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III. Die Identifikation Das Tongefäß
ОглавлениеAus den Äußerungen des Apostels spricht ein hochgespanntes Selbstbewusstsein. So gesehen ist nicht erst Augustin der erste moderne Mensch im Sinn des neuzeitlichen Subjektivismus (Harnack), sondern lange zuvor schon er, der Protagonist des elaborierten Selbstbewusstseins. Wie eine Bestätigung dessen wirkt der Bildbegriff, mit dem er den in ihm geeinten Zwiespalt zum Ausdruck bringt:
Wir tragen diesen Schatz in tönernen Gefäßen, damit das Übermaß an Kraft Gott zugemessen und nicht uns selbst zugeschrieben wird (2Kor 4, 7).
Dass Paulus von dem in ihm verborgenen „Schatz“ und der ihn beseelenden „Kraft“ nur mit abwehrender Gebärde spricht, lässt auf einen Zwiespalt in seiner Selbsteinschätzung schließen. Ungeachtet seines hohen Selbstbewusstseins hat er doch nur eine geringe Meinung von sich. Obwohl er für sich in Anspruch nimmt, mehr als alle andern geleistet zu haben, hält er sich doch nur für den Geringsten aller Apostel, ja geradezu für eine „Fehlgeburt“ (1Kor 15, 8f.). Und obwohl er sich in einer Stunde der Entrückung „bis zum dritten Himmel“ erhoben wusste, fühlt er sich doch fast unablässig von einem Satansboten „mit Fäusten geschlagen“ (2Kor 12, 3–7). Und nicht nur dies; vielmehr ist davon, wie er in der Korrespondenz mit Korinth sogar wiederholt zu verstehen gibt, sein Selbstverständnis geprägt. Zunächst analysiert er sich stichwortartig mit den dialektischen Aussagen:
In allem bedrängt, doch nicht erdrückt.
Im Zweifel, doch nicht verzeifelt.
Verfolgt, doch nicht eingeholt.
Niedergestreckt, doch nicht umgebracht (2Kor 4, 8f.).
So fühlt er sich angesichts der ihm von den ausgestandenen Folterungen verbliebenen „Malzeichen“ (Gal 6, 17) vom Todesleiden Christi gezeichnet, doch gleichzeitig von der Hoffnung erfüllt, dass sich auch die Lebenskraft des Auferstandenen an seinem Leibe manifestiere (2Kor 4, 11). Im Fortgang seiner „Eröffnungen“ wiederholt er diese Kennzeichnung sodann ausführlicher mit den sich dialektisch verkettenden Worten:
In jeder Hinsicht empfehlen wir uns als Diener Gottes: in viel Geduld, in Bedrängnis, in Nöten, in Ängsten, unter Schlägen, in Kerkerhaft, bei Unruhen, in Mühen, bei Nachtwachen, bei Fasten, in Lauterkeit, durch Verständnis, durch Langmut, durch Güte, im Heiligen Geist, in ungeheuchelter Liebe, im Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, bei Ehre und Schmach, bei Lästerung und Lob, als Schwindler angesehen und doch wahrhaftig, als Unbekannter und doch wohl bekannt, todgeweiht und doch überlebend, geschlagen und doch nicht umgebracht, betrübt und doch allzeit fröhlich, Bettler, die viele beschenken, Habenichtse, die alles besitzen (2 Kor 6, 4–10)74.
Der Gedankenfortschritt gegenüber der steckbriefartigen Ausgangsstelle besteht vor allem darin, dass in dieser Sprachekstase deutlich wird, dass sich Paulus im Medium seiner Sprache über den ihn zerreißenden Zwiespalt erhebt und zur Einheit seiner selbst zusammenschließt. Ihm gelingt nicht nur wie Heinrich von Kleist die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, sondern die Integration und Identifikation seiner selbst im Sprachvollzug75. Im eminenten Sinn gilt dies auch von seiner Selbstdarstellung in der „Narrenrede“, zu der ihn nach eigenem Bekunden die Gegner mit ihren Vorwürfen und mehr noch mit ihren Ansprüchen erpressten. Von ihnen „zum Narren“ gemacht (2Kor 12, 11), steigert er sich zunehmend in diese Rolle hinein:
Hebräer sind sie – ich auch! Israeliten sind sie – ich auch! Nachkommen Abrahams sind sie – ich auch! Diener Christi sind sie! Jetzt rede ich vollends als Narr: Ich noch viel mehr! Strapazen übergenug, oftmals in Kerkerhaft, Misshandlungen im Übermaß und oftmals in Todesnot. Von den Juden erhielt ich fünfmal die „vierzig Hiebe weniger einen“. Dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal sogar gesteinigt! Dreimal erlitt ich Schiffbruch. Eine Nacht und einen Tag lang trieb ich auf der Meerestiefe. Und dann die vielen Wanderungen, und dabei Gefahren vom eigenen Volk, Gefahren von Heiden, Gefahren in den Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem Meer, Gefahren von falschen Brüdern! In Mühen und Nöten, in häufigen Nachtwachen, in Hunger und Durst und oftmaligem Fasten, in Kälte und Blöße. Und außerdem: der tägliche Andrang, die Sorge um alle Gemeinden! Wann wird einer schwach, und ich bin es nicht mit ihm? Wann kommt einer zu Fall, und ich leide nicht brennenden Schmerz? (2Kor 11, 22–29)
Das setzt sich zuletzt noch in die Schilderung einer inneren Passion fort, wenn er der Beschreibung seiner Himmelsreise hinzufügt:
Damit ich mich aber nicht überhebe, wurde mir ein Pfahl ins Fleisch gestoßen, ein Satansengel, der mich mit Fäusten schlägt. Dreimal habe ich seinetwegen den Herrn angerufen, dass er von mir ablasse. Er aber erwiderte: Meine Gnade muss dir genügen; denn die Kraft setzt sich in der Schwachheit durch. So will ich mich denn lieber meiner Schwachheiten rühmen, damit sich die Kraft Christi auf mir niederlasse (2Kor 12, 7ff.).
Wenn Paulus im Galaterbrief versichert: „mit Christus bin ich gekreuzigt“ (Gal 2, 19), öffnet er jedem, der sehen kann, die Augen dafür, dass er in dieser Leidensgeschichte Hauptzüge der Passion Jesu wieder erkennt: in der Peinigung durch den Satansboten die Versuchungsszene, in den Stockschlägen die Geißelung und in der Steinigung die Hinrichtung. Wie ein Hinweis auf die Auferstehung und die Himmelfahrt wirkt schließlich die in diese Leidensgeschichte eingeblendete Schilderung der Himmelsreise, zu der sich Paulus nur zurückhaltend durchringt, die aber von der Dialektik seiner Selbstdarstellung gefordert ist. Nachdem er es zweimal dahingestellt sein ließ, ob das, was er „vor vierzehn Jahren“ erlebte, eine reale Begebenheit oder ein ekstatisches Widerfahrnis war, berichtet er, dass „dieser Mensch“, von dem er in der dritten Person redet,
in den dritten Himmel aufgenommen, ja ins Paradies entrückt wurde und dort Worte vernahm, die ein Mensch nicht aussprechen darf (2Kor 12, 2ff.).
Die Schlusswendung von den unaussprechlichen Worten erscheint demgegenüber wie ein versteckter Hinweis auf das akustische Damaskuserlebnis, nach dem ihm das Geheimnis des Gottessohnes ins Herz gesprochen wurde, sodass die Entrückung geradezu wie eine Replik seines zentralen Ostererlebnisses anmutet. Wenn aber das angenommen werden darf, ist hier, wenngleich verschlüsselt, von dem „Schatz“ die Rede, den das mit dem Leidenskatalog verdeutlichte „Tongefäß“ umhüllt. Mit dem Stichwort „Ton“ verbindet Paulus den Gedanken des völligen Ausgeliefertseins des wie ein Stück Ton in der Hand Gottes liegenden Menschen an dessen Macht und Verfügungsgewalt (Röm 9, 20–23), das von ihm als „Hinfälligkeit“ (8, 20), „Schwachheit“ (1Kor 2, 3; 2Kor 12, 9f.) und „Elend“ (Röm 7, 24) empfunden wird.
Mit dem Motivwort „Ton“ assoziiert Paulus vor allem aber die „Verweslichkeit“ des Menschen (1Kor 15, 53) und damit den Tod. Dessen Bitterkeit trat ihm zunehmend ins Bewusstsein, nachdem sich seine anfängliche Zuversicht, zu den „Überlebenden“ zu gehören, die bei Anbruch der Parusie dem wiederkommenden Christus „auf Wolken“ entgegenziehen, unter dem Eindruck der Parusieverzögerung sogar zur Überzeugung, gewaltsam sterben zu müssen, wie er es im Brief an die Philipper vor Augen hat (Phil 1, 20ff.; 2, 17), verdüstert hatte. Insofern war seine Auseinandersetzung mit dem von ihm zunehmend als unumgänglich empfundenen Tod gespalten. Die eine, allbekannte Sicht ergab sich ihm aufgrund seiner Schulung durch das Typologiedenken, das ihn in dem ersten Adam den Urheber der Sünde (Röm 5, 12) und, als deren „Sold“ (6, 23), des Todes erblicken ließ. Die andere, die er im Auferstehungskapitel des Ersten Korintherbriefs entwickelte, ergab sich ihm als Konsequenz aus seinem Verständnis der Auferstehung Jesu, durch die für ihn der Bann der universalen Todverfallenheit gebrochen und die Frage nach dem Ursprung des Bösen in eine diametral entgegengesetzte Perspektive gerückt ist.
War nach der ersten Sicht der Tod die Straffolge der Sünde, so gilt jetzt die Einsicht (1Kor 15, 56): „Der Stachel des Todes ist die Sünde“, die den Tod zum Antreiber und Urheber des Bösen erklärt, weil er dem wohl schockartig mit ihm konfrontierten Paulus als der ebenso unbegreifliche wie unannehmbare Horror – Paulus spricht vom letzten Feind (1Kor 15, 26) des Menschseins – erschien. Weil es einer auf die Antike (Seneca) zurückgehenden Redensart zufolge der Trost der Elenden ist, Genossen ihres Unglücks zu haben, sucht der Todverfallene tendenziell, sofern er hasst – und der Hassende ist nach 1Joh 3, 15 „ein Menschenmörder“ –, und faktisch, sofern er mordet, andere in sein Schicksal mit hineinzureißen. Und doch erweckt Paulus den Eindruck, dass er sich in diesen Abgrund und dieses „Nichts“ des Todes nur versenkt, um in ihm, mit Faust gesprochen, „das All zu finden“76. Denn der Todesgedanke ist für ihn ständig mit der Gegenvorstellung des in Christus gewonnenen Lebens verwoben. Zwar stirbt er, wie er versichert, „von Tag zu Tag“ (1Kor 15, 31); doch trägt er „das Todesleiden Jesu“ nur deshalb ständig an seinem Leib, damit auch das Leben Jesu an seinem „sterblichen Fleisch offenbar“ werde (2Kor 4, 10)77.
Indessen ist das „Todesleiden“ Paulus dieser Stelle zufolge nicht nur „auf den Leib geschrieben“, sondern, wie er am Schluss seines Leidenskatalogs zu verstehen gibt, geradezu „eingehämmert“. Und dies durch den Satansboten, der ihn „mit Fäusten schlägt“ (12, 7). Zu den „Hieben“, die er bei seinen Torturen „fünfmal“ erlitt (11, 24), und den Narben, die ihm von der Steinigung blieben (11, 25), kommen somit noch diese psychischen „Hammerschläge“ hinzu, die ihn vollends zu einem Gleichbild des Gekreuzigten werden ließen (Gal 6, 17). „Viel Scharfsinn“ ist nach Eduard Lohse darauf verwendet worden, die Natur des damit metaphorisch angesprochenen Leidens zu klären78. Die Deutungsvorschläge gehen denkbar weit auseinander. Dabei zielen die motivgeschichtlichen Rückverweise auf Jakobs Kampf mit dem Engel (Gen 32, 23–33) oder auf den Angsttraum des Hieronymus, in dem er, vor ein himmlisches Tribunal gestellt, mit furchtbaren Schlägen gefoltert wurde, weil er, entgegen seiner Behauptung, ein „Ciceronianer“ und „kein Christ“ gewesen sei79. Dagegen denken die heutigen Erklärungsversuche an Epilepsie (Schmidt), Hysterie (Windisch), Depressionen (Lietzmann), an ein von der Steinigung (2Kor 11, 25) herrührendes Gehirntrauma (Becker), an einen unterbewussten Komplex (Lüdemann), im Blick auf die sexualsymbolische Bedeutung des „Pfahls“ sogar an eine von Paulus lebenslang niedergekämpfte Homophilie (Fischer)80.
Für Kierkegaard, der sich aus ureigener Betroffenheit tiefer als je ein Interpret in Paulus einfühlte – auf dem Sterbebett erklärte er dem einzigen Freund, der ihn besuchen durfte: „ich hatte einen Pfahl im Fleisch“ –, drehen sich diese Deutungen insgesamt um das „Besondere“, das ebenso belanglos ist wie die Klärung der Frage, ob der Apostel groß oder klein, schön oder hässlich war. Ihm komme es bei seiner Erklärung allein auf jenes „Allgemeine“ an, das „dadurch, dass es einen einzigen Menschen angeht, alle angeht“81. Nur so entstehe das von dem „Verzweiflungsruf“ Pauli geforderte Verhältnis zu dieser wahrhaft konfessorischen Aussage. Denn erst unter der Voraussetzung, dass der Leser sich mit Paulus in den Himmel entrückt, in der Seligkeit Schoß geborgen, ganz zu sich selbst gebracht und gleichzeitig „mit dem Pfahl im Fleisch“ in die Zerbrechlichkeit eingespannt und von Gott und sich selbst verlassen fühle, habe er die richtige Einstellung gewonnen:
Da brennt der Pfahl im Fleisch; denn wenn ein Mensch nicht des Himmels Seligkeit vernommen hat, wird er wohl auch nicht so viel leiden. O, dass es doch rasch geschehen könnte, sodass es endlich heißen dürfte: Vorbei! Doch wenn man geängstet wird, geht die Zeit langsam. Wenn man sehr geängstet wird, ist sogar ein Augenblick mörderisch lang; und wenn man gar zu Tode geängstet wird, steht die Zeit zuletzt still82.
In seiner Allgemeinheit begriffen, wird der Pfahl damit zum Inbegriff der Angst, und der hermeneutische Mitvollzug der Stelle zur Vorwegnahme der Todesangst, paulinisch ausgedrückt, zur „Leidensgemeinschaft“ mit dem zu Tode geängsteten Christus. Das verdeutlicht Paulus mit dem Wunsch:
Ihn will ich kennen lernen: die Kraft seiner Auferstehung und die Leidensgemeinschaft mit ihm, um gleichförmig zu werden mit seinem Tod, damit ich auch zur Auferstehung von den Toten gelange (Phil 3, 10).
Doch damit wird das der Metapher vom Schatz im Tongefäß eingeschriebene Engramm lesbar. In der der Biographie des Apostels zugrunde liegenden Chiffrenschrift zeichnet sich die Figur des in die Leidensgemeinschaft mit Christus Gezogenen und mit ihm Gekreuzigten ab, im „Schatz“ seine Lebensgemeinschaft mit dem Auferstandenen.