Читать книгу Mein kleines Corona-Tagebuch - Erwin Stegentritt - Страница 1

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Heute ist der 19.3.2020.

Es ist der 4. Tag der unfreiwilligen Isolation.

Aber was war gestern? Arbeit am Computer, ein wenig im Garten arbeiten, ein wenig mit meinen Schwestern telefonieren. Mit meiner Tochter diskutieren über Politik...

Und heute? Heute ist der Frühling da: auch die Magnolien haben die Blüten geöffnet und strahlen. Das kleine Kirschbäumchen ist voll mit winzigen Blüten, die Mirabelle treibt schon ihre Blätter und das Weiß wird unterlegt mit Grün; bald kommt das Rosa des großen Kirschbaums vom Nachbarn links...

Arbeit am Computer...

Heute ist der 20.3.2020.

Es ist der 5. Tag der unfreiwilligen Isolation.

Heute ist aber auch der Geburtstag von Friedrich Hölderlin, mein Lieblingsdichter: "Was bleibet, stiften die Dichter..." Was überdauern wird, was in unserer Erinnerung bleiben wird, sind die Gedichte und Erzählungen und die Texte. Ich bin kein Dichter, ich bin ein Schreiber. Hölderlin träumte von einem Griechenland, das für ihn ein Sehnsuchtsort war, das er nie betreten hat. Vielleicht kann ich ihm einige Grüße demnächst aus Griechenland zusenden.

Dieser Sommer ist anders - habe ich geschrieben, aber das war im letzten Sommer1. Wie wird dieser Sommer werden?

Heute ist der 21.3.2020.

Es ist der 6. Tag der unfreiwilligen Isolation.

Dicke Schneeflocken vor den weißen Mirabellenblüten.

In Camus' Pest sind die sterbenden Ratten verschwunden, jetzt sterben die Menschen; zuerst der Hausmeister im Haus des Dr. Rieux.

Ich gehöre zu den Risikogruppen, nicht wegen Erkrankungen, sondern wegen des Alters. Sonst würde ich mich zum Krankenhausdienst melden: ich bin Hilfspfleger gewesen in Freiburg, in meinem Ersatzdienst: ohne Ausbildung, learning by doing. Das hat mir später geholfen. In meiner Schreibübung2, erzähle ich ein wenig davon.

Es war ein Fehler, die Militärpflicht nicht in eine Pflicht zu einem zivilen Dienst umzuwandeln: nun hätten wir ein großes Reservoir an ausgebildeten Krankenpflegern. Aber vielleicht erinnert man sich später daran, was uns jetzt fehlt.

Heute ist der 23.3.2020, es ist Montag.

Es ist der 8. Tag der unfreiwilligen Isolation.

Gestern saß ich ein wenig an der Sonne auf dem Balkon. Gegen 5 Uhr sieht man normalerweise 4 oder 5 Flugzeuge in großer Höhe vorbeiziehen. Nun war es nur noch ein einziges Flugzeug, das von Südosten kam. Kurz danach ein Flugzeug der Luxair, im Landeanflug zum hiesigen Flughafen. Ab Montag stellen sie den Flugbetrieb ein. Wer will oder darf jetzt noch fliegen?

Die Versammlungsfreiheit ist aufgehoben. Wollen wir uns verschwören, einen Umsturz vorbereiten? Sich versammeln können gehört zu unserem Leben als selbstverständlich. Ich will gerne darauf verzichten, wenn es um Leben und Tod geht. Ja, darum geht es: Leben und Sterben.

In Camus' Pest berichtet der Journalist Tarrou von seinen Recherchen über die Situation in der Stadt.

Camus schreibt bedächtig, wie in einem Schulaufsatz; die Entwicklung der Gedanken und der Begegnungen sind voraussehbar. Doch die "story" ist packend: die langsame Veränderung des Lebens und der Gewohnheiten der eingeschlossenen Bewohner von Oran.

Heute ist der 24.3.2020.

Es ist der 9. Tag der unfreiwilligen Isolation.

Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos und blau. Hummeln fliegen herum. Jetzt ist die Zeit zum Briefe schreiben; an die Freunde, an die Freundinnen irgendwo in Deutschland, in der Welt. Ich schicke einige kleine Heftchen zu ihnen, als Zeichen der Freundschaft und der Erinnerung.

25.3.2020.

10. Tag.

Ist heute Mittwoch? Ja, heute ist Mittwoch. In Camus' Pest wird klar, dass immer mehr Menschen an einem seltsamen Fieber sterben. Dr. Rieux wird gefragt, ob er ein Fatalist sei. Nein, er sei kein Fatalist - er kämpft um 'seine' Kranken.

Werde ich diese ganze Geschichte lesen können, jeden Abend ein, zwei Seiten?

27.3.2020.

12. Tag.

Gestern habe ich nichts geschrieben, weil die Arbeit so vielfältig war, weil die Gespräche so intensiv waren. Home Office? Das ist nichts Neues für mich. Deshalb gibt es keinen Unterschied; ich nenne mein Marathon-Programmieren.

Aufstehen und sich anziehen; frühstücken und Arbeitsbeginn. In der Zeitung lese ich von den Gefahren des Home Office, von den möglichen Gewalttaten und den Selbstmorden. Das ist verwirrend, oder sind es Meldungen der Meldung wegen?

Was steht heute an: Meine linguistische Maschine weiterentwickeln; Griechisch und Arabisch will ich hinzufügen. Das wird dauern.

Mit meiner Tochter diskutieren; Studium, Erinnerungen. Mit meiner älteren Schwester über die Zeit der Evakuierung zum Ende des Krieges sprechen. Hat sie den Brief wiedergefunden, den unser Vater zu ihrer ersten Kommunion von der Krim geschrieben hat, nur für sie, weil er als Soldat im Krieg nicht bei ihr sein konnte?

28.3.2020.

13. Tag.

Die zweite Auflage der 'Lettres à un Jeune Allemand' ist gedruckt und mein Druckerfreund Benno vom Maroverlag hat mir in das dicke Paket ein Buch über Leonard Cohen gelegt. Das Buch lese ich am Abend, parallel zur Pest. Cohen auf Hydra, das erinnert mich an meinen Besuch auf dieser Insel, die sich kaum verändert hat; ich kann ihn dort vorne am Hafen sitzen sehen mit seiner Freundin. Ich sitze daneben und höre ein wenig zu. In der Pest nähert sich der Erzähler der Figur des Verwaltungsangestellten Grand, der für 65 Franc 30 am Tag in der Stadtverwaltung von Oran arbeitet - um in seiner Freizeit zu schreiben. Um auch während der Pestzeit zu schreiben; einen einzigen Satz!

Die Blüten am Mirabellenbaum sind fast ganz verschwunden; die Magnolienblüten sind braun geworden; der große japanische Kirschbaum zur linken Seite bereitet sich auf sein großes Blühen vor.

Mein kleines Corona-Tagebuch

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