Читать книгу Major Fuchs auf Reisen - Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem - Страница 5

Erste Etappe:

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Pension Bellavista.

An einem strahlend schönen Nachmittage der ersten Dezembertage langte der Major Fuchs mit seiner Gattin am See von Brissago an. Alles war noch grün, nur der wilde Wein troff in roten Strömen von altem grauem Gemäuer herab, die Kastanien fingen an sich zu färben und späte Rosen blühten in allen Gärten inmitten ihrer weniger vornehmen Blumenschwestern. Aus noch saftigem Grün ragte die tiefdunkle hohe Zypresse empor, alte knorrige Olivenbäume stimmten mit ihrem graugrünen Laub die Farbenskala fein ab, und die mit dicken Knospen besetzten Kamelienbäume verhiessen einen reichen Blütenflor. Dazu die strahlende Sonne, der tiefblaue Himmel und der blaugrüne See — kurz, es war eine Pracht, von der harmlose nordische Gemüter in gläubigem Vertrauen erwarteten, dass sie den ganzen Winter so anhalten würde.

Die Fahrt über die Alpen war auch vom herrlichsten Wetter begleitet gewesen. Jenseits des Gotthardtunnels hatten Fuchsens Kälte und Nebel zurückgelassen und waren in Airolo vom schönsten blauen Himmel begrüsst worden; was Wunder also, wenn der Major selbst in strahlendster Laune nun in dem netten Fiaker neben seiner runden Thussi sass und mit ihr der Pension Bellavista entgegenfuhr, wo sie ja erwartet wurden und all das Behagen finden sollten, das der Major als Pensionsgeber seinen Gästen bereitet hatte.

Der Weg zu diesem verlockenden Ziel wurde erst recht schön, als der Wagen die Stadt verliess und die in die Felsen gesprengte Strasse nach dem gegenüberliegenden Seeufer entlang fuhr, hart an der schimmernden Wasserfläche entlang. Dann bog der Wagen in einen Seitenweg ab, der von weinumrankten Spalieren überspannt war, und hielt vor einer reizend gelegenen Villa in italienischem Stil, an deren Haustür ein kleines Schild mit der Aufschrift „Pension Bellavista“ den guten Fuchsens verriet, dass sie am Ziele seien. Sie entstiegen also ihrem Vehikel und zogen die Glocke, was aber keinen Effekt machte, denn es erschien keine Seele, auch dann nicht, als das Verfahren mehrmals wiederholt wurde. Der Major hiess den Kutscher also das Gepäck abladen und vor die Tür stellen, Frau Thussi blieb als Wächter daneben stehen und ihr Gatte ging auf Rekognoszierung aus, das heisst er öffnete die Haustür und betrat mit einem lauten „Hem!“ den architektonisch hübschen, aber nackten und nicht sonderlich ausgekehrten Hausflur, in dem eine dicke Rolle Teppich-Läuferstoffes anscheinend neu aber verstaubt in einer Ecke lehnte. Eine weitere Klingel war nicht zu sehen, irgend ein menschliches Wesen auch nicht, da der Major aber rechts hinter einer Tür Stimmen hörte, so klopfte er dort an. Das half insofern als der bildhübsche aber arg verraufte Kopf eines anscheinend dienenden Wesens in dem vorsichtig geöffneten Spalt erschien, um mit dem erschreckten Ausruf: „Ein Fremder, Signora!“ wieder zu verschwinden. Nach einer längeren Pause öffnete sich dann wieder die Tür und eine verblühte Frau mit verbundenem Gesicht und umhüllt von einer stark benutzten Küchenschürze erschien auf der Bildfläche.

„Fuchs, Major Fuchs,“ stellte sich der Major vor. „Habe ich vielleicht das Vergnügen, Frau Purzel —“

„Ja, ich bin Frau Purzel,“ nuschelte die Gute aus ihrer geschwollenen Backe heraus. „Sie wünschen?“

„Wir sind angemeldet und werden erwartet,“ erwiderte der Major, das erhaltene Telegramm zu seiner Legitimierung hervorziehend.

„Aha!“ machte die Herrin von Bellavista mit dämmerndem Verständnis. „Also Sie sind wirklich gekommen; ich hatte nicht gedacht, dass Sie wirklich kommen würden. Das Zimmer? Ja, das Zimmer ist noch besetzt, aber es wird morgen frei — ein sehr schönes Zimmer, Sonnenseite, nach dem See heraus!“

„Ja, wenn’s aber besetzt ist, was nutzt mir dann seine Schönheit,“ meinte der Major mit langem Gesicht. „Sie hatten mir doch bestimmt versprochen —“

„Ja, ja, aber ich dachte doch nicht, dass Sie wirklich kommen wollten,“ fiel Frau Purzel ein. „Sie werden sich sehr wohl bei uns fühlen. Die wundervolle Lage des Hauses — unsere Küche ist ganz vorzüglich — alles so bequem und sauber —“

„Herrlich ist das alles,“ fiel der Major ein, „aber wenn wir kein Zimmer haben —“

„Mama! Nummer Sieben!“ rief eine Stimme aus der Küche.

„Ja, wir haben da ein Zimmer bereit für zwei Damen, die heut’ kommen sollten,“ rief Frau Purzel strahlend. „Da sie aber noch nicht da sind, so werden sie heut’ wohl nicht mehr kommen — wenn Sie also das Zimmer einstweilen beziehen wollen, bis das Ihre morgen frei wird, dann können Sie es gerne haben.“

„Wenn die Damen aber nun doch noch kommen,“ warf der Major ein.

„Ach, woher sollten sie denn heut’ noch kommen!“ wehrte Frau Purzel ab. Der Major aber warf einen Blick vor die Haustür, wo seine bessere Hälfte, wie er zerrüttelt und zerschüttelt von der langen Eisenbahnfahrt, wartend auf dem Koffer sass — die Droschke war weggefahren, der Weg hinein bis zur Stadt und zum nächsten Hotel mindestens seine drei Kilometer lang — da schlug der brave Major also seine chevaleresken Gefühle und Begriffe in den Wind, tat seinem Gewissen, das sich lebhaft gegen den Gedanken sträubte, sich dem Kuckuck gleich, ein fremdes Nest anzueignen, Gewalt an und akzeptierte den Vorschlag der Frau Purzel. Nummer Sieben war nun zwar nicht etwa das Nest, das der Usurpator würde ausgesucht haben, aber es hatte vier Wände und eine Decke darüber, gerade das, was der müde Wanderer braucht. Es war ein langes, schmales Gemach, aufs dürftigste eingerichtet, finster und weil nach Norden gelegen, eisig kalt in dieser vorgerückten Jahreszeit. Dem letzteren Übelstand abzuhelfen, wurde in dem primitiven italienischen Kamin ein Feuer von feuchtem Reisig angemacht, und das Resultat davon war ein Rauch zum Ersticken. Nun mussten Fenster und Tür geöffnet werden, um durch Zugluft den Rauch herauszutreiben und der Major fand nicht, dass dies Verfahren die Temperatur erhöhte; Frau Purzel hingegen erklärte, dass nun alles in Ordnung sei, dass das Diner um sieben Uhr stattfände und dass sie jetzt in die Küche müsste, worauf sie befriedigt ihre neuen Gäste verliess.

Der Major hatte seinen Überzieher wieder angezogen und Frau Thussi ihren Wintermantel, und nun sass jedes auf einem der zwei vorhandenen Strohstühle frierend in dem düstern ungemütlichen Raume, stumm, resigniert, ein Bild des Jammers und Unbehagens. Nebenan mussten andere Gäste daheim sein, denn man hörte Personen sich bewegen und mit unglaublicher Volubilität in einer fremden Sprache reden, dann kam eine Pause und nach dieser eine sonderbare Produktion: eine hohe weibliche Stimme begann in einem einzigen Ton eine lange Rede herzusagen, dann fiel eine tiefe weibliche Stimme, auch auf einen einzigen Ton gestimmt, ein und redete weiter, dann kam wieder die hohe Stimme daran und so ging’s ohne Aufhören fort, bis Frau Thussi plötzlich aufsprang. „Du, August, das halt’ ich nicht aus, dabei schlaf’ ich selbst auf dem harten Stuhl hier ein,“ versicherte sie eindringlich. „Wie wär’s, wenn wir lieber in den Garten gingen — kälter wie hier kann’s draussen nicht sein!“

Der Major, der wirklich bei den monotonen Stimmen nebenan schon halb eingedrusselt war, erklärte sich gern bereit und so verliessen sie das „schützende Dach,“ um sich unter freiem Himmel etwas zu erwärmen, und zwar dirigierten sie sich auf den Garten zu, der sich am See hinunterzog und wirklich die entzückendste Aussicht bot in der Glorie der untergehenden Sonne. Beim Passieren durch das Haus bewunderten Fuchsens den schön proportionierten, aber scheunenartig leeren, steingepflasterten Hausflur, und kopfschüttelnd machte der Major seine Frau auf einen daselbst angeschlagenen Zettel aufmerksam, auf welchem in schöner Rundschrift auf italienisch, deutsch, französisch und englisch die Gäste gebeten wurden, das Haus rein zu erhalten und nichts darin zu beschmutzen.

„Die müssen mal eine nette Sorte von Gästen hier gehabt haben, dass solche Affiche nötig wurde,“ meinte der Major erstaunt, Frau Thussi aber warf einen Blick in die Winkel des Hausflurs, darin eine ziemlich dicke Staubschicht lagerte, die ihr geübtes Hausfrauenauge leicht als das Resultat mehrerer Wochen erkannte, und sagte trocken:

„Trotzdem scheinen die Gäste das Auskehren hier vergessen zu haben.“

„Thussi, du wirst ja boshaft,“ schmunzelte der Major, Thussi aber stand vor der Portiere der Gartentür und betrachtete kopfschüttelnd die schöne und mühsame, breite Kreuzstichstickerei, die auf Sackjute der gewöhnlichsten Art verschwendet war.

„Handarbeit,“ dachte sie verwundert, „und auf solch wertloses Material so tadellos schön gestickt! Wer mag die Zeit zu solcher Arbeit hernehmen — das heisst sie ja geradezu vergeuden!“

Aus dem Haus in den Garten heraustretend, fand Frau Fuchs die Antwort auf diese Frage, denn da sass in der noch warmen Sonne ein hübsches junges Mädchen und stickte genau dasselbe Muster auf ein gleiches Stück Sackjute. Sie erhob sich, höflich grüssend.

„Ah, Fräulein sind wohl die Tochter des Hauses,“ fragte der Major.

„Ja, ich bin Centa Purzel, die ältere — meine Schwester Teresina und ich bedienen bei Tisch,“ erklärte sie.

„Ach und Sie machen so schöne, mühsame Arbeiten,“ sagte Frau Fuchs.

„Ich habe schon für sechs Fenster und Türen die Portieren und Übergardinen fertig,“ erwiderte Fräulein Centa stolz. „Jetzt sticke ich noch die Decken für die Chaiselongues der Fremdenzimmer und für Fauteuilbezüge.“

„Aber dazu wird der Stoff nicht haltbar genug sein,“ meinte Frau Fuchs.

„O, das schadet nichts,“ war die freundliche Antwort, „die Stickerei ist ja nicht auf den Sitzen, da wird sie nicht ruiniert.“

„Aha,“ erwiderte Frau Fuchs perplex — an diese Auffassung hatte sie natürlich nicht gedacht. Aber sie warf unwillkürlich einen Blick hinein ins Haus und die unausgefegten Ecken und dachte sich in ihrem harmlosen deutschen Sinn, dass es besser wäre, den Besen zur Hand zu nehmen, als die Zeit mit solch unnützem Gestichele „für die Katze“ zu verschwenden.

„Meine Schwester hilft mir sticken,“ erklärte Centa Purzel stolz, „wir haben das von unserer Mutter gelernt, unserer wirklichen, denn Signora Purzel ist Papas zweite Frau. Sie war Volksschullehrerin und besorgt nun die Küche für die Pension. Sie kocht sehr gut — sehr! Papa ist sehr zufrieden mit der Kost.“

„Worin er jedenfalls mit den Gästen übereinstimmt,“ konnte der Major sich nicht enthalten zu bemerken.

„Natürlich, wenn es Papa findet,“ war die schlichte Erwiderung. „Im Anfang konnte es Mama ja nicht — o, es war oft schrecklich komisch, was sie alles zusammenkochte und Papa war sehr unzufrieden, aber im vorigen Jahre war eine Dame als Gast in der Pension, die sah wohl, dass es Papa nicht schmeckte, und da hat sie Mama das Kochen gelehrt. Nun kann sie es sehr gut, und Papa ist viel schöner seitdem geworden!“

„Welches herrliche Resultat — und welch uneigennütziger Gast!“ rief der Major enthusiastisch. „Ich habe nie einen Gast gehabt, der meiner Schönheit wegen in meiner Küche das Kochen gelehrt hat! Wenn meine Gäste was Besseres haben wollten, dann taten sie das immer wegen sich selbst.“

„O, die Dame hat es sicher wegen Papa getan,“ erwiderte Centa Purzel überzeugt. „Papa ist so schön! Sie kennen Papa noch nicht? Nun, Sie werden ihn beim Diner sehen — Papa führt bei Tisch natürlich den Vorsitz und macht die Konversation. Papa ist so klug und so talentvoll, ein Genie hat ihn der Kantor von San Lorenzo genannt; denken Sie nur, ein Genie! Jetzt ist Papa noch in der Stadt, um Musikstunden zu geben — alle Welt will Musikstunden von ihm haben und dabei ist er doch noch Chordirigent bei Santi Angeli! Ja, beim Diner werden Sie Papa sehen — er ist schön wie ein Cherub!“

Ganz erfüllt von dieser wunderbaren Aussicht schlenderten Fuchsens in tiefem Sinnen durch den Garten.

„Dieser Cherub scheint der Pol zu sein, um den sich in der Pension Bellavista alles dreht,“ bemerkte der Major nach einer Pause tiefen Nachdenkens. „Merkwürdig, sehr merkwürdig!“

Frau Fuchs sagte nichts, aber sie hatte das vage Vorempfinden, als ob sie noch nicht am Ende ihrer Überraschungen in diesem gastlichen Hause seien. Und als der Rundgang um den Garten sie wieder an der eifrig stickenden Centa vorbeiführte, da fragte sie, wer eigentlich neben ihrem provisorischen Zimmer wohne und was die monotonen Stimmen darin bedeuteten.

„Ach, das ist die spanische Gräfin, die mit ihrer Kammerjungfer betet,“ wurde sie belehrt. „Sie sind schon lange bei uns, der Herr Graf v. Sedina Medonia mit seiner Gemahlin und der Cameriera. Sie ist eine sehr feine Dame!“

„Man sollte das bei einer Gräfin v. Sedina Medonia voraussetzen,“ murmelte der Major.

„Ich meine natürlich die Kammerjungfer,“ erklärte Centa mit Betonung.

„Nu eben,“ beeilte sich der Major zuzugeben. „Es ist das bei einer spanischen Kammerzofe wahrscheinlich noch mehr vorauszusetzen. Nun, die Anwesenheit derselben wird Ihnen manche Mühe bei dem Grafen und seiner Gemahlin ersparen.“

„O, die Cameriera räumt nicht auf und putzt nichts aus,“ wurde er belehrt. „Sie hält die Garderobe der Gräfin in Ordnung, sie hilft ihr bei der Toilette und frisiert sie, sie betet mit ihr die kirchlichen Tageszeiten und bespricht mit den Herrschaften deren Familienangelegenheiten, aber sonst wird von uns der Dienst auch in ihrem Zimmer besorgt. Freilich wird ihr im Salon während der Mahlzeiten nur von dem Stubenmädchen serviert, indes meine Schwester und ich Papa und die Gäste bedienen.“

Nachdenklich schritten Fuchsens nach dieser Belehrung wieder weiter. „Anderes Land, andere Sitten,“ gab dann der Major seinen Gefühlen Ausdruck. „Es muss doch aber hier im Hause sonst alles in Ordnung sein, sonst würden Gäste, wie dieser spanische Grande — die Familie gehört zu den ersten des Landes — nicht hier bleiben.“

„Ich habe mir sagen lassen, dass diese südlichen Herrschaften ganz andere Begriffe von Komfort haben als wir,“ meinte Frau Thussi. „Na, wir werden ja sehen!“

Jedenfalls hatte die Zeit heute für die armen Fuchsens bleierne Sohlen, denn sie wollte nicht vorwärts, wie das so zu sein pflegt, wenn man kein gemütliches Zimmer sein nennt. Als es draussen nach Sonnenuntergang auch plötzlich eisig kalt wurde, versuchten sie es mit dem sogenannten „Salon,“ einem grossen Raum zu ebener Erde und daher fusskalt und von einem leichten Modergeruch erfüllt. Die Einrichtung war schäbig, die Ornamente die der Fünfzigpfennig-Basare, und die hereingestellte, schlecht geputzte Petroleumlampe blakte herzerhebend.

Mit Betrachtung der ausgelegten stark begriffenen Photographiealbums verging aber doch die Zeit, und endlich bimmelte ein heiseres Glöcklein seinen Ruf zum „Diner.“ Da der Major und seine Frau im Salon allein blieben, so nahmen sie an, dass man sich gleich im Speisesaal zu versammeln pflegte und begaben sich auch dorthin. In der Tür trafen sie dabei mit einem jungen Paare zusammen, das den sonst nicht immer sehr zuverlässigen Stempel der Geburt, der Rasse und den immer zuverlässigen der Erziehung so deutlich zur Schau trug, dass der Major angeheimelt sich und seine Frau gleich vorstellte und damit die Bekanntschaft des Grafen und der Gräfin von Sedina Medonia machte. Ein schönes Paar — er lichtbraun mit blauen Augen wie ein Engländer aussehend, sie hingegen mit allen Attributen ihrer südlichen Abstammung ausgestattet, von den grossen samtschwarzen Glutaugen an bis zu den winzigen Händen und Füssen der andalusischen Rasse. Neben diesen wirklich angenehmen und liebenswürdigen Menschen fanden der Major und seine Frau noch einen deutschen Prediger mit seiner häuslich aussehenden Frau, einen ungarischen Offizier a. D., ein paar zusammen reisende ältere junge Damen aus Berlin, einen französischen Chasseur-Kapitän und eine junge, weltgewandte Dame vor, welche gleich eine allgemeine Vorstellung übernahm und sich selbst als Frau Welten aus Frankfurt nannte. Fuchsens hörten später, dass die interessante, kluge und weltsichere Dame eine nicht ganz durchsichtige Persönlichkeit war, und dass man begründete Zweifel an ihrem Namen und Frauentitel hege, aber sie war amüsant und angenehm, eine Perle für die Gesellschaft, und Fuchsens waren auch mit der vernünftigen und einzig richtigen Voraussetzung auf Reisen gegangen, dass man weder im Hotel noch in der Pension verlangen könnte, dass die andern Gäste erst ihr Leumundszeugnis und ihr Pedigree zur gefälligen Einsicht vorlegen müssten, ehe man sich mit ihnen zur Tafel setzen und unterhalten könne. Wer im Gasthaus lebt, gleichviel, wie sich’s nennt — Hotel oder Familienpension — der muss sich’s gefallen lassen mit Leuten zusammenzukommen, von denen er nichts weiss, und wenn sie sich sonst wie gebildete Menschen betragen, ist es opportun, nicht erst lange zu fragen und zu forschen, wieso und woher. Das hat bekanntlich schon der selige Lohengrin nicht vertragen, trotzdem seine Elsa doch eigentlich ganz berechtigt zu der berühmten Frage war, die ihr von Übelwollenden für nichts als schnöde Neugier ausgelegt wird. Auf Reisen trifft man so manchen und manche aus dem Hause Lohengrin an, die das Fragen nach „Art und Ort“ nicht vertragen, da muss man halt „die Feste feiern wie sie fallen,“ oder man muss daheim bleiben. Es bleibt allerdings noch der dritte Ausweg: sich ganz abzuschliessen und sich auf seinem Zimmer servieren zu lassen, und wem es Spass macht, mit dem Geruch seines Menüs auf recht beschränktem Raume zusammen zu bleiben und nur das vorgesetzt zu bekommen, was die andern Gäste übrig gelassen haben und dazu noch schlecht bedient zu werden, dem sei diese Manier, ausser Kontakt mit dem „Reisepöbel“ zu bleiben, aufs wärmste empfohlen. Denn der „Reisepöbel“ verliert dabei nichts; die Wirte gewinnen durch die entsprechenden Preiserhöhungen, und der „Exklusive“ hat die Genugtuung, sich nicht mit Krethi und Plethi abgeben zu brauchen und sein Gewand an Leuten zu streifen, von denen er sich sagen muss, dass er gottlob „besser ist wie sie.“

Der Major Fuchs und seine Frau also taten nichts dergleichen, sondern sie unterhielten sich im Speisezimmer der Pension Bellavista ganz gut mit ihren neuen Bekannten. Ein prüfender Blick auf die Tafel hatte Frau Thussi belehrt, dass überflüssiger Luxus hier vermieden wurde, besonders bezüglich reiner Tischwäsche, die in der Pension Malepartus ihren Stolz ausgemacht. Heut’ war Donnerstag und das Tischtuch hier lag sicher schon seit dem Sonntag auf — nein, rein war’s nicht mehr, dafür aber wies es stellenweise ganz hübsche Löcher auf, die zu stopfen es Frau Thussi ordentlich in den Fingern kribbelte. Aber freilich — die Töchter des Hauses mussten ja Jutevorhänge besticken, da konnten sie sich natürlich nicht mit so nebensächlichen Dingen wie Wäscheflicken einlassen.

„Auf was warten wir denn eigentlich?“ fragte der Major naiv, als ihm das „Herumgestehe“ anfing zu lange zu dauern. „Es hat doch längst schon geläutet.“

„Na, der alte Bummler, der Purzel, ist eben noch nicht da,“ belehrte ihn der ungarische Rittmeister. „Das ist auch solche verflixte Mode, dass wir auf den immer warten müssen! Aber sehen Sie, vom andern Ende der Stadt, wo er Stunden gibt, bis hierher gibt’s gerade sechzehn Kneipen, und da er von Haus aus Trompeter ist — na, Sie wissen ja, dass die Blasinstrumente Durst machen.“

„Aha, auf die Art!“ lächelte der Major verständnisvoll. „Was ist er für ein Landsmann? Klingt nicht grade italienisch, der Name Purzel!“

„Ein Bayer ist er, der nach beendeter Dienstzeit bei dem Trompeterchor seines Regimentes eine Italienerin heiratete und mit ihr nach hier auswanderte. Sie war eine intelligente Person und hat die Pension ins Leben gerufen. Nach ihrem Tode hat der Purzel dann das alte Geschöpf geheiratet — aha, da ist er ja endlich — hoffentlich nicht zu sehr illuminiert!“

„Du, Thussi — der Cherub!“ tuschelte der Major seiner Frau ins Ohr. Um Herrn Purzel mit einem Cherub zu verwechseln, dazu gehörten entschieden die Augen der Liebe, die bei Fuchsens, vorläufig wenigstens, nicht vorhanden sein konnten. Infolge dieses Mangels sahen sie also nur einen grossen, schlanken Menschen mit schlechter Haltung und lang wallenden goldblonden Locken und einem ebensolchen Christusbarte, über dem eine dicke Kartoffelnase in rötlichem Glanze leuchtete. Die wässerigen kleinen Schweinsaugen des Cherubs aber hatten einen gutmütigen Ausdruck und ein freundliches Lächeln zeigte die charakteristischen Trompeterfalten in seinen Wangen.

„Bitt’ tausendmal um Pardon, dass i mi a bisserl verspätet habe,“ sagte er atemlos. „Hab’ die Ehr’, Herr Major, freut mi, dass Sie mein Haus beehren. Zu Tisch, wenn’s den Herrschaften recht ist! Schön’s Wetter — Barometer steigt — hab’ mir grad den kleinen Umweg gemacht, um nachzuschauen und den Herrschaften die gute Nachricht zu bringen.“

„Aha!“ tuschelte der ungarische Kapitän, „auf dem Platz, wo das grosse Barometer steht, ist die „Osteria alle megliore fontane,“ wo’s den besten Roten gibt. Dort kann Freund Purzel schlecht vorbei! Daher also die Verspätung!“

Man nahm nun Platz um den übrigens mit den herrlichsten Früchten besetzten Tisch, und Frau Fuchs bemerkte mit Staunen, dass die schon länger im Hause weilenden Gäste sogleich eine fieberhafte Tätigkeit entwickelten, indem sie mit ihren Servietten, denen man das auch ansah, Teller, Bestecke und Gläser zu putzen begannen, ohne sich nur im geringsten damit vor dem Wirte zu genieren, der den Vorsitz bei der Tafel führte. Die spanische Gräfin zeigte dabei sogar in lebhaften Gebärden das erreichte Resultat ihrer Arbeit ihrem Gatten und der vis-a-vis sitzenden Frau Welten, die sich mit dem Hinweis auf das ihrige revanchierte. Heiter lächelnd sah Herr Purzel zu und kramte dabei die neuesten Neuigkeiten aus den Abendblättern aus.

„Du, August — wenn sie das bei uns gemacht hätten, ich wäre gestorben,“ flüsterte Frau Fuchs ihrem Gatten ganz entgeistert zu. „Das ist ja nicht mal der Frau Niedermüller eingefallen!“

„Geschweige der Frau Stolle!“ murmelte der Major, indem er sich in dem vagen Gefühl, dass es doch nötig sein müsste, der Bewegung seiner Tischgenossen anschloss, nur sehr schüchtern und verstohlen sekundiert von seiner besseren Hälfte, deren ganzes Innere sich gegen ein solches Verfahren vor der Öffentlichkeit sträubte. Aber auf Reisen schlägt man manches in den Wind, was einem daheim unmöglich wäre, und zu Frau Thussis Entsetzen fing ihr August nach leichtfertiger Männerart auch schon damit an.

Das Erscheinen der Suppe unterbrach die Beschäftigung ante festum und erfüllte die Atmosphäre mit starkem Knoblauchduft. Infolge dieser Ankündigung verzichtete die Mehrzahl der Gäste auf die Einleitung zum Diner, während nur die Südländer, die jene Würze meist sehr lieben, und der Ungar einiges Weniges davon nahmen und den grösseren Rest stehen liessen.

„Wie? Sie mögen Knoblauchsuppe nit?“ fragte Herr Purzel überrascht. „Ja, da hob’ns aber unrecht! Da wissen’s nit, was gut is. Jetzt, für a Knoblauchsuppen, da lass i mein Leben. Grad extra hab’ i mir’s für heut’ bestellt. Ah, das schmeckt!“

Und die Gäste der Pension Bellavista genossen den Vorzug und das Glück, ihren Wirt, den Cherub Purzel, nicht nur den einen Teller Suppe, sondern auch einen zweiten und dritten mit sichtlichem Behagen ausschlürfen zu sehen und so auf das, was da kommen sollte, zu warten unter Ausübung der himmlischen Tugend der Geduld.

„Donnerwetter — das hätte mir einfallen sollen!“ dachte sich der Major seinerseits.

Na, Herr Purzel erklärte sich schmatzend vor Behagen endlich für befriedigt und nun durften die Gäste auch darankommen. Die weiteren Gerichte waren bei primitivster Servierung indes vortrefflich gekocht — die Dame, welche die Kochlehrerin gespielt, musste es also gut verstanden haben, und Frau Purzel konnte ein entschiedenes Talent für die Kunst Brillat-Savarins nicht abgesprochen werden — dagegen war nichts einzuwenden.

Dagegen war es weniger angenehm, dass der Salon, in den man sich nach beendetem Diner begab, stark nach den gehabten Genüssen duftete, weil die Kammerjungfer der Gräfin dort gespeist hatte, und darum war es auch entschieden deplaciert, wenn nicht direkt falschen Tatsachen huldigend, als Frau Welten sich an das Piano setzte und mit schöner Altstimme davon sang, „dass der Flieder betäubend in der schwülen Sommernacht duftete.“ So etwas lässt sich, wenn man die Nase voll Knoblauch hat, schwer suggerieren, aber was nimmt der Kulturmensch in seiner Höflichkeit nicht alles hin, ohne zu zucken!

Trotz dieser Vergewaltigung seines besseren Wissens durch die Macht des Gesanges stieg der Major, als alle sich zurückzogen, nur ungern in seine kalte ungemütliche Bude von Schlafzimmer mit seiner Thussi hinauf. Auf der Treppe begegnete ihnen Frau Purzel und teilte ihnen mit, dass die Damen morgen früh abreisen würden, Fuchsens das Zimmer also alsbald haben könnten. Dann erkundigte sie sich, wann die Herrschaften zu frühstücken wünschten und als der Major, weil er „ausschlafen“ wollte, als besonders späte Stunde acht Uhr nannte, da meinte Frau Purzel lächelnd: „Sie scherzen, mein Herr!“ Fuchsens legten auf diese eigentümliche Antwort kein Gewicht, sagten „gute Nacht“ und machten, dass sie in die kalten, sich zäh anfühlenden Betten kamen, ohne diese einer besonderen Inspektion zu unterziehen.

Der Schlaf kommt aber in fremden Zimmern und Betten, in denen man vergebens nach der richtigen, vertrauten Kuhle sucht, nicht so rasch wie daheim — dann betete nebenan die Gräfin mit ihrer Cameriera lange, lange Litaneien mit monotonem Gemurmel, oft unterbrochen durch lebhafteste weltliche Einfälle — endlich auch plätscherte der See mit ungewohntem Geräusch gegen die Mauern der Gartenterrasse und im Hause war ein ewiges Gerenne, Geklappre und Geplappre — kurz, die Glockenspiele der zahlreichen Kirchen von Stadt und Umgebung hatten längst die Mitternacht eingeläutet, als die guten Fuchsens endlich einschliefen. Die Konsequenz dieser ungewohnt späten Zeit war natürlich ein gründliches Verschlafen, denn als der Major mit dickem Kopf erwachend auf die Uhr sah, zeigte diese auf halb neun. Zwar, im Hause war alles noch totenstill und so ruhig, dass der Major seinen Säger ans Ohr hielt, um sich zu vergewissern, dass er auch ging. Doch das Ticktack war tadellos in Ordnung, und nun beeilte sich das würdige Paar, in die Kleider zu kommen, was die Kellertemperatur des Zimmers entschieden förderte. Ob die Gräfin nebenan schon gebetet hatte? Thussi, die eher wach gewesen, behauptete „nein,“ und als die beiden bald zum Speisesaal herabstiegen, machten sie die Entdeckung, dass das ganze Haus noch im Schlummer liegen musste. Sollte des Majors Uhr, die nun auf neun zeigte, dennoch —

Ein Donnergepolter an die Haustür, das wie ein auf Holz geschlagener Generalmarsch klang, unterbrach diese neuen Zweifel, und da der Major gerade dahinter stand, so machte er die Tür einfach auf. Es waren der Bäcker und der Briefträger, die in dieser energischen Weise Einlass begehrten und ihre Ware bezw. Post einfach auf den Major und seine Gattin abluden. Während Frau Thussi noch im Zweifel war, wo sie mit den Wecken hin sollte, und der Major standhaft seine Unterschrift für einen chargierten Brief an den Chasseur-Kapitän verweigerte, erschien zum Glück der Herr des Hauses und machte der eigentümlichen Situation seiner Gäste ein erwünschtes Ende. Lieblich sah er nicht aus, der Cherub! Sein goldenes Gelock hing ihm verrauft um das verschlafene Gesicht, aus dem der Katzenjammer zum Himmel schrie, seine Füsse steckten in lebhaft bunten Pantoffeln und seinen Leib umhüllte ein schmutzstarrender alter Überzieher mit heraufgeschlagenem Kragen, den er wegen gänzlich mangelnder Knöpfe keusch über dem Leibe zusammenhielt.

„Nein, was die Herrschaften aber früh auf sind,“ sagte er nach Erledigung von Bäcker und Briefträger mit verschleierter Stimme.

„Fünf Minuten nach neun — nennen Sie das früh?“ fragte der Major.

„Aber wer steht denn ummer nein schon auf!“ entgegnete der Cherub mit leichtem Tadel. „Die Angiolina ist ja noch nit amal aus den Federn!“

Nun begriff der Major die rätselhafte Rede der Frau Purzel von gestern abend, als sie das Frühstück um acht Uhr für einen Scherz hielt! Und er fragte sich mit sinkenden Lebensgeistern und knurrendem Magen, wie er es in diesem gastlichen Hause zuwege bringen sollte, bis um zehn früh zu schlafen oder ohne Frühstück zu bleiben?

Die Angiolina, das heisst das Zimmermädchen, aber war besser als ihr Ruf, denn sie erschien eben auf der Bildfläche, ungewaschen, unfrisiert, aber freundlich lächelnd und bildhübsch. Eilig klapperte sie mit ihren „soccoli,“ den landesüblichen Holzpantoffeln mit hohem Absatz die Treppe herab und versprach „subito, subito“ das Frühstück, denn die Damen auf Nr. 2 wollten ja nachher bald abreisen. Das erweckte den Cherub zu der Erinnerung, dass er ja einen Wagen zur Bahn zu besorgen habe, und weil mit Ausnahme der Vizinalbahnen sich alle Eisenbahnen durch die Unfreundlichkeit und Rücksichtslosigkeit auszeichnen, nicht zu warten, so verduftete er in seine innersten Gemächer, um nach einer hastigen Toilette seinen Pflichten als Wirt zu genügen.

Der Major aber und seine Gattin, nachdem sie einen Blick in den durchaus für ein Frühstück unvorbereiteten Speisesaal geworfen, traten in den Garten hinaus und betrachteten stumm die landschaftliche Herrlichkeit, die sich in vollem Sonnenschein vor ihnen ausdehnte. Wenn der Mensch ordentlich gefrühstückt hat, macht sich so etwas entschieden besser und darum ertappte sich der gute Major auch auf der Frage an das Schicksal, warum der Schöpfer in ein so paradiesisches Land solche schlampige, unpünktliche und verschlafene Geschöpfe gesetzt — aber was half alles Hadern? Klappernd vor innerem und äusserem Frost pinscherten die armen Opfer ihres gläubigen Vertrauens in die wohlgeregelte Ordnung einer „erstklassigen“ italienischen Familienpension in dem reifbedeckten Garten hin und her, bis nach einer guten halben Stunde Angiolina strahlend mit der Meldung kam, dass der Tee „schon“ fertig sei. Nicht gerade sehr zum Essen gereizt durch Angiolinas Aussehen, den wenig verlockend gedeckten Tisch in dem hundekalten, ungeheizten Speisesaal, folgten sie dem ersehnten Rufe — der Tee an sich war ja gut, aber er war natürlich mit lauem Wasser in der kalten Kanne gebrüht (ein so häufig gemachter Fehler), und verdiente daher trotz seiner persönlichen Güte den Namen einer ruppigen Tunke.

„Trinken wir lieber morgen Kaffee,“ schlug Frau Fuchs vor. „Den werden sie ja vielleicht kochen, dann ist er doch aber wenigstens warm!“ Ach, wie bescheiden wird der Mensch doch unterwegs!

Eine eingehende Befragung Angiolinas brachte Fuchsens die heilige Versicherung, dass ihr neues Zimmer sicherlich bis Mittag bereit sein würde — in einer Stunde stünden die Fräuleins Purzel ja „schon“ auf und würden dann beim Aufräumen gewiss einmal mithelfen. Frau Thussi erkundigte sich, wie es denn mit dem Scheuern der Dielen wäre, die leider im ganzen Hause roh waren, denn die gute Seele legte keinen Wert darauf, sich in dem feuchten Dunst eines frischgescheuerten Zimmers mit tödlicher Sicherheit einen solennen Schnupfen zu holen. Andererseits aber legte sie wieder grossen Wert auf die gründliche Reinigung dieses von Fremden vorher bewohnten Raumes. Doch das begriff Angiolina ganz und gar nicht — man scheuerte die Zimmer alle Jahre in der Woche vor Ostern — wozu denn dann drei Wochen vor Weihnachten schon? Das wäre ja etwas ganz Unerhörtes, ganz Ungewohntes — sie wolle es der Signorina sagen und die Padrona fragen, aber wozu denn in aller Welt ein Zimmer scheuern, das doch erst letzte Ostern mit grüner Seife und einer fast neuen Bürste gewaschen worden war? Und kopfschüttelnd über die sonderbaren Ideen der immer nur „Waschen! Waschen!“ verlangenden, verrückten Tedeschi, klapperte sie auf ihren soccoli in die Küche zurück.

Im Schreine ihres Herzens die Hoffnung ad acta stellend, machten Fuchsens sich nach ihrem unbefriedigenden Frühstück auf den Weg zu einem Gange durch die Stadt — das war besser, als hier zu frieren oder Trübsal zu blasen. Angeregt und erfrischt kamen sie um ein Uhr zum Lunch zurück — das war jedenfalls bereit, das Zimmer natürlich nicht. Merkwürdigerweise war auch der Cherub zur Stelle, und die vortreffliche Mahlzeit wirkte insoweit günstig auf Fuchsens, dass sie sich ohne Murren gleich darauf zur Schiffslände begaben, um durch eine kleine Dampferfahrt das Warten auf ihr Zimmer abzukürzen.

Als sie so gegen fünf Uhr zurückkehrten, verkündigte die ihnen vor dem Hause beschäftigte Angiolina — das arme Mädel hatte noch nicht Zeit gehabt, mit Seife und Kamm ihre Toilette zu vervollständigen — dass das Zimmer bereit sei: „Una stanza bellissima!“ setzte sie begeistert hinzu und führte die gleichfalls begeisterten Fuchsens gleich in ihr neues Reich. Nun, ja — die Sonne leuchtete noch hell hinein in das Zimmer und das war schon hundertmal besser als das dumpfe, finstre Loch, in das sie vor vierundzwanzig Stunden gesperrt worden waren, und durch die zwei Fenster hier hatten sie die herrlichste Aussicht über den See, auf dem der Sonnenuntergang gerade alle Farben des Spektrums und noch Hunderte von Mischungen zauberte —

Gross war das Zimmer eben nicht und die Einrichtung war von einer rührenden Einfachheit. Auf der Chaiselongue lag eine üppig bestickte Jutedecke, in deren Mitte ein anständiges Dreieck klaffte, und der gute Major wunderte sich, wer das gerissen haben konnte, weil doch sicher niemand so leichtsinnig sein konnte, sich auf dieses Möbel zu setzen, wenn er oder sie die Kleider mit Jutefasern nicht bedeckt haben wollte, die sich so schwer herausbürsten lassen. Der neben dem Tisch stehende Lehnsessel bewies, dass er zum Sitzen bevorzugt worden war, denn sein ehedem üppiger Plüschbezug war auf dem Sitze kreisrund total herausgesessen und flatterte sonnenblumenartig um das Loch in der Mitte. Ein zweiter, auch etwas defekter Rohrstuhl, ein mit überreich gesticktem, aber fürchterlich schmutzigem Deckchen belegter Nachttisch zwischen den beiden Betten, und eine kleine Waschkommode vollendeten die Einrichtung, wenn man die beiden spucknapfgrossen Waschschüsseln nicht mit rechnete und die dazu gestellten, aber einer andern Sorte angehörigen Krüge, von denen dem einen der Henkel und dem andern die Schnauze fehlte.

Frau Thussi überflog mit kundigem Hausfrauenauge diese und andre Details und wechselte dann mit ihrem Manne einen Blick, der Bände sprach. Aber kurz entschlossen sagte sie dann zu der diese Herrlichkeiten verzückt betrachtenden Angiolina, dass sie Frau Purzel zu sprechen wünsche und zwar gleich. Angiolina verschwand also und Frau Fuchs setzte sich, immer noch in Hut und Mantel erwartungsvoll auf den Rohrstuhl, während der Major zum Fenster hinaussah — sprechen taten die beiden nicht und wozu auch? Die Tatsachen redeten ja. Nach einer Weile klopfte es und Fräulein Centa Purzel erschien, einen Strähn Strickgarn um den Hals. Sie entschuldigte ihre Mutter, die in der Küche beschäftigt sei und nicht abkommen könnte und fragte, ob die Herrschaften noch etwas wünschten und ob das Zimmer ihnen gefiele, es sei eins der besten im Hause.

„Ja, liebes Fräulein, die Lage ist sehr schön, aber ich habe doch noch einige Wünsche,“ sagte Frau Fuchs, direkt aufs Ziel losgehend. „Erstens mal hat man vergessen, den Fussboden sauber zu machen — o ja, gekehrt ist er wohl, aber nicht gewaschen.“

„Doch, man hat ihn letzte Ostern erst mit Soda und Seife geschrubbt,“ erwiderte Fräulein Purzel liebenswürdig.

„Sicherlich, da Sie es sagen — aber man sieht es nicht mehr,“ erwiderte Frau Fuchs ebenso. „Könnte man die Dielen — uns zu Gefallen, nicht einmal ausser der Zeit waschen lassen? Wir legen sehr viel Wert darauf.“

„Gewiss — aber es ist so ungewöhnlich,“ meinte Fräulein Purzel zögernd, „und,“ setzte sie sanft hinzu, „und es hat auch gar keinen Wert, denn man tritt doch wieder auf den Boden und dadurch wird er wieder schmutzig.“

„Na, das ist unsre Sache — dann wird er eben wieder gewaschen,“ erklärte Frau Fuchs zum unbegrenzten Staunen ihrer Wirtstochter. „Ferner, sehen Sie einmal, die Fenster sind nicht geputzt und die Gardinen sind ja kohlschwarz vor Staub, hier in dieser ist auch ein sehr hässliches Loch.“

„O, Angiolina kann die Scheiben morgen etwas abwischen, wenn Sie Wert darauf legen,“ meinte die hübsche Centa bereitwillig. „Die Gardinen wird man nächste Ostern wieder waschen, wie es sich gehört — man lässt sie doch überall ein Jahr hängen. Dann wird man über das Loch mit Stärke einen Gardinenfetzen pappen und anbügeln. So machen wir’s immer — es ist sehr kommod —“

„Sehr! Aber inzwischen —“

„O, dann steckt man’s mit einer Stecknadel zu —“ und sie liess dem Wort die Tat folgen. „Ecco — là — sieht’s so nicht wieder hübsch aus?“ fragte sie voll naiven, freudigen Stolzes, der die gute Frau Fuchs einfach starr machte.

„Dann wäre hier die Decke auf dem Sofa — es ist ein Loch hineingerissen,“ sagte sie nach einem Momente der Sammlung.

„Ja, das hat ein Herr gerissen, der im Sommer hier wohnte. Ist’s nicht schrecklich, wie leichtsinnig manche Gäste einem die besten Sachen ruinieren?“ fragte Fräulein Purzel mit sanftem Vorwurf. „Die Dame, die zuletzt hier war, hat das Loch immer stopfen wollen und nun hat sie’s doch nicht getan. Ja, ja, man kann sich schon gar nicht darauf verlassen, was einem die Leute versprechen!“

Wieder hatte Frau Fuchs mit einem Anfall von Fassungslosigkeit zu ringen.

„Und hier dieser Fauteuil,“ sagte sie dann, „der Sitz ist doch eigentlich ganz zerlumpt —“

Den Kopf seitwärts geneigt, betrachtete Fräulein Purzel tiefsinnig lange das fragliche Objekt.

„Das kommt vom vielen Draufsitzen,“ löste sie dann das Problem mit grosser Bestimmtheit. „Aber,“ fuhr sie freudestrahlend fort, „man sieht es nicht, wenn man sich drauf setzt.“

„Nein — dann sieht man es allerdings nicht,“ murmelte der Major verblüfft über diese einfache Lösung.

„Wünschen Sie sonst noch etwas?“ fragte Fräulein Purzel liebenswürdig.

„Ja,“ rief Frau Fuchs, sich von ihrer Verblüffung erholend, „sehen Sie dies Deckchen hier auf dem Nachttisch — es ist entsetzlich schmutzig!“

„Nur auf der oberen Seite,“ war die liebreiche Erwiderung nach erfolgter Inspektion. „Man dreht es um — so, da ist es noch ganz rein. Man darf solche Stickereien nicht zu oft waschen, sonst verliert die Farbe. Ich habe der Angiolina gleich gesagt, sie sollte die Decke umdrehen, aber sie ist so vergesslich, die brutta ragazza — Sie ahnen nicht, wie vergesslich sie ist! So, nun ist alles in Ordnung!“

„Nein,“ rief Frau Fuchs sich verzweifelt gegen diese harmlose Auffassung wehrend, „nichts ist in Ordnung! Hier z. B. in diesem Bett, da hat das Oberlaken einen grossen Riss!“

„O la la!“ machte Fräulein Purzel kopfschüttelnd. „Den hat gewiss die Angiolina gerissen! Nun, zum Glück trifft er ja auf den Überschlag und bei Tage liegt die Bettdecke darüber, da sieht man ihn nicht!“

„Und die Waschkrüge sind beide zerschlagen und wir haben keinen Kleiderschrank im Zimmer!“ rief Frau Fuchs, ihre letzte Kraft zusammennehmend.

„Ja, man hat hier keinen Platz für einen Schrank — an den Türen kann Papa noch ein paar Haken einschrauben, dann wird es wohl gehen,“ erwiderte die Tochter des Cherubs entgegenkommend. „Und die Krüge sind nicht zerschlagen, nur etwas angeschlagen — die gehen noch lange so. Angeschlagenes Porzellan hält immer am längsten. Sehen Sie, das macht die Angiolina, wenn sie das Wasser holt! Das geht nur so: eins — zwei — drei und dabei klirrrr — gegen die Wasserleitung. Ja, ja, diese Mädchen!“

Frau Fuchs kannte die deutsche Jeremiade gegen die Dienstboten auswendig und unterbrach daher die italienische kurzweg. „Die elektrische Leitung ist auch unterbrochen — man kann nicht läuten,“ sagte sie pflichtgemäss den nächsten Defekt aufdeckend.

„Ja, die Klingeln gehen im ganzen Hause nicht,“ gab Fräulein Purzel bereitwilligst zu. „Papa will sie nächstes Frühjahr alle herstellen lassen, denn für den Winter, wo fast keine Gäste da sind, lohnt es sich nicht. Wenn Sie etwas brauchen, dürfen Sie nur ‚Angiolina‘ zur Tür hinausrufen!“

„Sehr einfache Lösung der Klingelfrage,“ murmelte der Major, und das stachelte seine Frau zum letzten Versuch an.

„Man kann die Tür nicht zuschliessen,“ sagte sie matt. „Es ist überhaupt gar kein Schlüssel da!“

„Nein, der ist schon lange verloren,“ gab Fräulein Purzel mit einer eloquenten „futschikato — perduto“ Handbewegung zu. „Aber Sie können ganz unbesorgt sein — Sie sind auch unverschlossen im Hause so sicher, wie auf der Bank im eisernen Geldschrank, wie Papa zu sagen pflegt. Wir selbst schlafen immer bei offenen Türen! Also, das wäre alles? nicht wahr? Es freut mich, dass Sie zufrieden sind mit Ihrem Zimmer. Die Gäste sind alle immer so zufrieden bei uns — freilich, die Zimmer sind so schön und bequem, Mama kocht so gut und Papa ist so liebenswürdig! Wünschen Sie etwa eine Lampe? Gut, Angiolina wird gleich eine bringen. Guten Abend.“

Und damit ging sie in heitrer Ruhe und die guten Fuchsens sahen sich wortlos eine ganze Weile an.

„Du, Thussi,“ sagte der Major nach einer Weile, „das Mädel hat nicht etwa unverschämt sein wollen — i, keine Spur! Das war innige, feste Überzeugung und glänzende Ignoranz dessen, was wir Hyper-Kulturmenschen unter ‚Komfort‘ verstehen. Ganz harmlose Seelen sind das hier im Hause, harmlos und dreckig. Das ist ein nationaler Naturzustand, wobei sie keine Ahnung haben, dass er andern als solcher auffällt und gegen den Strich geht. Hast du diesen Zettel neben dem stummen Knopf der elektrischen Klingel bemerkt? Es ist der gleiche wie unten im Entree und ersucht die Gäste in vier Sprachen, Zimmer und Sachen nicht zu beschmutzen. Das ist eine ganz gerechtfertigte Ermahnung, denn wenn die Gäste gerade so wären, wie die Wirte, dann müsste das Haus statt ‚Bellavista‘ längst schon ‚Pension Porcile‘ heissen. So aber sind die Gäste infolge dieser viersprachlichen Ermahnung hübsch brav, na, und desto besser kann die Familie sich nach dieser Richtung ausleben.“

Frau Fuchs musste unwillkürlich lachen.

„Du hast recht, Alter,“ sagte sie, „wir müssen die Sache von der humoristischen Seite nehmen, sonst wär’s nicht zum Aushalten. Schliesslich gibt’s ja auch noch das schöne Wort ‚Ausreissen‘ in der deutschen Sprache. Aber es ist kalt hier und der Ofen — traust du dem Ofen grosse Dinge zu, August?“

„Thussi,“ erwiderte der Major mit erhobenem Zeigefinger, „greife mir diesen Ofen nicht an, diesen lieben, ‚eisernen, Hund‘ meiner Junggesellentage! So lange er brennt, bringt er dich auf der ihm zugekehrten Seite zum Braten, während dir auf der andern Seite die Kiefern vor Kälte klappern. Und mit seinem Erlöschen klapperst du dann auf beiden Seiten. Das Rohr führt auch direkt in die freie Natur, die dadurch ihren Löwenanteil von der Heizung bezieht. Der Mensch muss nicht alles allein für sich haben wollen, Thussi, und nirgends wird der Zweck der Heizung so sehr verkannt, als im Süden.“

Das Erscheinen der Lampe unterbrach diesen lehrreichen Vortrag und mit einer gewissen Befriedigung konstatierten Fuchsens, dass dieser Beleuchtungskörper sich in jeder Hinsicht dem Ganzen harmonisch anfügte. Wahrscheinlich reinigte man hier die Lampen auch nur zu Ostern, wie der mit dem Russ vom Docht angefüllte innere Raum verriet, Zylinderputzer schienen in Bellavista unbekannte Instrumente zu sein und auf total verbogenem Drahtgestell senkte betrübt ein verstaubter fettiger Lampenschleier von Seidenpapier unbestimmter Farbe seine zerknüllten Falten herab.

„Ecco — una lampa bellissima!“ sagte Angiolina strahlend vor Stolz, doch als sie hinaus war, putzte Frau Fuchs, so gut es ging, mit Einpackpapier und was sie sonst zur Hand hatte, die Lampe, wie es jedenfalls auch laut dem Viersprachenerlass von ihr erwartet wurde und wie es ihre Pflicht als Gast einer Familienpension war.

Mit dieser nützlichen Beschäftigung und dem Auspacken der notwendigsten Gegenstände verging die Zeit bis zum Diner rasch genug.

Unten im Speisesaal trafen Fuchsens zu ihrem Erstaunen schon den Cherub an, der, sich in strahlender Laune die Hände reibend, mit seinen Gästen konversierte.

„Guten Abend, Herr Purzel — heut’ schon früher von den Geschäften zurück?“ fragte der Major.

„I, jo, was denken’s denn?“ lachte der Cherub behaglich. „Wenn i woass, dass ’s wos extra Guts zum Schnabulieren gibt, da sollens mal schauen, wie i z’ Haus renne!“

„So? Was gibt’s denn heute Extragutes?“ fragte der ungarische Rittmeister interessiert, aber nicht ohne Misstrauen.

„Hasenpfeffer gibt’s!“ erklärte der Cherub und schnalzte mit der Zunge im Vorgenuss dieser Delikatesse. „Sie müssen nämlich wissen, Herr Major, dass der Has hier z’ Land a mordsseltner Vogel is und teuer is er — sündhaft teuer, sag i Ihnen!“

„Na, hören Sie mal, Purzel, Sie sind mir der Rechte,“ fiel der Rittmeister ein, „Sie haben vor ein paar Tagen Stimmen gesammelt für Ihren Hasenpfeffer und da haben wir alle gesagt, wir mögen ihn nicht. Und nun kommt er trotzdem auf den Tisch?“

„Ja, nun, mer is doch a noch da!“ rief der Cherub etwas pikiert über diese Rücksichtslosigkeit seines Gastes. „Und für Hasenpfeffer lass i halt nu mal mein Leben! Der Herr Major und die gnädige Frau werden ihn schon essen.“

„Hasenpfeffer ist so ziemlich das einzige Gericht, das weder meine Frau noch ich mögen,“ erklärte der Major mit Entschiedenheit.

„Da haben Sie’s!“ machte der Rittmeister unwirsch.

„Nu, da bleibt halt alles für mich,“ meinte der Cherub befriedigt. „Wenn mer alle Leut’ fragen wollte, was sie essen, da hätt’ mer viel z’ tun!“

„Sie haben aber gefragt und keiner hat Ihren verflixten Hasenpfeffer gewollt,“ behauptete der Rittmeister schlecht gelaunt. „Gestern Ihre Knoblauchsuppe und heut’ Ihren intingolo — puh!“

„Ja, aber für Hasenpfeffer lass i mi nun mal hängen.“ Herr Purzel bestand auf seinem Schein, und der Major dachte mit Wehmut der Zeit, wo vom Menü der Pension Malepartus alle seine Lieblingsgerichte gestrichen wurden, weil er nicht wagte, sie seinen Gästen aufzudrängen.

„Solltest du wirklich ein Esel gewesen sein, August Fuchs?“ fragte er sich zweifelnd.

Nun, der Hasenpfeffer blieb dem Cherub wirklich allein und er schmeckte ihm so ausgezeichnet, dass er sich die Platte dreimal servieren liess und während der Zeit konnten die Gäste sich unterhalten, oder die Teller putzen oder zusehen, wie ein Cherub speiste und sich nach minuziösem Beknabbern der Knochen mit vor Wonne zugekniffenen Augen alle zehn Finger sauber ableckte.

Die Leute, die schon länger den Vorzug genossen, Gäste der Pension Bellavista zu sein, schienen an der Sache nichts zu finden, sie waren offenbar gut gezogen und an den Scherz gewöhnt, aber der Major war doch etwas fassungslos.

„Du, Thussi,“ sagte er am Abend zu seiner Frau, indem er seinen Fuss aus einem grossen Loch im Unterlaken seines Bettes zu befreien versuchte, „wenn der Kerl nicht die harmloseste Unverfrorenheit in Person wäre und einen damit einfach entwaffnete, hätte man bei der Hasenpfeffer-produktion eigentlich die Serviette hinlegen — oder sie ihm an den Kopf werfen — und hinaus marschieren müssen. Ich muss doch mal morgen in dem Fremdenbuche nachsehen, ob der Bachleitner auch hier war und da her seine guten Lehren hat.“

„Sieh lieber nach, ob’s nicht noch andere Pensionen hier gibt,“ murmelte Frau Fuchs in den Riss in ihrem Oberlaken hinein.

Am nächsten Morgen gingen Fuchsens überhaupt erst um neun Uhr hinunter und kamen gerade dazu, wie Angiolina dem Bäcker die Wecken abnahm und zwar in ihre Schürze hinein, die man gewiss vergessen hatte, letzte Ostern mit zu waschen. Dieser liebliche Anblick gab den Ausschlag. Über Nacht hatten wieder mildere Gefühle im Busen des Majors gekeimt, dessen ritterliche Rücksichtnahme gegen alle Welt ihm die Kränkung des immerhin wirklich harmlosen Cherubs durch eine beschleunigte, wenn nicht gar brüske Abreise verbot. Aber was zu toll war, das war zu toll, und als bald darauf Herr Purzel in demselben reizenden Negligé wie gestern früh erschien, da sagte ihm der Major in den rücksichtsvollsten Wendungen, um den Guten ja nicht zu verletzen, dass er leider hier nicht bleiben könne, weil ihm die Luft so dicht am See oder vielleicht auf dieser Spezialstelle nicht bekäme. Der Cherub nahm diese Mitteilung heiter entgegen.

„’s ist merkwürdig,“ sagte er, den knopflosen Paletot dichter um seinen Leib ziehend, „i hab’ schon so viele Gäst’ g’habt, die exakt dasselbe g’sagt haben. Mein Freund, der Borso dort an der Ecken, hat mir schon oft g’sagt: Purzel hat er g’sagt, sei kein Esel, hat er g’sagt, d’ Leut reissen dir aus, weil’s net elegant g’nug bei dir is, weil d’ nix auf den Komfort gibst und weil d’ Bedienung z’ schlecht bei dir is. Hat der Borso g’sagt, der Oberkellner g’wesen ist im Grand Hotel in Mailand und jetzt a eignes G’schäft hat. I hab’ g’lacht, wenn er so g’sprochen hat und hab’ ihm g’sagt, Borso, hab’ i g’sagt, der Esel bist du. Mir hat noch koan Gast g’sagt, dass er deswegen auszieht — wer weggeht, der geht, weil er d’ Luft so dicht am See net verträgt. Ja, dagegen kann mer nix sagen.“

Als der Major mit seiner Frau allein war, meinte er:

„Du, Thussi, die Rede, die uns der Cherub da geschwungen hat, war mir eigentlich sehr lehrreich. Warum sagt man nicht: Hören Sie, mir passt’s nicht in Ihrem Hause, weil ich die Ordnung darin vermisse, sondern man redet von unbekömmlicher Luft. Und warum? Weil man Auseinandersetzungen scheut und den Mann nicht verletzen will, auch nicht das Herz hat, ihn aus seinen Himmeln zu reissen und ihm den seligen Glauben zu nehmen, dass alles vollkommen bei ihm ist. Im Gegenteil, wir nähren diesen Glauben in ihm. Er hat noch nie was Besseres gesehen, als seine eigne Hm — bucht hier, woher soll er’s aber besser wissen? Sein Freund Borso ist eine Schwalbe, die keinen Sommer macht, solange die Gäste sich nicht an dem Liebeswerke des ‚Starstechens‘ beteiligen. Aber glaub’ mir, die meisten Deutschen kommen hier herein, halten diese niederträchtige Wirtschaft für typisch italienisch und verhimmeln die ‚reizende Naivität‘. Trotzdem fasse ich’s nicht, auf welche Weise dieser Purzel zum ‚Stern‘ im Reiseführer gekommen ist! Na, geht mich nichts an — mein Lehrgeld hab’ ich hier bezahlt und damit basta! Jetzt heisst’s ein andres Obdach suchen. Hier im Führer steht zum Beispiel gleich nach unserer Bellavista zehn Minuten weiter in schöner Lage ‚Pension Miramonte‘, deutscher Wirt. Sonst nichts, kein Stern, keine Empfehlung — wollen wir uns dieses Miramonte trotzdem mal ansehen? Denn die Lage ist gut auf dieser Seite, sonnig und geschützt.“

Ansehen verpflichtet nicht, folglich konnten Fuchsens ihr Vorhaben ohne jede Gefahr ausführen und ehe man sich noch so recht in Bellavista zum Aufwachen entschloss, wenigstens von seiten der Wirte, waren sie schon unterwegs in dem leuchtenden Morgen, immer entlang am See, wo in dieser Richtung die Vegetation vermöge der geschützten Lage ganz und gar südlich war und die Palmen im freien Lande unverpackt heiter dem Winter entgegensahen, der hier ebenso schnell und über Nacht kommt, wie der Frühling. Der schöne breite Weg brachte sie wirklich nach einer scharfen Biegung in wenig mehr wie zehn Minuten vor ein eisernes Gartentor mit dem Schilde „Pension Miramonte“ darauf, und durch dieses in einen schönen wohlgepflegten Garten mit Palmen und immer noch herrlich blühenden Blumenbeeten. Durch eine kleine Allee von alten Steineichen kamen sie dann an das Haus, ein sauberes Gebäude im italienischen Villenstil, vor dem ein „Portier“ in goldberänderter Mütze und grüner Schürze den Kiesplatz harkte. Eine Frage an dieses jung und kräftig aussehende Individuum brachte alsbald die Wirtin zur Stelle — eine noch jugendliche, wie aus dem Ei geschälte saubere Frau, die freundlichst zum Nähertreten aufforderte und dabei die Tür zu einem mit behaglicher Eleganz eingerichteten Salon öffnete, dessen hohe Glastüren wiederum auf eine von allen Seiten geschlossene sehr grosse Veranda herausführten, die wie das ganze Haus mit Zentralheizung erwärmt, eine Menge behaglicher Plätze bot, und von der man die herrlichste Aussicht über See und Berge genoss. Fuchsens stammelten nun ihre Bitte nach Unterkunft — sie seien drunten in der Pension Bellavista abgestiegen, aber die Luft dicht am See bekäme ihnen nicht usw. usw. Frau Schumann, die ganz wie eine Dame aussah, lachte herzlich.

„Ach,“ sagte sie, „wir haben viele Gäste, denen in Bellavista die ‚Luft nicht bekommen‘ ist. Dabei liegt das bei den sonst so braven Purzels nicht etwa an den Mitteln — das sind ganz vermögende Leute — sondern aus purem geschäftlichen Unverstand. Wenn die Leute nur einmal ein besseres Haus sehen wollten, dann müssten ihnen die Augen doch aufgehen, aber sie sehen nur ihre eigne Bude und halten sie für den Inbegriff des Komforts und der Eleganz. Und dann meinen sie eben, die Gäste sind ihretwegen da und müssten sich nach ihnen richten — ja lieber Himmel, bei uns kommen erst die Gäste und dann wir!“

„Ganz mein Prinzip!“ rief der Major enthusiastisch. „Thussi, wir werden uns wohl hier fühlen! Denk’ nur, hier wird nach unserem Prinzip gearbeitet, nicht nach dem Bachleitners!“

„Bachleitner? Herr Alex Bachleitner?“ fragte Frau Schumann. „O, den kennen wir sehr gut — das ist ein Geschäftsmann in unsrer Branche — grossartig. Von dem kann man lernen — mein Mann hat nämlich bei ihm gelernt. Vor einer Stunde noch hätte ich bedauern müssen, denn wir haben das Haus bis unters Dach voll, aber eben hat uns eine Partei abgeschrieben und Sie können nächsten Montag das grosse Doppelzimmer haben. Wenn Sie einen Moment warten wollen, will ich einmal sehen, ob man Ihnen die Räume zeigen kann, die noch bewohnt sind.“

Fuchsens erklärten, Zeit zu haben und Frau Schumann ging hinaus, die Tür nach dem behaglich geheizten und teppichbelegten Treppenflur offenlassend. Durch eine breite Glastür sah man von da in den grossen Speisesaal, in dem eine weissbeschürzte Kellnerin eben die Tafel deckte, die mit all dem Komfort ausgestattet war, den man daheim gewöhnt ist. Eine andere Glastür führte in einen mit „Bureau“ bezeichneten Raum. Während Fuchsens das zur Notiz nahmen, ertönte plötzlich aus der oberen Etage wildes Geschrei und Gepolter und zwei Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren stürzten sich knuffend und puffend unter indianerartigem Gebrüll die Treppe herunter und stürmten ins Freie, die Haustür mit scharfem Knall hinter sich zuwerfend.

„Donnerwetter!“ sagte der Major, für den es kein grässlicheres Geräusch gab als zugeworfene Türen. „Das sind ja ein paar tolle Lümmel.“ Bei diesem aus tiefstem Herzen kommenden Ausrufe, trat eine alte Dame, die bisher auf der Veranda gesessen, in den Salon.

„O,“ sagte sie mit dem heiseren und doch scharfen Organ der alten Italienerinnen, „ist eine onta, was machen diese ragazzi für eine Lärm. Weiss man nicht, wer ist schlimmer, diese Godofredo oder diese Pablo. Ist ihre Mutter zu dick und zu zwack, ihnen zu verbieten. Aben ich immer die grösste Lust, ihnen zu geben eine tüchtige schiaffo, die südamerikanische monelli!“

„Sind Sie schon längere Zeit hier im Hause, gnädige Frau?“ fragte der Major, indem er sich beeilte, diese günstige Gelegenheit zu benutzen.

„O ja, schon seit zwei Monaten,“ erwiderte die freundliche alte Dame. „Bin ich ganz zufrieden bis auf die Lärm von diese ragazzi und wenn die cuocchina macht einen Zweinebraten. Kann nicht vertragen, die Zweinebraten, machen mir zwacke Beine. Nun, kann man nicht verlangen Vollkommenheiten in eine Fremdenpension. Ist noch nicht die s’limmste hier. Wollen Sie auch kommen ’er?“

Der Major erklärte, dass er die Absicht habe, und in diesem Moment erschien auch Frau Schumann wieder und lud zur Besichtigung des Zimmers ein. Dasselbe war geräumig und hübsch, ja elegant möbliert mit allem, was der moderne Mensch zu seinem Behagen braucht und hatte einen grossen, mit dicken Portieren abzuschliessenden Alkoven, in dem die Betten und Waschtische standen und den gleichfalls ein breites Fenster beleuchtete. Fuchsens erklärten sich sehr einverstanden mit diesem Gemache, das ihnen im Vergleich mit ihrem Zimmer in Bellavista fürstlich vorkam und es wurde ausgemacht, dass Attilio, der Portier, ihr Gepäck Montag in der Frühe holen sollte.

Hochbefriedigt verliessen Fuchsens nach erledigten Präliminarien die Villa, sprachen im Hinblick auf ihr abzuholendes Gepäck den immer noch fleissig harkenden Attilio an, der sich übrigens trotz seines italienischen Namens und dito Geburt des schönsten Schweizerdeutsches bediente. Während sie ihm sagten, was alles herüberzuschaffen sei, ging ein hühnenhaft grosser Herr mit glattrasiertem, klugem Gesicht und scharfen, durchdringenden Augen an ihnen vorüber, der kaum aus Gehörweite war, als auch Attilio im Theaterflüsterton vertraulich sagte: „Das ischt e Taubstummer — der schreibt alles auf, was andre sagen.“

„Merkwürdig aufgeweckte Physiognomie hat der Mann für einen Taubstummen,“ bemerkte Frau Fuchs, als sie weitergingen. „Wenn man’s von dem nicht besser wüsste, würde man sagen: der hört das Gras wachsen!“

„Dass so ein Mann auf Reisen gehen kann, ist wunderbar,“ meinte der Major und dann schwelgten die beiden in der Vorfreude ihres Umzuges in die Pension Miramonti, indem sie nur bedauerten, in Bellavista die nette Gesellschaft zurücklassen zu müssen.

„Jedenfalls, Thussi,“ sagte der Major mit Betonung, „jedenfalls ist es für uns sehr lehrreich, eine Pension gefunden zu haben, die nach Bachleitnerschen Grundsätzen geführt wird. Da werden wir ja gleich sehen, wie er es gemeint hat und wie er’s gemacht haben will. Besser konnten wir’s ja gar nicht treffen!“

Befriedigung in ihren braven Herzen langten sie vor der „Bellavista“ wieder an und stiessen in der Tür mit Herrn Purzel zusammen, der gerade ausging, da er seinem Freund Borso „dort an der Ecken“ etwas Wichtiges zu sagen hatte. Nun hatte der ungarische Rittmeister aber schon verraten, dass der gute Purzel allemal bepfiffen heimkehrte, wenn er dem Borso etwas zu sagen hätte, weil dieser würdige Freund in solchen Fällen seinen guten Asti spumanti nicht zu sparen pflegte, und darum riskierte es der Major auch, seinen Gastgeber aufzuhalten, um ihm mitzuteilen, dass er also Montag früh definitiv auszöge.

„Für welchen Zug soll ich an Wagerl zum Bahnhof bestellen?“ fragte Herr Purzel heiter lächelnd. Er lächelte immer sein Cherubslächeln, der Herr Purzel.

Der Major bekam vor Verlegenheit einen kleinen Hustenanfall, denn es schmerzte sein braves Herz, einem Nebenmenschen eine unverdiente Kränkung zufügen zu sollen.

„Wissen Sie,“ sagte er unter diesem ihm alle Ehre machenden aber total überflüssigen Eindrucke, „ehe wir uns wieder auf die Eisenbahn setzen, wollen wir doch versuchen, ob die Luft uns an einem andern, höher gelegenen Punkte besser bekommt. Deshalb wollen wir zunächst mal versuchsweise, wohlverstanden, nach der Pension Miramonti hinauf.“

„I, da kann Ihnen ja der Attilio Ihr Gepäck holen!“ rief Herr Purzel sichtlich erleichtert, dass ihm die Arbeit des Wagenbestellens erspart blieb. „So, so, also in die Miramonti wollens? Jo, ’s is rein schnacksch, dass die Leut’ alle glauben, in der Miramonti is d’ Luft besser. Bei mir rennens raus, als ob’s brennte, und dort sitzens nachher monatlang. Einbildung, sag i Ihnen, nix wie Einbildung!“

Der gute Major konnte dem Herrn Purzel im Grunde seines Herzens nur recht geben, aber er hütete sich, es laut zu tun.

„Ja, der Mensch muss halt seinen Willen haben,“ setzte Herr Purzel mit philosophischer Heiterkeit hinzu. „Da kann mer nix machen. Sonst werdens dort oben a nit besser und komfortabler haben, wie bei mir.“

„Nun, Sie müssen uns einmal besuchen und selbst vergleichen,“ meinte Frau Fuchs freundlich, denn die gute Seele hielt es für ihre Christenpflicht, ihren Nächsten sanft und unvermerkt auf den richtigen Weg zu leiten, wo die Gelegenheit sich bot.

„Ja, ja — jetzt muss i aber zum Borso,“ erwiderte Herr Purzel gemütlich. „Also, auf Wiedersehn, Herr Major, küss d’ Hand, gnä Frau!“

Und damit trollte er ab, mit Gott und der Welt, hauptsächlich aber mit sich zufrieden.

„Glückliche Natur,“ murmelte der Major anerkennend, indem er seiner Frau in ihr Zimmer folgte, wo man natürlich noch nicht aufgeräumt hatte und die Betten noch nicht gemacht waren. Es war ja allerdings „erst“ elf Uhr, nach den herrschenden Gewohnheiten des Hauses war also überhaupt noch nichts zu erwarten. Nichts ist aber unbehaglicher, verstimmender und grässlicher, als der Aufenthalt in einem unaufgeräumten Schlafzimmer und daher beschlossen Fuchsens wieder auszugehen, welchen Entschluss das Wetter ja ungemein begünstigte. Was aber, vielmehr wohin? wenn es regnete oder sonstwie unmöglich draussen war? Denn ein Blick in den „Salon“ zeigte das gleiche Bild der Unaufgeräumtheit und im Esssaal standen die verschiedenen gebrauchten Frühstücksservice herum — auch kein einladender Anblick.

„Du, Thussi,“ sagte der Major, als beide, ‚der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe‘ ihre gezwungene Promenade antraten, „der Schein kann auch trügen, aber ordentlicher sieht’s dort oben in Miramonti doch aus — der Salon war aufgeräumt usw. usw. Alles wie es sich in einem ordentlich geleiteten Hause gehört. Hoffentlich ist der Wirt auch nur ein Mensch und kein Cherub — wenn er keiner ist, verspreche ich mir oben ein erträgliches Dasein. Im übrigen hast du ja aber sehr richtig schon bemerkt, dass die deutsche Sprache das schöne und trostreiche Wörtlein ‚ausreissen‘ enthält und dass wir gottlob ja freie Leute sind.“

Major Fuchs auf Reisen

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