Читать книгу Franziskus - Esther-Marie Merz - Страница 6
Fast vom Ende der Welt
Оглавление„Es könnte schon heute Nachmittag geschehen“, flüstert mir mein Kameramann zu. Das Konklave dauert noch nicht einmal 24 Stunden, aber das anstehende, historisch einmalige Ereignis heizt die Gerüchteküche an. Eine Papstwahl nach einem Papstrücktritt, das hat die Welt noch nicht gesehen – und so viele Journalisten auf einmal in Rom auch nicht. Ein Monat ist seit der völlig überraschenden Entscheidung Papst Benedikts XVI. vergangen. Die Stadt wird seitdem von Reportern aus allen Kontinenten belagert. Alle warten wir auf den weißen Rauch.
Ich ordne meine persönliche Favoritenliste. Von meinen zwanzig ursprünglich erstellten Mini-Biografien wähle ich zehn aus. Das Profil des zu wählenden Papstes scheint klar umrissen – darüber sind sich die meisten Kollegen rund um den Globus einig: Stark genug sollte er sein, um mit Vatileaks und anderen Skandalen aufräumen zu können; ein Seelsorger; ein guter Organisator; kein Europäer und, ganz wichtig, nicht älter als 70 Jahre.
Ein Blick auf meine Zettel und ein kurzer Austausch mit einem römischen Vatikanisten machen klar: Das könnte der Erzbischof von Buenos Aires sein, wäre da nicht das Geburtsdatum 17. Dezember 1936. Nein, Kardinal Jorge Mario Bergoglio rutscht in unserer Reihung nach hinten. Wenige Stunden später straft die Geschichte diese Überlegung Lügen.
Es ist nicht der Nachmittag, es ist der Abend des 13. März 2013. Das Ende eines kalten und regnerischen Tages. Spätestens um 19 Uhr sollte an jedem Wahltag, so hat Vatikansprecher Federico Lombardi in einem seiner täglichen Presse-Briefings versichert, Rauch aus dem auf der Sixtinischen Kapelle angebrachten Schornstein aufsteigen. Schwarz oder weiß, je nach Ergebnis.
Ich nehme meinen Platz für die Live-Schaltung ein. Der Petersplatz ist schon seit Stunden gerammelt voll und die Spannung hoch. Alle richten unter ihren Regenschirmen den Blick starr nach oben.
Um 19.06 Uhr ist es soweit: Ein Aufschrei hallt über den Platz und erreicht die Dächer und Terrassen, von denen wir Journalisten unsere Live-Einstiege machen. Ein untrügliches Zeichen, denn der Rauch ist weiß: Habemus papam. Doch wen haben die 115 Kardinäle im fünften Wahlgang zum Kirchenoberhaupt gewählt?
Der kurz darauf genannte Name des 265. Nachfolgers Petri lässt viele Menschen etwas ratlos zurück. Zu unbekannt ist dieser Name und akustisch schwer zu verstehen. Doch die vom Protodiakon, Kardinal Jean-Louis Tauran, verkündete Entscheidung des neuen Mannes im Vatikan, sich Franziskus zu nennen, löst Jubel und Begeisterung auf dem Petersplatz aus. Die Kommentatoren überschlagen sich.
Auch bei Twitter ist Franziskus sofort das alles beherrschende Thema. Insgesamt bringt der Tag über sieben Millionen Tweets zum Konklave. Unmittelbar nachdem der neue Papst, Franziskus, vorgestellt wird, erreicht die Aktivität der Twitter-Nutzer mit 130.000 Mitteilungen pro Minute ihren Höhepunkt.
Keiner hatte bisher den Mut gehabt, als Papst den Namen des großen Reformers aus Assisi zu wählen, kommentiert der Vatikanexperte von TV 2000, dem Sender der italienischen Bischofskonferenz, völlig überrascht. Und nur wenige Monate zuvor hatte der „Guru“ der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, Roberto Casaleggio, im Buch Il grillo canta sempre al tramonto geschrieben: „Es kann ja kein Zufall sein, dass es bisher noch keinen Papst gab, der sich Franziskus nannte. Wir haben die 5-Sterne-Bewegung ganz bewusst am Tag des heiligen Franziskus gegründet. Politik ohne Geld. Die Achtung von Natur und Umwelt.“
Doch jetzt ist plötzlich alles anders. Jetzt ist es der Erzbischof von Buenos Aires – der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri –, der die Ideale des christlichen Revolutionärs zur römisch-katholischen Chefsache erhebt. „Ein Name, ein Programm“ schreiben Tage später Journalisten aus aller Welt.
Ein Erneuerer war der heute zu den beliebtesten Heiligen zählende poverello, wie Franz von Assisi genannt wurde, zu seinen Lebzeiten. Radikal setzte der „Narr Gottes“ das Evangelium in die Tat um. Der 1182 geborene Sohn eines reichen Tuchhändlers hielt dem von moralischem Verfall gezeichneten Klerus einen Spiegel vor. Er schwor dem süßen Leben ab, gründete den „Orden der minderen Brüder“ und reformierte so von innen die Kirche, die damals – wie auch heute – eine schwere Glaubwürdigkeitskrise durchlebte.
Und die Kirche? Diese tat sich lange Zeit durchaus schwer mit dem heutigen Schutzpatron Italiens, der für viele als größter Heiliger der römisch-katholischen Kirche gilt.
Bei seiner Audienz für 6.000 Journalisten, die nach dem Papstrücktritt und während der Papstwahl in Rom anwesend sind, plaudert Franziskus wenige Tage später freimütig aus dem Konklave. Als sich die Lage bei der Auszählung der Stimmen „für mich zuspitzte“, habe ihn sein Sitznachbar und „großer Freund“, der emeritierte Erzbischof von São Paulo, Kardinal Claudio Hummes, ein Jesuitenschüler und Franziskaner, „bestärkt“. Und als die Anzahl der Stimmen zwei Drittel erreichte, erscholl der übliche Applaus, da der Papst gewählt war. „Da umarmte und küsste er mich. Und er sagte zu mir:, Vergiss die Armen nicht!‘ Da setzte sich dieses Wort tief in mir fest: die Armen, die Armen.“ Er habe dabei sofort an Franz von Assisi gedacht. „Franziskus war ein Mann der Armut und des Friedens; einer, der sich für die Schöpfung eingesetzt hat“, erläutert der frisch gewählte Papst seine viel beklatschte Entscheidung, um schließlich uns Medienvertretern sein zentrales Anliegen mitzugeben: „Ich möchte eine arme Kirche und eine Kirche für die Armen.“
Wie ernst es Jorge Mario Bergoglio mit Demut und Bescheidenheit ist, kann man bereits bei seinem ersten Auftritt erkennen: In einer weißen Soutane und ohne Stola betritt er die Mittelloggia des Petersdoms. Auf der Brust ein schlichtes Kreuz aus Eisen, das er bereits als Erzbischof von Buenos Aires getragen hat. Mit einem „buonasera“ wendet Franziskus sich an die jubelnden Menschen auf dem Petersplatz und mit einfachen Worten beschreibt er die Arbeit der Kardinäle. „Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen.“ Kein einziges Mal fällt an diesem Abend das Wort „Papst“. Franziskus spricht vielmehr vom gemeinsamen Weg von Volk und Bischof, „einem Weg der Geschwisterlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens“. Und er bittet die Anwesenden „um einen Gefallen“. Bevor er die Menschen segnet, „bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet.“ Als er zum Schluss noch eine gute Nacht und angenehme Ruhe wünscht, hat er die Herzen der Römerinnen und Römer bereits erobert.
Es sind unglaubliche Szenen, die wir rund um den Petersplatz miterleben. Lachende und strahlende Menschen fallen einander um den Hals und gehen glücklich nach Hause. Die meisten hier sind sich einig, dass eine neue Ära beginnt.
Franziskus’ Stärke ist seine Authentizität. Wo Franziskus draufsteht, ist Jorge Mario Bergoglio drinnen. Daran sollte auch die Papstwahl nichts ändern. Das, was die gesamte Weltpresse in den folgenden Tagen in Erstaunen versetzt, ist für den 76-jährigen ehemaligen Erzbischof nur eine logische Konsequenz seines bisherigen Lebens. So legt er am Abend der Wahl den Weg zum Abendessen nicht in einer luxuriösen Papstlimousine zurück, sondern steigt wie bisher mit den anderen Kardinälen in einen Kleinbus. Humor und Tatendrang, so werden einige dann erzählen, sind weitere Eigenschaften des Argentiniers. Wo Joseph Ratzinger angesichts der Bürde des Amtes vom „Fallbeil“ gesprochen hat, zeigt sein Nachfolger eine Art südländische Leichtigkeit des Seins. Mit den Worten „Möge Gott Euch vergeben für das, was Ihr getan habt!“ bedankt sich ein heiterer Franziskus während des Abendessens bei den Kardinälen.
Kaum ist Franziskus im Amt, ändert sich der Stil im Vatikan. Auch Benedikt XVI. war ein bescheidener Mensch, doch als Papst vermittelte er äußerlich ein vom 19. Jahrhundert geprägtes Kirchenbild. Rote Schuhe, prunkvolle Gewänder und selbst der Camauro – eine fellbesetzte Samtmütze – kamen zum Einsatz. Hermelin und edle Stoffe sind jedoch nicht die Sache von Franziskus. Auch die roten Schuhe wird er ablehnen. Bei einem Treffen mit Seminaristen und jungen Ordensfrauen zum „Jahr des Glaubens“ macht er einmal mehr deutlich, was es für ihn bedeutet, Geistlicher zu sein. Wer sich der Kirche verschreibe, müsse dem Gebot der Armut folgen. „Es tut mir weh, wenn ich einen Priester oder eine Nonne in einem nagelneuen Auto sehe. So etwas geht nicht!“ Dem Papst geht es dabei nicht darum, zu Fuß zu gehen, „es reicht ein bescheidenes Auto, nicht wahr? Denkt daran, wie viele Kinder verhungern.“ Das Glück der Welt liege nicht darin, das „modernste Smartphone oder das schnellste Auto“ zu besitzen.
Franziskus setzt also gleich zu Beginn Akzente. Als die Kardinäle dem frisch gewählten Papst in der Sixtinischen Kapelle ihren Respekt erweisen, nimmt Franziskus nicht wie üblich auf dem Papstthron Platz. Er nimmt die Huldigungen stehend entgegen. „Sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, das ist die größte Gefahr für die Kirche.“ Dieser Satz wird noch öfter von ihm zu hören sein.
Franziskus bleibt bodenständig. Legendär ist inzwischen sein Auszug aus dem Priesterwohnheim, in dem er bis zum Beginn des Konklaves in Rom gewohnt hatte. Er packt eigenhändig seine Sachen und bezahlt an der Hotelrezeption seine Rechnung. Damit wolle er ein gutes Beispiel für andere Priester und Bischöfe geben, erzählt Vatikansprecher Federico Lombardi. Ein Gast im Haus erinnert sich: „Man merkte nicht, dass er ein Kardinal war. Er fragte nie nach einem Auto, nahm immer ein öffentliches Verkehrsmittel oder ist gelaufen.“ Ein normaler Gast sei er gewesen.
So normal wie möglich will er auch hinter den Mauern des Vatikans weiterleben. Das Protokoll sieht den Einzug in das Gästehaus Domus Sanctae Marthae (auch Casa Marta genannt) vor. Die Verbleibdauer in der Suite 201 hängt von den Restaurierungsarbeiten der päpstlichen Gemächer ab. Diese sind schnell fertig, jedoch Franziskus macht keine Anstalten, Casa Marta zu verlassen. Dort ziehen nach dem Konklave die ursprünglichen Bewohner, rund fünfzig Prälaten, die dauerhaft an der Kurie arbeiten, wieder ein. „Der Papst will eine normale Weise des Zusammenlebens mit anderen ausprobieren“, heißt es offiziell Ende März im Vatikan. Anfang Juni nimmt Papst Franziskus bei einem Treffen mit 9.000 Schülerinnen und Schülern im Vatikan selbst Stellung. Auf die Frage eines Mädchens, „Warum hast Du die Reichtümer des Papstes, zum Beispiel das große Apartment, abgelehnt?“, antwortet Franziskus: „Ich glaube nicht, dass es nur um Reichtum geht. Bei mir ist das alles eine Frage der Persönlichkeit. Ich muss unter Leuten leben. Würde ich allein leben, oder sogar isoliert, würde mir das nicht gut tun. Mich hat auch ein Lehrer gefragt. Und ich habe gesagt: Herr Professor, ich mache das aus psychiatrischen Gründen. Ich kann nicht anders.“ Dann kommt Franziskus auf die Frage von Arm und Reich zurück: „Die Armut in der Welt ist ein Skandal. In einer Welt, in der es so viele Reichtümer gibt, so viele Ressourcen, um allen Essen zu geben, kann man nicht verstehen, warum so viele Kinder hungrig bleiben; dass es Kinder ohne Ausbildung gibt und so viele arme! Die Armut heute ist ein Aufschrei. Wir alle müssen darüber nachdenken, wie wir ein wenig ärmer werden können.“
Franziskus bleibt also in der Casa Marta. Er nimmt die Mahlzeiten wie alle im großen Speisesaal ein, setzt sich zu den Mitbewohnern an den Tisch, nimmt den Aufzug gemeinsam mit anderen, telefoniert wann und mit wem er will. Er gratuliert alten Bekannten zum Geburtstag, ruft seinen Zahnarzt in Buenos Aires an oder Ämter in Rom. Er entscheide selbst, wen er sehen oder sprechen muss, und nicht seine Sekretäre, vertraut er einem Freund an. Die Vorrechte der Papstsekretäre hätten die Päpste oft zu Gefangenen gemacht. Die Sicherheitsbeamten werden noch lange brauchen, um sich an diesen direkten und wenig kurialen Stil zu gewöhnen.
Franziskus sorgt von Anfang an fast stündlich für Schlagzeilen. Schon am Morgen nach der Wahl verlässt er den Vatikan und begibt sich in Richtung der Basilika Santa Maria Maggiore, der größten Marienkirche Roms. Dort betet er, der Bischof von Rom, vor der von den Römerinnen und Römern hochverehrten Marienikone Salus Populi Romani und bringt einen einfachen Blumenstrauß als Danksagung. Immer wieder kehrt er in die Basilika, die den Beinamen Maria vom Schnee trägt, zurück: Hier stimmt er sich im Vorfeld des Weltjugendtags auf seine erste Auslandsreise ein. Hierher kommt er nach seiner Rückkehr, um sich zu bedanken. Der „Papst der Armen“ ist wie Johannes Paul II. ein großer Marienverehrer, was sich auch in Brasilien besonders zeigen wird.
Franziskus’ erste Amtshandlung gilt jedoch der jüdischen Gemeinde Roms. Ihr – der ältesten Diaspora-Gemeinde der Welt – schreibt er nach seiner Wahl einen Brief. „Ich hoffe sehr, zu jenem Fortschritt beitragen zu können, den die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken ausgehend vom Zweiten Vatikanischen Konzil erfahren haben, in einem Geist der erneuerten Zusammenarbeit und im Dienst einer Welt, die nach dem Willen des Schöpfers immer harmonischer sein kann“, heißt es in dem Schreiben an Oberrabbiner Riccardo Di Segni, das auf der Internetseite der jüdischen Gemeinde veröffentlicht wird. Darin ist auch die Einladung zur Amtseinführung enthalten. In einem Interview mit der Tageszeitung Corriere della Sera zeigt sich Di Segni optimistisch. Hoffnungsvoll und neugierig sei er. Die zu lösenden Knoten in den katholisch-jüdischen Beziehungen seien schwierig, manche vielleicht auch unlösbar, aber was zähle, sei der gute Wille des Papstes. „Es gibt alle Voraussetzungen für einen gemeinsamen Weg des Dialogs.“ Die Einladung nimmt der Oberrabbiner an, nicht ohne hinzuzufügen, dass auch Benedikt XVI. eine solche ausgesprochen habe. Damals, 2005, „war jedoch Pessach“ – eines der wichtigsten jüdischen Feste – und er konnte diese nicht annehmen. Riccardo Di Segni ist so der erste römische Oberrabbiner, der an der Amtseinführung eines römisch-katholischen Papstes teilnimmt.
Unmittelbar nach der Wahl zum Papst lädt auch der israelische Präsident Schimon Peres Franziskus ein, „das Heilige Land bei erster Gelegenheit zu besuchen“. Das Verhältnis zwischen dem Vatikan und den Juden sei „in den vergangenen 2000 Jahren“ nicht allzu gut gewesen. Er hoffe aber, dass sich die Beziehung vertiefe, schreibt Peres, der Franziskus Ende April einen vielbeachteten Besuch abstatten wird.
Keiner genießt in diesen Tagen eine derartige weltweite Aufmerksamkeit wie Franziskus. Jubelmeldungen auf allen Kanälen. Bescheiden, humorvoll, volksnah – so wird er beschrieben. Sein Stil färbt sogar auf die neue italienische Regierung ab. Die Präsidentin der Abgeordnetenkammer, die Menschenrechtlerin Laura Boldrini, verzichtet auf ein Dienstauto und geht ohne Polizeischutz zu Fuß zur Angelobung. Ihr politisches Pendant, der zum Senatspräsidenten gewählte Mafiajäger Piero Grasso, zeigt sich in Jeans und sportlichen Schuhen. Von einer neuen Schlichtheit, einem neuen „franziskanischen Stil“ in den römischen Machtzentralen spricht die römische Tageszeitung La Repubblica. Ein Stil, der vom Heiligen Stuhl in die römischen Institutionen eingedrungen sei.
Mitten in der allgemeinen Begeisterung treffen jedoch Meldungen über Jorge Mario Bergoglios Verhalten in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976 – 1983) ein. Franziskus gerät ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihm wird vorgeworfen, in den 1970ern nicht eindeutig gegen das brutale Regime von General Jorge Rafael Videla Stellung bezogen zu haben. Unter dem Diktator, der von 1976 bis 1981 an der Macht war, sind rund 30.000 Menschen verschwunden oder ermordet worden. Bergoglio, damals argentinischer Provinzial des Jesuitenordens, soll darüber hinaus mitverantwortlich für die Verschleppung von zwei Ordensbrüdern, Franz Jalics und Orlando Yorio, gewesen sein, die in Buenos Aires in den Elendsvierteln von Bajo Flores arbeiteten. Beide wurden 1976 von den Militärs entführt und erst fünf Monate später freigelassen. Unterstützung in der Causa erhält der frisch gewählte Papst von prominentester Seite. Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, der im März nach Rom kommt, nimmt den Papst in Schutz. „Es gab Bischöfe, die Komplizen der Diktatur waren. Bergoglio war nicht darunter“, bekräftigt der Bürgerrechtler, der 1977 selbst verhaftet wurde und schwere Folterungen erleiden musste. Ähnlich äußert sich auch der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff. Er sieht keine Grundlage für eine angebliche Nähe des neuen Papstes zur früheren argentinischen Diktatur. „Im Gegenteil: Er hat viele gerettet und versteckt, die von der Militärdiktatur verfolgt wurden“, sagt Boff gegenüber der Nachrichtenagentur DPA in Rio de Janeiro.
Schützenhilfe bekommt Franziskus auch von einem früheren Gegner der Diktatur in Uruguay. Gonzalo Mosca war nach eigenen Angaben „Mitglied einer linken Gruppe“, die offen gegen die Diktatur eintrat, und schwebte in Lebensgefahr. Sein Bruder, ein Jesuit, habe sich in seiner Not an Padre Bergoglio gewandt. Der habe dem damals 28-jährigen Mosca seine Hilfe zugesagt und ihm die Flucht nach Argentinien und von dort über Brasilien nach Europa ermöglicht.
Von den beiden 1976 in Argentinien entführten Jesuitenpatres ist bei der Wahl Bergoglios zum Papst nur mehr Franz Jalics am Leben. Orlando Yorio war am 9. August 2000 in Montevideo verstorben. Pater Jalics verfasst zwei Tage nach der Wahl einen Brief und entlastet den Papst.
„Seit 1957 lebte ich in Buenos Aires. Im Jahre 1974, vom inneren Wunsch bewegt das Evangelium zu leben und auf die schreckliche Armut aufmerksam zu machen, und mit der Erlaubnis von Erzbischof Aramburu und dem damaligen Provinzial P. Jorge Mario Bergoglio bin ich gemeinsam mit einen Mitbruder in eine ‚Favela‘, ein Elendsviertel der Stadt, gezogen. Von dort aus haben wir unsere Lehrtätigkeit an der Universität fortgesetzt.
In der damaligen bürgerkriegsähnlichen Situation wurden von der Militärjunta binnen ein bis zwei Jahren ungefähr 30.000 Menschen, linksgerichtete Guerillas wie auch unschuldige Zivilisten umgebracht. Wir zwei im Elendsviertel hatten weder mit der Junta noch mit den Guerilla Kontakt. Durch den damaligen Informationsmangel bedingt und durch gezielte Fehlinformationen war jedoch unsere Lage auch innerkirchlich missverständlich. In dieser Zeit haben wir die Verbindung zu einem unserer Laienmitarbeiter verloren, als die Person sich den Guerillas angeschlossen hatte. Nachdem er neun Monate später von den Soldaten der Junta gefangengenommen und verhört wurde, haben diese erfahren, dass er mit uns in Verbindung stand. In der Annahme, dass auch wir mit den Guerilla zu tun haben, wurden wir verhaftet. Nach einem fünftägigen Verhör hat uns der Offizier, der die Befragung geleitet hat, mit diesen Worten entlassen: ‚Patres, Sie hatten keine Schuld. Ich werde dafür sorgen, dass Sie ins Armenviertel zurückkehren können.‘ Dieser Zusage zum Trotz wurden wir dann, auf eine für uns unerklärliche Weise, fünf Monate lang mit verbundenen Augen und gefesselt in Haft gehalten. Ich kann keine Stellung zur Rolle von P. Bergoglio in diesen Vorgängen nehmen.
Nach unserer Befreiung habe ich Argentinien verlassen. Erst Jahre später hatten wir die Gelegenheit mit P. Bergoglio, der inzwischen zum Erzbischof von Buenos Aires ernannt worden war, die Geschehnisse zu besprechen. Danach haben wir gemeinsam öffentlich Messe gefeiert und wir haben uns feierlich umarmt. Ich bin mit den Geschehnissen versöhnt und betrachte sie meinerseits als abgeschlossen.
Ich wünsche Papst Franziskus Gottes reichen Segen für sein Amt.
P. Franz Jalics
15. März 2013“
Am 19. März 2013, dem Tag der Amtseinführung Franziskus’, sind die Schatten der Vergangenheit wieder weit weg. Seinen Landsleuten hat Franziskus empfohlen, nicht nach Rom zu kommen, sondern das Geld lieber karitativen Zwecken zukommen zu lassen. Gekommen sind trotzdem viele. Argentinische Fahnen sind überall in der Menge zu sehen.
Auch an diesem Tag, dem Hochfest des hl. Joseph, des Patrons der Weltkirche, trägt Franziskus seine einfache weiße Soutane. 132 Delegationen aus aller Welt sind angereist. An die versammelten Staatsoberhäupter und Regenten richtet er in Erinnerung an „Joseph, dem Gott anvertraut hat, Hüter von Maria und Jesus zu sein“, seine „herzliche Bitte“:
„Lasst uns, Hüter‘ der Schöpfung, des in die Natur hineingelegten Planes Gottes sein, Hüter des anderen, der Umwelt; lassen wir nicht zu, dass Zeichen der Zerstörung und des Todes den Weg dieser unserer Welt begleiten! Doch um zu , behüten‘, müssen wir auch auf uns selber Acht geben!
Erinnern wir uns daran, dass Hass, Neid und Hochmut das Leben verunreinigen! Hüten bedeutet also, über unsere Gefühle, über unser Herz zu wachen, denn gerade von dort gehen unsere guten und bösen Absichten aus: die, welche aufbauen, und die, welche zerstören! Wir dürfen keine Angst vor der Güte haben. Ja, nicht einmal vor der Zärtlichkeit!“
Und Franziskus spricht vor hunderttausenden Mitfeiernden seine zentrale Botschaft an: „Vergessen wir nie, dass die wahre Macht der Dienst ist.“ Es gehe um „die Hungernden, die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken, die Gefangenen. Nur wer mit Liebe dient, weiß zu behüten!“
Bei der Amtseinführung des Bischofs von Rom sind auch Vertreter vieler Kirchen und Religionsgemeinschaften anwesend. Erstmals in der Geschichte – seit dem Schisma von 1054 – nimmt auch der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel daran teil. Bartholomaios I., der dieses Amt seit 1991 innehat, unterstreicht die verbesserten Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen. Seine Entscheidung, zur Feier nach Rom zu reisen, bezeichnet er selbst als „historische Entwicklung“. Die herzliche Umarmung der beiden gilt als wichtiges Zeichen für die Einheit der Kirchen.
Mit der Messe beginnt das Pontifikat offiziell. Der erste Papst aus Lateinamerika, der erste Jesuit in der Geschichte, ist zu diesem Zeitpunkt im Vatikan so gut wie unbekannt. Papstsprecher Federico Lombardi, Jesuit wie Franziskus, sagt im Gespräch, dass er Jorge Mario Bergoglio vor dem Konklave nur einmal gesehen habe.
Fremd im Vatikan – das ist für Franziskus Chance und Risiko zugleich.
Bei der Amtseinführung am 19. März 2013
Jorge Mario Bergoglio (stehend, 2. von links) mit seinen Eltern und Geschwistern