundstück? Oben drauf sind sie alle mit Glasscherben garniert. Außerdem werdet ihr kein ebenerdiges Fenster finden, das nicht vergittert ist. Vor ein paar Wochen ist unser Ältester auf offener Straße überfallen worden. Wir sind froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.“
Am Ende des Tages saßen Judith und ich am offenen Fenster unseres Gästezimmers und sahen auf die nächtliche Straße. Es war kurz nach zwölf. Gerade hatte die Ausgangssperre begonnen. Der vorhin noch pausenlos lärmende Straßenverkehr war verstummt. Nur ein einsamer Militärwagen patrouillierte vorbei. Vielleicht konnte jetzt endlich die ersehnte Nachtruhe beginnen. Morgen sollte unser Flug nach Cajamarca ins Hochland gehen. Nachdem ich mich lange genug im Bett hin und her gewälzt hatte, fiel ich in einen unruhigen Schlaf ...
Ich war zu Hause. Judith und ich wollten gerade zum Gottesdienst fahren. Doch als wir aus der Haustür traten, stand auf der Straße ein amerikanischer Straßenkreuzer mit laufendem Motor, die gesamte Seitenfront von Einschüssen durchsiebt. Ein verwegener Pistolero mit umgehängtem Patronengürtel auf der Schulter saß am Steuer, ein anderer hielt die Tür zum Fond auf und rief: „Pronto, pronto!“ Wir sprangen schnell in den Wagen, und mit quietschenden Reifen rasten wir los. Die Fahrt durch die Stadt war ein wahrer Albtraum. Keine rote Ampel konnte uns aufhalten. Ich wollte nach Judiths Hand greifen, doch ich musste feststellen, dass sie gar nicht neben mir saß. Ich war eingerahmt von zwei finster dreinblickenden Kämpfern. Direkt vor der Tür unseres Gemeindehauses blieben wir mit den obligatorisch quietschenden Reifen stehen. Die beiden zerrten mich aus dem Wagen, und wir rannten im Sturmschritt in den Versammlungsraum. Die Stühle waren besetzt von peruanischen Militärs, alle bis an die Zähne bewaffnet. Ich zwängte mich in eine Reihe und nahm Platz. Der Gottesdienst hatte begonnen. Die Orgel stimmte gerade ein Lied an, und in tiefem Bass dröhnten hundertfach die rauen Männerstimmen über mich hinweg: „Dunkel ist die Nacht der Sünde, schaurig klingt der Wogen Lied ...“ Ich rutschte immer tiefer in meinen Stuhl.
Durch eine erschütternde Detonation wurde ich aus meinem Traum gerissen ... Oder saß ich noch in unserer Gemeinde? Nein, ich lag hier in einem fremden Bett und konnte schemenhaft das nächtliche Fenster erkennen.
„Was war das?“, hörte ich Judiths Stimme.
„Ich weiß nicht, ich mache mal Licht.“
Ich griff nach der Nachttischlampe. Doch als ich den Schalter hin und her knipste, tat sich nichts.
„Meine Lampe tut’s nicht, versuch’s mal bei dir.“
Ich erhob mich und tastete mich zum Fenster. Auch draußen sah alles ungewöhnlich dunkel aus.
„Vielleicht ein Stromausfall“, meinte Judith.
Die Tür öffnete sich, und der Schein einer Taschenlampe kam ins Zimmer. „Seid ihr auch wach geworden?“, fragte Herr Paulmann.
„Ja, was ist passiert?“
„Das Umspannwerk, wahrscheinlich hat es mal wieder einen Bombenanschlag auf das Umspannwerk gegeben. Voriges Jahr hatten wir das schon einmal, dabei sind sogar zwei Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Wir wohnen einfach zu dicht dran. Macht euch keine Sorgen, morgen haben wir wieder Strom.“
Damit verschwand der Schein der Taschenlampe, und die Tür ging wieder zu.
„Da hörst du es“, sagte Judith. „Leg dich schlafen und mach dir keine Sorgen.“
Ich stand noch am Fenster und schaute auf die dunkle Straße. Zwei Militärwagen rasten vorbei. Was für ein Land! In dieser Nacht, nein, in diesem Moment hatte ich etwas begriffen. Es war so etwas wie Dankbarkeit für unser eigenes Land. Nein, es hatte nichts mit Nationalstolz zu tun, aber ich sah plötzlich all diese pseudopolitischen Gespräche mit Nachbarn und Arbeitskollegen vor mir. Na, und dann natürlich mein Onkel Ludger. „Die da oben ...“, so fing bei ihm jeder zweite Satz an, und dann wurden die Zustände in Deutschland niedergemacht. „Die da oben arbeiten ja doch nur in die eigene Tasche. Die da oben, die kannst du in’n Sack stecken und draufhauen, du triffst immer den richtigen!“
Und dann fielen mir unsere Gebete zu Hause und in der Gemeinde ein. Wenn alle persönlichen und gemeinschaftlichen Anliegen durch waren, wenn an alle Kranken gedacht worden war, wenn für Segen und Erweckung gebetet worden war, dann kam auch noch unser Land und die Regierung dran. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass sich die Gebetsgemeinschaft endlich dem Ende näherte. Meistens war es Bruder Seidler, der um die rechte Erkenntnis und um die Führung im Glauben für die Regierenden in Stadt und Land und so weiter, und so weiter …
An dieser Stelle hatte ich oft einen verstohlenen Blick auf die Uhr gewagt. Doch jetzt war alles anders. Ich stand hier am Fenster und sah hinaus in die finstere Nacht dieses geschwundenen Landes.
Wie wir die Hitliste der biblischen Namen durchforsten und unserem Infante innominado begegnen
Am nächsten Morgen ging es weiter. Herr Paulmann hatte uns zum Flughafen gebracht, in etwa vier Wochen würden wir auf dem Rückweg wieder zu Gast in seinem Hause sein. Jetzt saßen wir in einer alten Propellermaschine, die uns ins Hochland bringen sollte. Zunächst flogen wir noch am schmalen Küstenstreifen entlang nach Norden. Nach einer kurzen Zwischenlandung auf einer einsamen Wüstenpiste drehte der Flieger nach Osten und stieg die Berggipfel der Anden empor. Der Flug dauerte knapp zwei Stunden, dann landete die Maschine auf der Rollbahn von Cajamarca, einer Provinzhauptstadt im Norden Perus, 2750 Meter hoch über dem Meeresspiegel.
Schon beim Aussteigen empfand ich das kühlere Klima des Hochlandes. Obwohl die Sonne senkrecht über uns stand, waren die Temperaturen geradezu angenehm, verglichen mit der schwülen Hitze in Lima. Und da stand Christa-Maria Stark; sie empfing uns mit offenen Armen. Vom ersten Moment an fühlten wir uns wohl in ihrer Gegenwart, so als würden wir uns schon lange kennen. In ihrem alten, himmelblauen Käfer fuhren wir zu ihr nach Hause.
Der Eindruck, den diese Stadt auf mich machte, war mit Lima nicht zu vergleichen. Hier war alles kleiner und einfacher, kein Haus ging über drei Stockwerke hinaus. Es gab keinen quälend stickigen Berufsverkehr, stattdessen liefen Indios mit Strohhüten auf den Straßen. Und noch etwas fiel angenehm auf. Es gab keine Militärposten an jeder Straßenecke.
„Euer Junge ist jetzt schon drei Wochen alt“, plapperte Christa munter drauflos, „ich kann euch sagen, der hält uns alle ganz schön auf Trab. Im Moment schläft er bei Senora Lucy, das ist meine muchacha, also das Hausmädchen. Die fängt schon an, sich an den Kleinen zu gewöhnen. Also seht zu, dass ihr einen guten Eindruck bei ihr macht“, sie lachte kurz auf, „sonst will sie ihn nachher noch selber behalten.“
Die so lang erwartete Begegnung stand also kurz bevor. Wäre das nicht der perfekte Stoff für einen bewegenden Schicksalsroman gewesen? Von des Schöpfers Hand gelenkt, kreuzen sich unser aller Lebenswege … Es ist die große Weichenstellung auf der Lebensbahn dieses kleinen Erdenbürgers ... So oder ähnlich hätte man diese Begegnung kommentieren können. Doch stattdessen kam mir die blöde Bemerkung von unserem Missionsspezialisten Ernst Mahler in den Kopf: „Die Indiofrauen haben alle krumme Beine.“
Es war unfassbar. In diesem schicksalhaften Augenblick hatte ich nichts Besseres zu tun, als über eine mögliche orthopädische Anomalie unseres Kindes nachzudenken. Hatten Reismüllers bei ihrer Jüngsten nicht auch ein Jahr lang eine Spreitzhose ...?
„Habt Ihr schon einen Namen für den Kleinen?“, fragte Christa.
„Mario“, sagte Judith, „wir wollen ihn Mario nennen.“
Christa lachte. „Dann wissen wir endlich, wie wir ihn ansprechen sollen. Wisst ihr, wie wir ihn bisher genannt haben? Infante innominado. Das bedeutet so viel wie ‚namenloses Kind’, so wird er nämlich bisher in den Papieren aufgeführt. Es wird Zeit, dass aus dem infante innominado endlich euer Mario wird, schließlich ist er schon drei Wochen auf der Welt!“
Der Name Mario war eine schwere Geburt gewesen. Schließlich standen biblische Namen hoch im Kurs in unserer Gemeinde. Es gab schon allein zwei Rahels und zwei Rebekkas bei uns, dazu noch Hanna, Esther und Deborah. Die Jungs waren dagegen biblisch etwas unterbesetzt. Es gab nur Simon und Joel, Lukas und Micha. Somit hätten für uns noch Thomas, Andreas, Johannes und unzählige andere weniger bekannte Namen zur Verfügung gestanden.
„Mario bedeutet nämlich ...“, meinte ich, doch das interessierte niemanden mehr, denn Christa bremste abrupt.
„Wir sind da.“ Sie deutete auf das vor uns liegende Gebäude, ein schlichtes, zweigeschossiges Haus mit kleinen Fenstern, eingerahmt von noch schlichteren Häusern in einer Seitenstraße. Nach Durchqueren eines schmalen Flures standen wir im sonnigen Innenhof, von wo aus fast alle Zimmer zu erreichen waren. Eine Treppe führte auf eine hölzerne Balustrade, die den Hof im ersten Stock umrundete. Ich erinnerte mich an einen Asterixband, wo ich diesen Baustil schon mal gesehen hatte. War er da nicht mit Obelix in Rom gewesen? Zu Hause müsste ich dringend mal nachsehen, in welchem Heft das vorkam. – Erstaunlich, dass mir in diesem feierlichen Augenblick keine gescheiteren Gedanken durch den Kopf gingen ...
Doch da kam uns schon besagte Senora Lucy mit einem Säugling auf dem Arm entgegen. Sie lächelte uns an und sagte etwas Spanisches, Christa sagte etwas Spanisches, und das Kind gab unbekannte Geräusche von sich. Unser Kind … zum ersten Mal erblickten wir unser Kind. Lucy hielt Judith den Kleinen entgegen, die ließ vor Entzückung ihre Handtasche fallen und drückte ihn vorsichtig an sich. Mein Fotoapparat, wo hatte ich nur meinen Fotoapparat! Während ich nervös in meiner Reisetasche kramte, fing der kleine namenlose Erdenbürger an zu quengeln. Alle Umstehenden gerieten ebenfalls in Verzückung. Christas Mann Santiago kam auch gerade in den Hof, um uns zu begrüßen. Ein Schwall von Herzlichkeiten wurde ausgetauscht, als ich endlich meine Kamera hervorzog. Dem Kleinen war der Trubel wohl doch nicht ganz geheuer. So zog er die Mundwinkel herunter, um kurz darauf mit weit aufgerissenem Mund uns alle zu übertönen. Genau in diesem Augenblick drückte ich ab, ein wahrhaft bewegendes Bild unserer ersten Begegnung.
Wie wir unseren persönlichen Flohzirkus bekommen und ich eine überirdische Begegnung habe
Am nächsten Tag begann unser Behörden-Marathon. Wir mussten erst einmal zum Gericht, unseren Antrag stellen und die Papiere abgeben. Christa, Judith und ich saßen am wackeligen Holztisch des Gerichtssekretärs. Wir hatten ihm gerade unsere mühsam erarbeitete Mappe mit allen Adoptionspapieren hinübergeschoben, und nun blätterte er mit versunkenem Kopf darin und machte hier und da mit einem roten Stift am Rand Notizen oder kreuzte die eine oder andere Stelle an, ohne aufzublicken. Christa gab gelegentlich auf Spanisch einen Kommentar, den er mit einem kurzen „Hm“ quittierte.
Je länger diese Situation dauerte, umso nervöser wurde ich. Warum malte dieser Kerl so viel in den Papieren herum? War irgendetwas nicht in Ordnung? Fehlte vielleicht noch was? Hatte das Konsulat in Düsseldorf einen Beglaubigungsstempel vergessen? Selbst Christa machte einen angespannten Eindruck. Von ihren Bemerkungen verstand ich leider nichts, mein Schnellkurs „Spanisch in 30 Tagen“ hatte doch nicht den erhofften Erfolg gebracht.
„Hör mir mal gut zu, Alter. Wir sind über 10000 Kilometer rund um den Globus geflogen, jetzt mach hier keine Krise wegen eines fehlenden Stempels.“ So ähnlich hätte ich ihm gerne was auf Spanisch gesagt, doch mein Wortschatz beschränkte sich leider auf „Hasta la vista“ und „Vamos a la playa“.
Die Durchsicht unserer Akten dauerte an. Ein paar Indiofrauen kamen herein und blieben wartend an der Tür stehen. Alle hatten ein Bündel auf dem Rücken, über dessen Inhalt ich mir nicht im Klaren war. Es war wohl weniger der Einkauf aus dem Supermarkt, den sie da mit sich trugen, sondern eher ein Haufen Lamawolle, der von ihnen auf einer Spindel zum Faden gedreht wurde. Nein, bei einer Frau war es doch keine Lamawolle, denn plötzlich tropfte es kräftig aus ihrem Bündel. Auf dem Fußboden bildete sich eine gelbliche Pfütze. Hastig verwischte sie mit ihrem nackten Fuß die Flüssigkeit, bis alles in die Holzdielen eingezogen war.
Unser Beamter war gerade bei meinem psychiatrischen Gutachten angekommen. Hoffentlich enthielt die spanische Übersetzung keine missverständlichen Formulierungen. Ich schaute mich wieder etwas um. Da hinten in einer dunklen Ecke des Büros saß ein Gerichtsdiener. Wie ein Schneider hantierte er mit Nadel und Faden. Zu seiner Linken türmten sich Stapel von Papieren und Formularen, zu seiner Rechten legte er die zusammengebundenen Akten ab.
„Haben die denn keine Aktenordner oder Schnellhefter?“, dachte ich noch, da sah ich, wie unser Beamter, der seine Durchsicht wohl gerade beendet hatte, alle Unterlagen aus meiner Plastikmappe herausnahm. Die Mappe verschwand in der Schublade seines Tisches, dann stand er auf und sagte was zu Christa. Er schüttelte uns die Hände, sein Gesicht wirkte freundlich, auch Christa sah entspannt aus. Wie es schien, war unser Antrag auf den Weg gebracht. In diesem Moment drückte Christa ihm einige Geldscheine in die Hand. Wir hatten sie vorher gefragt, ob es sinnvoll sein könnte, den Lauf der Dinge ein wenig zu beschleunigen. Schließlich hatten wir für die ganze Adoption maximal fünf Wochen Zeit. Ein verschlafener Beamter hätte unseren ganzen Zeitplan ruinieren können, und so hatten wir es in Christas Ermessen gestellt, bei Gelegenheit etwas Geld zwischen die Antragsformulare zu legen.
Als wir das Gericht verließen, verspürte ich leichte Krämpfe im Magen. Ob das die Aufregung war? Nein, es war nicht die Aufregung, wie sich herausstellte, sondern der Beginn einer Darmerkrankung, die mich für drei Tage heimsuchen sollte.
In der folgenden Nacht entleerte sich mein Körper gänzlich – sowohl nach oben heraus als auch nach unten. Das Fieber brachte mich zum Fantasieren. Mein Zustand hatte sich innerhalb weniger Stunden dem Tode genähert, ob die anderen das auch so sahen, war mir nicht ganz klar. Der Weg zur Toilette war ziemlich problematisch. Ich musste über die Dachterrasse, dann eine schmale, steile Treppe hinunter, den Innenhof überqueren, und dann am Ende des Flurs ... Meistens schaffte ich den Weg im schwachen Licht einer Taschenlampe, aber eben nur meistens. Meine Füße und Beine waren übersät von juckenden Einstichen. Nein, es waren keine Einstiche, es waren Bisse. Flöhe stechen nicht, sie beißen. Christa wollte gleich morgen etwas gegen die Flöhe in unserem Zimmer besorgen. So lag ich auf meinem Nachtlager in dieser endlosen, schwarzen Nacht. Mario war nach drei Stunden Quengelei endlich eingeschlafen in seiner knallroten Plastikwanne, und auch Judiths Atem neben mir wurde ruhig und gleichmäßig. Durch die kleine Fensteröffnung fiel ein schwacher Lichtschein auf die gegenüberliegende Wand. An einem Nagel war dort eine Spruchkarte aufgehängt: „Der Herr ist meine Hirte“, dazu ein Foto mit einem Hirten, so einem richtig malerischen Hirten mit Bart und Filzhut, der ein Lämmlein dekorativ auf dem Arm trug.
„Auch nicht gerade neu, der Spruch“, dachte ich, als ich mich mit schmerzenden Gliedern und dröhnendem Kopf zur anderen Seite wälzte. Ich griff unter der Decke nach meinen Füßen und zog mir die Socken runter. Wir waren extra mit Socken ins Bett gegangen in der Hoffnung, es würde die Flöhe zurückhalten, aber wahrscheinlich fühlten die sich gerade in den engen Maschen der Wolle pudelwohl.
„Jesus“, begann ich mein Klagelied, „das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. Wir müssen so viel erledigen. Ich kann mir das überhaupt nicht leisten, gerade jetzt hier herumzuliegen. Außerdem wird mein Kopf im Laufe der Nacht platzen bei diesen Kopfschmerzen.“
„Fast jeder, der hierher kommt, muss da durch“, sagte Jesus, „du solltest froh sein, wenn du es frühzeitig hinter dir hast. Und so ein einfacher Darmkatarrh bringt dich wirklich nicht um.“
„Bist du sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher.“
„Aber Jesus, sieh mal, warum ist nur alles so mühsam? Ich bin ja schon froh, dass dieser Bürokrat heute Nachmittag unsere Papiere angenommen hat. War auch eine Heidenarbeit gewesen, die Adoptionsakte zusammenzustellen. Aber wir haben einen engen Zeitrahmen für die nächsten Wochen. Und da lässt du mich hier mit meinen Schmerzen rumliegen?“
„Glaubst du wirklich“, sagte Jesus, „du wärst mit deinen Papieren bis hierher gekommen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre?“
Ich hatte das Gefühl, als wollte Jesus mich nicht verstehen. Jetzt fehlte nur noch, dass er mich mit der Ich-bin-der-gute-Hirte-Masche besänftigen würde.
„Jesus, ich will ja nicht undankbar sein, aber im Moment ist einfach alles nur Scheiße ...“ Ich gab mir keine Mühe mehr, meine Empfindungen in feierliche Worte zu kleiden … „Und dann sieh dir dieses Land an, es macht mir Angst, verstehst du? Wie können die Menschen hier leben in diesem Dreck, in dieser Armut?“
Als Jesus mir antwortete, war mir, als könnte ich ihn sehen. Er sah tatsächlich so aus, wie auf diesen Heiligenbildchen von früher, mit einem Leinengewand, langen Haaren und gütigen Augen.
„Es stimmt, das Leid ist groß in diesem Land, dabei hast du noch gar nicht viel gesehen. Aber warum siehst du nicht auch die andere Seite. Hast du gar nicht die lachenden Kinder aus Christas Schule bemerkt? Auf dem Weg zum Gericht sind sie euch begegnet.“
„Ja ja, die Kinder, ich kann mich schwach erinnern.“ Ich spürte in mir Ohnmacht und Verzweiflung. Er musste mich doch verstehen, er konnte mir doch nicht nur mit diesen drei Kindern von heute Nachmittag kommen.
„Und außerdem“, sagte Jesus, „kannst du dazu beitragen, dass es besser wird, spätestens wenn ihr zurück seid. Du wirst Christas Kontonummer schon noch bekommen.“
Er musste wohl gemerkt haben, dass mich seine Antworten nicht richtig befriedigten. Denn plötzlich stand er auf, ging zwei Schritte auf mich zu und sagte: „Komm mit, wir haben genug geredet.“
Auch ich stand auf, und wir beide gingen ein Stück nebeneinander her – nein, nicht ganz, er war eine halbe Schrittlänge vor mir. Ich konnte ihn von der Seite beobachten. Er machte gleichmäßige, weite Schritte, sein Gewand bewegte sich leicht im Wind. Mit erhobenem Haupt blickte er nach vorn, gerade so, als würde er einen Punkt in weiter Ferne fixieren. Obwohl er sich weder zu mir umdrehte noch mit mir sprach, spürte ich eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Wir kamen an eine verwitterte Mauer. Sie war größtenteils zerfallen, einige große roh behauene Steine lagen wie eine Sitzgruppe daneben. Jesus nahm Platz und deutete mir mit einer stummen Handbewegung an, mich neben ihn zu setzen.
Wir befanden uns auf einer Anhöhe, vor uns erstreckte sich das Land. Die weite, fruchtbare Talebene ging bis zum Horizont, wo im Dunst, ganz weit hinten, eine Bergkette bläulich schimmerte. Die Sonne war gerade eine Handbreit über den Bergen hinter ein paar Wolken verschwunden. Der ganze Himmel war in leuchtendes Rot getaucht. Beim Blick zur Seite entdeckte ich eine Schafherde. Die Tiere standen ruhig beieinander, einige lösten sich von der Gruppe und kamen gemächlich auf uns zu. Wie zur Abrundung dieses friedlichen Bildes drehten einige Schwalben über uns ihre kunstvollen Kreise. Ich sah Jesus kurz von der Seite an. Sein Gesicht leuchtete im Abendrot, sein Blick ruhte irgendwo am Horizont. Ich überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte, ob ich meine ganzen Fragen und Zweifel mit ihm bereden sollte, wir hätten jetzt sicher genug Zeit für alles. Aber nein, das war nicht der Moment zum Reden, das war der Moment zum Beisammensein. Wir saßen schweigend nebeneinander, bis die Sonne hinter den Bergen unterging und sich das Rot des Himmels in Violett verwandelte. Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht sogar mehr. Jesus stand plötzlich auf.
„Es ist gut jetzt“, sagte er, „wir haben beide noch zu tun.“
Dann wandte er sich um und ging auf die Schafherde zu. Ich sah ihm nach, wie er sich einen Weg bahnte durch die Menge der Tiere. Und sie alle, der Hirte mit seinen Schafen, sie entfernten sich langsam und gingen hinab ins Tal.
Ein lauter Schrei schreckte mich auf. Judith hockte neben der roten Plastikwanne, wo sie Mario die Windel wechselte. Christa stand daneben und lachte mich an.
„Na wunderbar, dass du so lange geschlafen hast. Und heute nimmst du mal wieder etwas Flüssigkeit zu dir, sonst hau’ ich über dir einen Nagel in die Wand und häng’ eine Infusion dran.“
Wie sechs Meerschweinchen auf die Wäscheleine kommen und uns ein Bananenverkäufer in den Ohren liegt
Wir lebten uns ein – trotz aller widrigen Umstände, trotz Darmkatarrh, der auch Judith heimsuchte, und trotz der Anspannung, ob wir die Adoption im geplanten Zeitrahmen schaffen würden. Das lag sicher auch an Christas unkomplizierter Art und an der südländischen Atmosphäre in ihrem Haus.
Immer war etwas los. Ob nun ein Esel mit Grünfutter für die Meerschweinchen vor der Tür stand oder ein fahrender Händler seine geknüpften Wandbehänge ausbreitete. Ob Lucys Kinder von uns deutsche Wörter lernen wollten oder Judith sich bei allen Hausbewohnern als Friseurin betätigte, langweilig wurde es nie. Außerdem hatten wir fast jeden Tag einen neuen Behördengang zu absolvieren, und fast jeder Tag hatte seine kleinen Überraschungen. Da war zum Beispiel der Kinderarzt, der seine Praxis von oben bis unten mit Playboy-Fotos tapeziert hatte. Marios medizinische Untersuchung fiel dafür umso oberflächlicher aus. Da war zum Beispiel unser Anwalt in seiner Gemeinschaftspraxis. Zwei alte Schreibtische in einer Bretterbude, dazu eine Schreibmaschine, auf der Hemingway wahrscheinlich noch „Der alte Mann und das Meer“ getippt hatte. Und da war die Polizeistation, wo von mir in bester Krimimanier sämtliche Fingerabdrücke genommen wurden. Zur Beschleunigung der Formalitäten besorgten wir für den Polizeichef noch einen Stapel Schreibpapier und ein Dutzend Schnellhefter.
Ansonsten bestand unser Tag viel aus Warten. Es gab immer etwas, auf das wir warten mussten ... warten auf den Hausbesuch des Richters, warten auf das OK des Staatsanwaltes, warten auf den Polizeibericht, warten auf die Geburtsurkunden und noch vieles mehr.
Und dann waren da die Menschen aus Cajamarca, die oft bei Christa vor der Tür standen. Irgendwann war sie dazu übergegangen, eine feste Sprechstunde einzurichten, um nicht ständig in ihrer Arbeit unterbrochen zu werden. Jedes Mal stand dann eine kleine Ansammlung von Menschen auf der Straße: Indios mit ihren großen Strohhüten und zerrissenen Hosen, Frauen mit dem obligatorischen Bündel auf dem Rücken und natürlich Kinder, behinderte Kinder aus ihrer Schule oder kranke Kinder, für die man keine Medizin kaufen konnte.
Gerade unterhielt sich Christa mit einer Frau, die ein Geschwür, eine Verwachsung oder etwas Ähnliches im Gesicht hatte. Eine Backe war angeschwollen wie bei einem Hamster, der sich eine Pampelmuse ins Maul gestopft hatte. Ihr Sohn, ein behinderter Junge im Alter von etwa sieben Jahren kam sofort auf uns zugelaufen. Er hatte gesehen, wie ich mit meiner Taschenlampe hantiert hatte. Und während Christa wahrscheinlich mit der Mutter über eine Operation in einem Krankenhaus in Lima sprach, steckten wir uns gegenseitig den Kopf der Taschenlampe in den Mund und bewunderten unsere leuchtenden Backen. Noch niemals zuvor hatte ich ein Kind so fröhlich lachen gesehen.
Lucy kam gerade mit einem Bündel aus der Küche und zwinkerte mir geheimnisvoll zu. Sie ging zur Wäscheleine, öffnete ihr Bündel und hing etwas auf. Sechs kleine ... was war das? ... sorgfältig dicht nebeneinander ... Ich sah genau hin ... Sechs kleine Tierkörper, abgezogen und ausgenommen, das Mittagessen für morgen ... Das waren doch nicht etwa …? Doch sie waren es, die Meerschweinchen, die ich heute früh noch quiekend in der Holzkiste gesehen hatte. Während ich mich entschloss, morgen vegetarisch zu leben, lachte mich schon wieder ein schielendes Kindergesicht mit leuchtenden Backen an.
Auf der anderen Seite des Hofes stand Maria, die Waschfrau. Zweimal in der Woche kam sie, stellte das Waschbrett in den Steintrog und schrubbelte alles durch, was an schmutziger Wäsche so angefallen war. Heute hatte sie ihre kleine Tochter mitgebracht, die daneben stand und ebenfalls schrubbelte. Meistens summte Maria eine sanfte Inkamelodie vor sich hin, doch heute ging das nicht. Aus dem Nachbarhaus hörte man schon seit Stunden ein plärrendes Radio. Ein penetranter Gesang mit näselnder Stimme und stets wiederkehrendem Rhythmus.
„Karneval“, hatte Christa uns erklärt, „wir haben im Moment Karneval, da ist hier alles etwas anders, auch die Musik.“ Dann hatte sie kurz gelacht und gemeint: „Seid froh, dass ihr nichts versteht. So viele unanständige Texte auf einmal sind kaum zu ertragen.“
Der rhythmische Singsang ging also weiter über uns nieder, während von der Straße her ein Bananenverkäufer zu hören war. Diese Straßenverkäufer übertönten alles. Dieser hier hatte sein Lastendreirad mit Bananen vollgepackt. Oben im Gestänge hingen ein Kassettenrekorder und ein Megafon, und seine Musik und seine Ansagen wechselten sich im Zehnsekundentakt ab. Von den Ansagen war das sich ständig wiederholende „bananas, bananas“ unüberhörbar, und seine Musik plärrte so schrill, dass man nicht mal Mozart von Peter Maffay hätte unterscheiden können. Zum Glück fuhr er vorüber, und sein Geschrei verlor sich am Ende der Straße.
Es wurde still, ja es wurde fast still, auch das Radio im Nachbarhaus war verstummt. Dafür konnte ich endlich Marias leisen Gesang hören. Judith hatte sich aus der Küche schon wieder die Schere besorgt und deutete Marias Tochter an, dass sie ihr die Haare schneiden könnte. Es war also ein Tag wie viele andere in Christas Haus.
Ich schloss die Augen und legte den Kopf etwas zurück. Die Sonne stand senkrecht über uns. Mario lag neben mir in seiner knallroten Plastikwanne und schlief, allem Trubel zum Trotz. Ich ließ meine Hand heruntergleiten und berührte mit meinem Zeigefinger seine kleine Hand. Eine Ahnung von Größe überkam mich. Wir wollten schließlich unser Leben mit ihm teilen. Die nächsten 20 Jahre und auch darüber hinaus wollten wir mit ihm verbringen. Wir hatten ihn uns ausgesucht. Nein, das war natürlich Quatsch. Gott hatte ihn ausgesucht. Ich könnte mir ja schon ein paar Gedanken zurechtlegen, die ich nach unserer Rückkehr im Gottesdienst sagen würde. Führung, das wäre das Stichwort ... Lebenswege, die sich kreuzen, und Weichenstellung ... ja, Weichenstellung war gut.
Die Ahnung von Größe in mir wurde noch größer. Warum hatte ich immer so gezweifelt und mit Gott gehadert? Jetzt in diesem Augenblick mit der Sonne im Gesicht und Marios Hand auf meinem Finger war alles so klar und deutlich. Gott hatte dieses Kind für uns ausgesucht. Vielleicht hatte ja auch Mario uns ausgesucht. Vielleicht gab es ja auch so etwas wie ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen der Seelen? Marios Seele hatte schon vor der Geburt Ausschau gehalten nach passenden Eltern, und seine Wahl war auf uns gefallen ... Sicher, es war ein gewagtes Bild, diese Sache mit dem Seelensuchen, aber zumindest verschaffte es mir ein gehöriges Stück Verantwortungsgefühl. Schließlich sollte er in 20 Jahren seine Wahl nicht bereuen müssen.
Meine erhabenen Gefühle sollten aber im Laufe dieser Nacht wieder mal den üblichen Dämpfer kriegen. Schon am Abend kündigte sich bei Judith zum zweiten Mal eine Magen-Darm-Geschichte an. Wir saßen gerade in Christas Wohnzimmer und sahen fern. Da liefen doch tatsächlich im peruanischen Fernsehen Uraltfolgen von „Spiel ohne Grenzen“ mit Camillo Felgen. Ein Hauch von Nostalgie flimmerte da über den Bildschirm, eine Erinnerung aus früher Kindheit, und plötzlich wurde Judith kreideweiß im Gesicht. Ich brachte sie sofort auf unser Zimmer und bereitete die Nacht vor. Der alte Blecheimer an ihr Bett, Mario in seine roten Plastikwanne, die Taschenlampe auf das Nachtschränkchen für Stromausfälle und sonstige Eventualitäten. Alles lag bereit, als ich schließlich das Licht ausknipste.
Doch es sollte eine lange Nacht werden. Mario quengelte vor sich hin, die Nacht war schließlich nicht zum Schlafen da. Judith wälzte sich hin und her, zweimal musste sie nach dem Eimer greifen. Es war bestimmt schon weit nach Mitternacht. Nachdem Mario schon fast eingeschlafen war, schrie er jetzt wieder aus Leibeskräften drauf los. Ein feiner Duft von voller Windel stieg mir in die Nase. Ich machte Licht und stand auf. Das schreiende Kind auf die Kommode, Strampelanzug ausziehen, Luft anhalten, Windel öffnen ... In diesem Moment hörte ich hinter mir Judith stöhnen. Es ging bei ihr zum dritten Mal los. Ich hörte den klappernden Griff des Blecheimers, dann wieder würgende Geräusche. Und während ich in der einen Hand die volle Windel hielt und mit der anderen Marios strampelnde Füße festhielt, fiel mein Blick wieder auf diese Spruchkarte mit dem Bilderbuchhirten. Ob er mich jetzt auch ansprechen würde? Ob er wieder mit mir den Sonnenuntergang angucken wollte? Nein, er stand nur da und sah bedeutungsvoll zu mir herüber. Mir lag eine Bemerkung auf der Zunge: „Jesus, steh nicht so rum, tu lieber mal was.“
Ich weiß nicht mehr, ob ich diesen Gedanken noch in Worten formulierte oder nicht, aber diese schnulzige Karte, dieser schmalzige Blick – und dann dieser Spruch „Mir wird nichts mangeln“ ... Im Moment mangelte es mir am Windeleimer, der gestern noch neben der Kommode gestanden hatte. Diese ganzen Hirtengeschichten konnten mir gestohlen bleiben! Und wie als Antwort auf meine Gedanken ging plötzlich das Licht aus, einer der regelmäßigen Stromausfälle ließ mich ganz einfach im Dunkeln stehen.
Wie ein Amtssiegel zum Schlagzeug wird und uns damit den Heimflug ermöglicht
Diese Nacht mit dem Stromausfall war einer der seelischen Tiefpunkte auf unserer Reise gewesen. Gewiss, es hatte noch mehr Tiefpunkte gegeben, meistens hingen sie mit der zögerlichen Abwicklung unserer Behördengänge zusammen. Und trotzdem, wir hatten es geschafft. Nach genau 24 Tagen konnten wir wieder in die kleine Propellermaschine einsteigen, die uns zurück nach Lima bringen sollte – diesmal zu dritt.
Mario hatte ich mir auf peruanische Weise mit einem Tuch vor den Bauch gebunden, im Koffer steckten die wichtigsten Papiere: ein Satz Geburtsurkunden mit unseren Namen als Eltern, ein Adoptionsbericht des Jugendrichters und eine Ausreisegenehmigung für unseren Sohn. Der Abschied von Christa, Lucy und allen Hausbewohnern, die uns ans Herz gewachsen waren, fiel schwer, aber natürlich zog es uns heimwärts.
In Lima sollten wir noch für ein paar Tage zu Gast bei Familie Paulmann sein. Als letztes Schriftstück fehlte nämlich noch ein Reisepass für Mario, den wir im Innenministerium beantragen mussten. So standen wir schon am nächsten Tag frühmorgens in einer langen Menschenschlange und warteten darauf, dass sich das schwere Eisentor zum Ministerium öffnete. Nach dem kleinstädtischen Leben in Cajamarca mussten wir uns erst wieder an die Verhältnisse in Lima gewöhnen: an die bewaffneten Militärposten an jeder Straßenecke, an das schwülheiße Klima der Küste ... und natürlich an den mörderischen Straßenverkehr. Im Innenhof des Ministeriums gab es eine Baracke mit zwei Schaltern für die Reisepassausgabe. Während wir in der Schlange vor einem dieser Schalter warteten, stieg meine Anspannung wieder. Ob unsere Papiere aus Cajamarca komplett waren? Ob der Staatsbeamte uns da vorne wohlwollend und korrekt abfertigen würde? In vier Tagen ging unser Rückflug, jetzt nur keine Verzögerung mehr. In Gedanken sah ich uns schon zu Hause; zu dritt, als kleine Familie. Ich freute mich schon auf unsere Wohnung, auf meine Pizza Salami und selbst auf den Schnee vor der Haustür. Und in der Gemeinde warteten sie auch schon alle auf uns. Bestimmt wurde jeden Sonntag für uns gebetet. In der Hitliste der Gebetsanliegen standen wir bestimmt weit oben, vielleicht direkt hinter Schwester Wilhelmines Hüftoperation, aber sicherlich noch vor der geplanten Dachsanierung. Eigentlich durfte jetzt nichts mehr schief gehen, Jesus ... nur noch dieser dusselige Reisepass!
Wir mussten uns in den nächsten Tagen noch dreimal an diesem Schalter in die Schlange stellen. Erst fehlten Kopien von den Beglaubigungen, dann Beglaubigungen der Kopien und dann ... ja, dann knallte endlich der Stempel. Es war Musik in unseren Ohren. Noch heute höre ich den Rhythmus des Amtssiegels, wie es getragen aber fest ein Blatt nach dem anderen quittiert. Kein Schlagzeugsolo konnte mich seitdem so in Hochstimmung versetzen.
Für ein Passfoto mussten wir noch in einen kleinen Nebenraum. Ein Fotograf mit einer altertümlichen Plattenkamera deutete mir an, Mario vor ein Schild mit der Passnummer zu halten. Es war wohl etwas umständlich. Irgendwie hielt ich das Kind nicht in der richtigen Position. Sollte die Nummer jetzt über oder unter ihm erscheinen? Das Ganze hatte ohnehin etwas von einer Verbrecherkartei … Der Fotograf gestikulierte nervös herum, ich hob Mario mit ausgestrecktem Arm mal mehr nach rechts oben, dann wieder nach links unten; eine Frau, die ebenfalls auf ein Passfoto wartete, kam mir zu Hilfe. Sie schob mich mit dem Kind ein wenig zur Seite und redete dabei eifrig auf mich und den Fotografen ein. Und Mario? Bis hierher hatte er alles seelenruhig über sich ergehen lassen, doch jetzt wurde ihm das Geschiebe und das Palaver zu viel. Und genauso wie beim Begrüßungsfoto vor fast fünf Wochen verzog er wieder die Mundwinkel und setzte zu einem lauten Geschrei an. Das Foto, das in dieser Sekunde entstand, erinnert mich noch heute an die Aufregung und die Freude jenes Augenblicks. Marios Schrei war wie der erste Schrei des Neugeborenen, der das Licht der Welt erblickt. Und für uns war es die endgültige amtliche Bestätigung, dass wir jetzt ein Kind hatten.
Der Rückflug zwei Tage später kostete zwar unsere letzten körperlichen Reserven, aber keine Übermüdung, kein enger Flugzeugsitz und keine volle Windeltasche konnten unsere Freude und Erleichterung trüben.
Der Empfang am folgenden Sonntag im Gottesdienst war großartig. Alle standen Spalier, um unseren Nachwuchs zu begutachten. Bödeker dankte im Gebet für unsere Rückkehr, für die Bewahrung und für das Kind. Und als Predigttext las er vor: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Eigentlich ein altmodischer Spruch, dachte ich. Mit „Hirte“ kann doch heute keiner mehr etwas anfangen. Und „nichts mangeln“ … das fordert ja geradezu Widerspruch heraus. Ein Vers für nette Spruchkarten oder kleine Meditationsbüchlein am Krankenbett oder für besondere Anlässe. Hatte meine Oma den Vers nicht als Konfirmationsspruch gehabt?
Der Herr ist mein Hirte ... Seltsam, seit unserer Adoption habe ich trotzdem eine Beziehung zu diesen Worten.