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Die Ersatz-Dreieinigkeit

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Es gibt heutzutage eine neue Tendenz, die Bibel ohne Bezug zur Dreieinigkeit zu lesen. Dieser Trend hat sich zu einer Epidemie ausgebreitet und sollte sorgfältig beobachtet werden. Die beste Beschreibung dafür ist, meiner Meinung nach, Ersatz-Dreieinigkeit. Ganz im Gegensatz zum beziehungslosen Lesen des Textes, das wir gerade kennengelernt haben (intellektuell, praktisch, erbaulich), ist diese Art des Lesens höchst personal und auch sehr trinitarisch, steht aber trotzdem im völligen Widerspruch zu dem, was man erreicht, wenn man unter der Führung der Heiligen Dreieinigkeit liest.

Nähert man sich der Heiligen Schrift mit trinitarischen Gedanken und Gebeten, dann entwickeln wir eine Haltung und innere Einstellung, mit der wir uns der vollkommenen Formung durch Gott unterstellen, genau so, wie Gott sich vollkommen und personal in der Heiligen Schrift als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart. Die Alternative ist, dass wir unsere Formung selbst in die Hand nehmen. Der beliebteste Weg zu dieser Selbstgestaltung ist es heutzutage, das Ich in einer Art Dreieinigkeit zu sehen. Diese Art des Selbstverständnisses hat nichts mit dem intellektuellen Interesse an Ideen oder der Suche nach einem moralisch guten Leben oder dem Streben der Seele nach individuellem Trost zu tun. Vielmehr steht das göttliche Ich im Mittelpunkt, das über das eigene Ich waltet. Und dieses göttliche Ich wird als Heilige Dreieinigkeit verstanden.

Es funktioniert folgendermaßen. Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass bei der Gestaltung dieser neuen Dreieinigkeit, die das eigene Ich als den unangefochtenen Lebenstext definiert, die Bibel weder ignoriert noch ausgeschlossen wird; vielmehr nimmt sie einen Ehrenplatz ein. Allerdings wird die dreieinige Person Vater, Sohn und Heiliger Geist durch eine sehr individualisierte personale Dreieinigkeit, bestehend aus meinen Heiligen Wünschen, meinen Heiligen Bedürfnissen und meinen Heiligen Gefühlen, ersetzt.

Wir leben in einer Zeit, in der wir von der Wiege an lernen, uns für das zu entscheiden, was für uns das Beste ist. Wir durchlaufen ein paar Ausbildungsjahre, doch dann schickt man uns alleine los. Das Training beginnt schon sehr früh. Sobald wir einen Löffel halten können, dürfen wir uns zwischen einem halben Dutzend verschiedener Frühstücksflocken, von Cheerios bis Cornflakes, entscheiden. Unser Stil, unsere Neigungen, unser Geschmack werden laufend abgefragt. Schon früh entscheiden wir, was wir anziehen und wie wir uns die Haare schneiden lassen. Die Auswahl wird immer größer: welchen Fernsehsender schalten wir ein, welche Fächer wählen wir in der Schule, auf welche Universität gehen wir, welche Kurse besuchen wir, welches Auto in welcher Farbe kaufen wir, welcher Gemeinde schließen wir uns an. Wir lernen früh und werden im Laufe der Jahre immer wieder darin bestärkt, dass wir ein Mitspracherecht bei der Gestaltung unseres Lebens haben, innerhalb bestimmter Grenzen sogar das alleinige Sagen. Sofern die Gesellschaft dies ordentlich erledigt – und scheinbar ist sie bei den meisten von uns äußerst effektiv – dann werden wir zu Erwachsenen, die davon ausgehen, dass unsere Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle das göttliche Kontrollzentrum unseres Lebens darstellen.

Die neue Heilige Dreieinigkeit. Das unabhängige Ich drückt sich aus durch Heilige Bedürfnisse, Heilige Wünsche und Heilige Gefühle. Zeit und Verstand, die unsere Vorfahren darauf verwandten, die Souveränität zu verstehen, die sich in Vater, Sohn und Heiligem Geist offenbart, werden von unseren Zeitgenossen dazu eingesetzt, die Souveränität unserer Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle zu bestätigen und für gültig zu erklären.

Meine Bedürfnisse sind nicht verhandelbar. Meine so genannten, selbst definierten Rechte, sind die Basis meiner Identität. Mein Bedürfnis nach Erfüllung, nach Meinungsäußerung, nach Bestätigung, nach sexueller Befriedigung, nach Respekt, mein Bedürfnis zu tun, was ich mag – all das ist Grundlage für die zentrale Position des Ich und schützt mich vor der Bedeutungslosigkeit.

Meine Wünsche sind Ausdruck meines wachsenden herrscherlichen Empfindens. Ich lerne groß zu denken, weil ich groß bin, wichtig, entscheidend. Ich bin größer als das Leben selbst und deshalb benötige ich immer mehr Güter und Dienstleistungen, mehr Dinge und mehr Macht. Konsum und Eigentum sind die neuen Früchte des Geistes.

Meine Gefühle drücken aus, wer ich wirklich bin. Jede Sache oder Person, die mir ein Hochgefühl verschafft, Aufregung, Freude, Impulse, spirituelle Verbindungen, bestätigt meine Unabhängigkeit. Natürlich muss dafür ein Heer an Therapeuten, Reisebüros, technischen Geräten und Maschinen, Freizeitaktivitäten und Unterhaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Nur so können die Teufel der Langeweile, der Ungewissheit und der Unzufriedenheit vertrieben werden – allesamt Gefühle, die meine Selbstbestimmtheit untergraben oder infrage stellen.

Während der letzten zweihundert Jahre entstand eine riesige Literaturgattung, gelehrt und populärwissenschaftlich, die sich damit beschäftigt, die Heilige Dreieinigkeit der Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die das unabhängige Ich ausmachen, zu verstehen. Eine ungeheure Menge an Wissen wurde hier angehäuft. Unsere neue Kaste geistlicher Meister setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern und Wirtschaftsspezialisten, Ärzten und Psychologen, Erziehern und Politikern, Schriftstellern und Künstlern. Sie sind genauso intelligent und leidenschaftlich wie unsere frühen Kirchentheologen und genauso religiös und ernsthaft bei der Sache, denn sie wissen, dass das Ergebnis ihrer Überlegungen enorme Auswirkungen darauf hat, wie Alltag gelebt wird. Die Studien, die sie durchführen und die Anleitungen, die sie für den Dienst an unserem Selbst-Gott geben, die Gottheit, die sich aus unseren Heiligen Bedürfnissen, Heiligen Wünschen und Heiligen Gefühlen zusammensetzt, werden mit guten Absichten durchgeführt und sind sehr überzeugend. Es ist schwer, sich nicht vom Zeugnis all dieser Experten überzeugen zu lassen. Unter ihrer Anleitung werde ich mir ziemlich sicher, dass ich der bestimmende Text für mein Leben bin.

Man könnte meinen, dass die Predigt von dieser neuen Dreieinigkeits-Religion keine große Gefahr für Menschen darstellt, die im Namen der Dreieinigkeit getauft sind, die regelmäßig und andächtig das Apostolische und Nizänische Glaubensbekenntnis sprechen, die Gebete mit der Anrufung „Unser Vater…“ einleiten, die täglich aus dem Bett steigen, um Jesus als ihrem Herrn und Retter nachzufolgen und immer wieder singen „Jesus, meine Zuversicht …“

Allerdings ist diese konkurrierende Souveränität in derart geistliche Sprache verpackt und wir sind so leicht von unserer eigenen geistlichen Souveränität zu überzeugen, dass sie tatsächlich unsere Aufmerksamkeit erregt. Die neuen geistlichen Meister versichern uns, dass all unsere geistlichen Bedürfnisse in dieser neuen Dreieinigkeit verwirklicht sind: unsere Suche nach Sinn und Transzendenz, unser Wunsch nach einem größeren Leben, unsere Ahnung von geistlicher Bedeutsamkeit – und, nicht zu vergessen – es gibt jede Menge Platz für Gott, ob viel oder wenig entscheidest du selbst. Die neue Dreieinigkeit schafft Gott oder die Bibel nicht ab. Sie stellt sie vielmehr in den Dienst unserer Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle. Das ist uns ganz recht, denn wir sind unser ganzes Leben darauf abgerichtet worden, alles und jeden genau so zu behandeln. So ist das nun mal. Das ist das Vorrecht der Unabhängigkeit.

Heute zeichnet sich erschreckend deutlich ab, dass der Kern der christlichen Gemeinschaft, nämlich die Souveränität Gottes, der sich in drei Personen offenbart, von nahezu allem angefochten und untergraben wird, was wir in der Schule lernen, was uns in den Medien präsentiert wird, was an sozialen, beruflichen und politischen Erwartungen an uns herangetragen wird, weil die Experten uns versichern, dass das Ich souverän ist. Diese Stimmen scheinen genau auf unserer Wellenlänge zu liegen. Wenn sie uns zeigen, wie wir unserem souveränen Ich zum Leben verhelfen, dann sind sie so bestimmend und maßgeschneidert, dass wir kaum bemerken, wie wir unsere Heilige Bibel eintauschen gegen diesen neuen Text, das Heilige Ich. Gehen wir denn nicht nach wie vor zum Bibelkreis und lesen wir nicht täglich die geforderten Verse und Kapitel? Während wir unaufhörlich dazu ermutigt werden, auf unsere Bedürfnisse, Träume und Vorlieben zu hören, merken wir kaum, wie wir uns von dem Glauben entfernen, den wir so lange bekannten.

Es ist eine große und heimtückische Gefahr, wenn wir das Ich als den bestimmenden Lebenstext einführen und gleichzeitig der Heiligen Schrift die Ehre erweisen, indem wir ihr einen besonderen Platz im Regal zuweisen. Niemand von uns ist gegen diese Gefahr immun.

Aus diesem Grund ist es so wichtig, den Befehl des starken Engels an Johannes wiederzubeleben. Wenn wir unserer Identität treu bleiben wollen, wenn wir einen Lebenstext wollen, der uns in die Nähe von Gottes Volk führt, der uns vertraut hält mit seinem wahren Wesen und seinem Handeln, dann müssen wir dieses Buch einfach essen.


Es ist grausam, aber wahr, dass wir trotz all unserer Kultiviertheit, all unseres Wissens und unserer Selbsterkenntnis nicht schlau genug sind, die Herrschaft über unser Leben zu erlangen. Der bemitleidenswerte Zustand vieler Menschen, die ihren eigenen Erfahrungshorizont als Lebenstext heranziehen, ist ein verheerender Beweis gegen die anmaßende Hervorhebung des souveränen Ich. Wir brauchen einen Text, der uns offenbart, was wir auch dann nicht wissen können, wenn wir das gesammelte Wissen sämtlicher Jahrhunderte zusammenfassen. Das Buch, die Bibel, offenbart uns den sich selbst offenbarenden Gott und damit gibt sie uns Einblick in den Zustand der Welt, den Zustand unseres Lebens und unseren eigenen Zustand. Wir müssen uns dort auskennen, wo wir leben. Wir müssen die Zusammenhänge kennenlernen, in diesem Land der Dreieinigkeit, in der von Gott geschaffenen Welt, in seiner Rettung und seinem Segen.

Gott ist nicht so, wie wir gemeinhin vermuten. Das meiste, was uns von Gott und seinem Handeln erzählt wird, sei es von unseren Freunden auf der Straße, oder was wir in der Zeitung über ihn lesen oder im Fernsehen sehen oder uns selbst ausdenken, ist schlicht und ergreifend falsch. Vielleicht ist es nicht vollkommen falsch, doch falsch genug, um unser Leben durcheinanderzubringen. Und dieses Buch ist, um es ganz genau zu sagen, Offenbarung; eine Offenbarung dessen, was wir selbst nie herausgefunden hätten.

Ist dieser Text nicht fest im entscheidenden Zentrum unseres gemeinschaftlichen und persönlichen Lebens angesiedelt, gehen wir unter. Wir versinken in einem Sumpf voller wohlmeinender, doch halbherziger Menschen, die gnadenlos in ihre Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle verstrickt sind.



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