Читать книгу Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket) - Eugene McCabe - Страница 7
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ОглавлениеFür Kanonikus Leo McManus bestand der beste Teil seines Pfarramtes darin, hoch zu Ross die Feldwege, Höfe, Dörfer und Gemarkungen von Upper Fermanagh zu bereisen. An den Esszimmerwänden seines Pfarrhauses in Dromcoo hatte er Landkarten der Bodenkommission mit Bleistiftmarkierungen versehen und konnte auf einen Blick Namen, Status und Religion der Besitzer bestimmen. Über Emigranten führte er ein eigenes Verzeichnis, korrespondierte mit jenen, die es zu Wohlstand gebracht hatten, und versuchte, wo immer möglich, sie zum Rückkauf all dessen zu bewegen, was er in seinem Rundbrief »das anheimgefallene oder gestohlene Erbe unserer Vorfahren« nannte. Zu seiner Enttäuschung hatte er weder von Con Cunningham aus Los Angeles noch von Barney Hughes aus London eine Antwort erhalten, obgleich diese beiden allein die gesamte Grafschaft hätten aufkaufen können. Viele andere jedoch meldeten sich und leisteten wertvolle Beiträge. Die Grafschaft gehörte Katholiken und Protestanten zu gleichen Teilen; so Gott wollte, würden Zeit und Entschlossenheit dies ändern.
Am gestrigen Abend hatte er Mervyn Knights jüngste Publikation studiert, erschienen bei Longmans of London und betitelt: Höfe, Familien und Wohnstätten in Fermanagh. Er hatte sehr genau gelesen, was dort über die Familie und die Wohnstätte stand, denen er sich jetzt näherte.
CLONOULA Irisch: Apfelwiese
ZUGEHÖRIGE FAMILIEN Eine: Winters
STANDORT Baronie Clanawley; Enniskillen sechs Meilen, Tully Castle drei Meilen, Dublin achtzig Meilen.
LAGE Bergflanke 225 Meter über dem Meeresspiegel. Weiter Blick von Osten auf Upper Lough Erne. £487.00
GESCHICHTE Ehemals im Besitztum des Stammesführers Brian Maguire (aufständisch), 1610 der Krone anheimgefallen. Ursprüngliches Haus erbaut von Thomas Winters unter der Pacht von Sir John Hume auf Tully Castle. Während des Aufstands von 1641 niedergebrannt. Von Clement Winters 1660 wiedererbaut. 1793 von Kapitän zur See William Hudson Winters erweitert. Tore, Innenhof, Pförtnerhaus sowie der Weiler Clonoula etc.
GEGENWÄRTIGER ZUSTAND Gut. Bewohnt. Besitzer: William Winters, Wohlgeboren.
BESONDERE MERKMALE Großes Haus im Cottage-Stil, zentrale Schornsteine, Giebelerker. Alle Fenster haben aus Stein gehauene »Brauen«. Mittiger Eingang mit Ziergiebel und Oberlicht, durch Glasvorbau verschandelt.
EINRICHTUNG Ein Kamin im Adams-Stil, einfache, niedrige Decken, Pechkiefer im ganzen Haus. Ansonsten wenig bemerkenswert.
AUSSENBEREICH Abgesenkter Pflasterhof, ummauerter Garten und Apfelspeicher (reetgedeckt), alles aus beliebigem Bruchstein errichtet. Es gibt eine Kalkbrennerei, eine Leinmühle (in Gebrauch), eine unbedachte Getreidemühle. Originale Eckpfeiler mit Kugelornament in gutem Zustand. Bewohntes Pförtnerhaus in gutem Zustand. Der Weiler Clonoula besteht aus vier reetgedeckten Cottages, wovon eines zugleich als Poststelle und Gastwirtschaft dient. Auf dem Anwesen befinden sich zwei weitere Cottages.
ZUGEHÖRIGE PÄCHTER-FAMILIEN
Ruttledge, Ward, Blessing, McManus, Boyle, McCafferty.
ZUGEHÖRIGE GEMARKUNGEN
Ardnagashel… Irisch: befestigte Anhöhe Brackagh… Irisch: Brachland Garvarry… Irisch: raues Land Dacklin… Irisch: schwarze Wiese
GELÄNDE Guter Bestand von ausgewachsenen Buchen und Eichen. Zwanzig Morgen Obstplantagen, angeblich die ältesten in Ulster. Länge der Auffahrt tausend Meter, zur Landstraße hin steil abfallend. Diese wild bewachsene Steilfläche von dreißig oder mehr Morgen besteht aus Laubbäumen, Nadelbäumen und Rhododendren.
An einer Lichtung dieses bewaldeten Areals hielt der Kanonikus jetzt an. Über die Rhododendrenpracht hinweg konnte er in der Ferne die glitzernde Fläche des Lower Lough Erne und die Umrisse seiner Inseln erkennen und direkt unter ihm die Gemarkungen Brackagh, Garvarry und Dacklin, die schwere, schwarze Landschaft der Enteigneten. Hungrige Aussicht und saures Land können das beste Volk der Welt missmutig und gefährlich stimmen. Mein Volk. In Mister Knights Buch konnte nicht Erwähnung finden, dass Clonoula unter allen Besitztümern Fermanaghs eine Kuriosität darstellte. Es widmete sich einzig den kleinen protestantischen Gutsbesitzern, den Angehörigen des Schein- oder Niederadels. Das Buch konnte nicht aussprechen, dass Billy Winters von Jimmy Donnelly, dem derzeitigen katholischen Bischof von Clogher, getraut worden war, der damals als junger Hilfsgeistlicher in einer Landgemeinde nahe Enniskillen gedient hatte. Wie fast jeder andere wusste er, dass Billy Winters vor fünfundzwanzig Jahren für längere Zeit Tag und Nacht trinken gegangen war. Während seiner trübseligen Zecherei hatte er einem betrunkenen Kumpanen oder vielleicht auch nur sich selbst irgendwann anvertraut: »Fahr nie für ’ne Frau über den See. Meine war schon bedient, als ich sie abkriegte – im dritten Monat schwanger.« Und so verbreitete sich in Fermanagh und den benachbarten Grafschaften das Gerücht, dass der erste Mann, der eine geteerte Straße zu seinem Kalksteinwerk gebaut hatte, ein Mann, der mit Bischöfen und Pferdehändlern umzugehen wusste und Gaunern Gaunertricks beibringen konnte, kurz: dass einer der gerissensten Burschen Ulsters selbst übertölpelt und beschämt worden war, und zwar von einer Frau, schlimmer noch: von einer Papistin.
Nach der Geburt hatte Cathy Winters weiter mit ihm in dem geräumigen Bauernhaus von Clonoula gelebt. Während der folgenden zwölf Jahre hieß es hin und wieder: »Billys Frau hat ein blaues Auge« oder »Die Frau ist ganz schön gealtert«, und einige sagten: »Wer will’s dem Mann verdenken?« Andere bemerkten: »Er ist ein Wüstling, dieser Billy, ein mieser Kerl, der sie mit Tritten und Hieben durchs Haus scheucht; mir tut’s um Klein-Beth leid, das arme Krümelchen.« Und als Cathy Winters im Hof von Clonoula ein so jähes und furchtbares Ende gefunden hatte, stand Billy, den Arm um Beth geschlungen, schluchzend an ihrem Grab, was jenen, die es beobachteten, so ungewöhnlich vorkam, dass sie bemerkten: »Er muss sie wirklich geliebt haben.« Seine eigenen Glaubensbrüder waren da misstrauischer: »Das war doch nicht ihretwegen, sondern weil er mit den Papisten Geschäfte macht. Der Mann hat kein Schamgefühl.« Unmöglich zu wissen, wie viel davon wahr, falsch oder reine Häme war. Aber ob wahr oder falsch, Allgemeingut war es auf jeden Fall.
Eigenartigerweise war es bei seinen Besuchen im Lauf der Jahre immer wieder Beth, das Mädchen mit dem feierlich starren Blick, jetzt eine Frau, die in Gegenwart eines Priesters wachsam und distanziert wirkte. Billys Auftreten dagegen war leutselig, aufgeschlossen, onkelhaft, gastfreundlich und, zumindest an der Oberfläche, zivilisiert. Und da stand er auch schon wieder lächelnd im Vorbau, beide Arme einen Moment lang zum Willkommensgruß ausgestreckt. Am Vorabend hatte der Bischof über ihn gesagt: »Ich denke nicht, dass Billy Winters an etwas anderes als Geld und Malt Whiskey glaubt, aber er ist gradheraus, was man von vielen unserer Leute nicht unbedingt behaupten kann.«
Billy führte die gefleckte graue Stute des Kanonikus neben den Vorbau und band sie an einem Wisteriageäst fest. Der Kanonikus stieg mit den Worten ab:
»Ich habe einen Brief für dich, vom Bischof James von Clogher.«
»Gute oder schlechte Nachrichten, Leo?«
»Keine Ahnung, aber es muss dringend sein.«
Sie schüttelten einander die Hand.
»Du bleibst doch zum Frühstück?«
»Nein, danke, aber ich setz mich kurz zu dir. Was für ein Morgen… Gott sei’s gedankt.«
»Es ist der Zaubermonat«, sagte Billy.
»Es hat mehr mit der Örtlichkeit zu tun«, sagte der Kanonikus, »hier oben bist du auf halbem Weg zum Himmel!«
Aus den Rhododendren kam eine Irish-Setter-Hündin und setzte sich mit hechelnder Zunge auf das Kiesrechteck vor dem Haus. Ihr kupferrotes Fell leuchtete in der Sonne.
»Ist die neu, Leo?«
»Ja.«
»Taugt sie was?«
»Das kann man noch nicht mit Gewissheit sagen, aber sie hat eine gute Nase und ist gehorsam.«
»So müssen sie sein.«
Der Kanonikus ließ sich im Vorbau auf einer Bank nieder und legte die Reitgerte auf die Knie. Dann holte er aus der Innentasche seines Gehrocks einen Umschlag und überreichte ihn Billy, der ihm gegenübersaß. Billy legte den Brief hinter sich auf die Fensterbank.
Es wäre liebenswürdiger gewesen, fand der Kanonikus, wenn Billy Winters den Brief geöffnet, kurz überflogen und mit einem beiläufigen Kommentar beiseitegelegt hätte. Andererseits, warum hätte er das tun sollen? Womöglich wäre eine unbehagliche Situation entstanden, wenn er ihn geöffnet hätte. Könnte von mir handeln oder weiß Gott wovon. Bischöfe stehen mit den seltsamsten Informanten in Verbindung.
Billy Winters kam es vor, als blicke der Gemeindepfarrer in Gedanken an etwas Unerfreuliches finster auf den gekachelten Fußboden. Die lasierten Fliesen zeigten einen Biber auf einem Baumstamm mitten im Fluss, darunter in römischen Buchstaben drei Wörter in einem Halbkreis: I SEQUERE FLUMEN – folge dem Fluss. Billy wartete darauf, dass er sprach. Als das Schweigen anhielt, sagte er:
»Nichts Außergewöhnliches, Leo.«
»Ja und nein… Der Depp MacGonnell ist wieder unterwegs, gestern war er bei uns.«
»Er ist ein harmloses Geschöpf«, sagte Billy.
»Sie hätten ihn im Irrenhaus von Monaghan lassen sollen.« Der Kanonikus hielt inne und sagte dann mit Nachdruck: »Eins ist sicher, er war es nicht, der mein neues Gewächshaus zertrümmert hat.«
»Um Gottes willen! Wann war das?«
»Letzten Dienstag, gegen Mitternacht.«
»Und wo warst du?«
»Drüben in der Wildnis bei Brackagh Cross und Dacklin, hab versucht, den wilden Zechern und Teufelstänzern Anstand beizubringen.«
»Ist es dir gelungen?«
»Oh, ich hab sie auseinandergebracht.« Er hob seine Reitgerte. »Hiermit.«
Der Löwe von Dacklin. Gut gemacht, Leo. Der Reitstock für verstockte Aufrührer. Kein Wunder, dass sie in hellen Scharen nach Amerika, Australien, sonst wohin abhauen … dreschen auf alles ein, was sie selbst nicht haben können … oder haben sollten… Besser, ich sag was.
»Die Tänze kommen aus Amerika«, bemerkte Billy.
»Der Schnaps kommt von hier«, sagte der Kanonikus, »und verwirrt ihnen die Sinne.«
Der Kanonikus hatte wieder die beunruhigenden Bilder von vor drei Nächten vor Augen. Er war von seinem Pferd gestiegen und hatte einen Acker mit Haferschösslingen, grün und satt wie Frühlingsgras, überquert, dann war er einen Feldweg durch Dacklin nach Brackagh Cross entlanggegangen. Er hatte Händeklatschen, eine Handorgel und Gelächter gehört. Der Mond leuchtete hell, und er überraschte ein Pärchen, das in einem trockenen Graben kopulierte: nackte Beine, die mit überkreuzten Knöcheln den ruckenden Leib eines Mannes umschlangen, blindes Stöhnen von beiden. Stolpernd war er auf sie zugestürzt und hatte gebrüllt: »Bestien, Unmenschen, Teufel.« Seine Reitgerte mit dem beinernen Griff war auf das Gesäß des Mannes niedergefahren und hatte dann auf Kopf und Rumpf eingedroschen, als der Mann zurückwich und sich mit einer Hand zu verteidigen versuchte, während er mit der anderen sein Geschlecht bedeckte. Danach hatte der Kanonikus sich umgedreht, um auch die Teufelin zu bestrafen, die aber war durch den Graben davongekrochen und über ein Feld in Richtung Brackagh Cross gerannt, um die anderen zu warnen. Handorgel, Händeklatschen und Gelächter verstummten jäh unter einem züchtigen Vollmond.
Erstaunt betrachtete Billy Winters die milden grauen Augen, das lammfromme Haar und den gütig wirkenden Mund. Nichts daran deutete auf Brutalität.
»Jemand vom Tanz am Wegkreuz?«
»Die Gerte war kaputt, als ich nach Hause kam… Ward war’s oder Blessing, beide deine Pächter.«
»Glaubst du?«
»Ich bin sicher, es war einer von ihnen oder sogar beide.«
Der Kanonikus tippte mit der Reitgerte auf sein Knie, setzte zum Sprechen an, hielt inne und sagte dann:
»Sie stehen in deinen Diensten, Billy.«
»Keineswegs, sie kaufen Steine und Füllgut im Steinbruch… Der Grafschaftsrat bezahlt sie. Und dann bezahlen sie natürlich mich.«
»Es ist dein Steinbruch.«
»Stimmt.«
»Du könntest sie abweisen.«
Billy war zu verblüfft, um auf der Stelle zu antworten.
»Das könnte ich … ja.«
»Du sollest es tun. Blessing ist eine miserable Kreatur. Ward ist noch schlimmer; er ist das personifizierte Böse, oder doch nahe dran.«
»Er ist mächtig eingebildet, das stimmt schon … aber böse, Leo, das ist ein großes Wort.«
»Jedenfalls ist er ein übler Geselle.«
Während einer Gesprächspause starrte der Reverend Leo McManus durch die offene Vorbautür, als hoch oben aus den Buchen ein Schwarm Tauben aufflatterte. Er folgte ihrem Flug, bis sie sich aus seinem Blickfeld verloren.
»Du wirst mir erklären müssen, warum«, sagte Billy. Der Kanonikus zögerte und sagte dann:
»Ich bin nicht befugt, das offenzulegen.«
Die Sittenpolizei? Beichtgeheimnisse? Etwas noch Unheilvolleres?
»Du erledigst viele Aufträge für uns hier in Fermanagh, Billy … und all die Marmorarbeiten in der Kathedrale von Monaghan.«
»Ist das eine Art Erpressungsversuch, Leo?«
»Es ist eine Bitte.«
Billys Ellbogen zuckte zu dem Bischofsbrief hin, der hinter ihm auf der Fensterbank lag.
»Hat der was damit zu tun?«
»Nein, da bin ich ganz sicher.« Nach einer weiteren kurzen Pause sagte der Kanonikus:
»Du brauchst mir nicht zu glauben.«
»Ich habe keinen Grund, dein Wort anzuzweifeln«, sagte Billy, »aber ich muss ihm … muss Ward erklären, warum.«
»Auf meine Bitte hin… Er wird schon verstehen.«
Warum Ward?, fragte sich Billy. Der früh verwaiste Sohn eines Schleusenwärters nahe Cootehill, mehr schlecht als recht aufgezogen von Old Tom Ward, seinem wildernden, schwarzbrennenden Onkel in Brackagh; eine kurze Phase als besserer Stallbursche in Florencecourt, wo gemunkelt wurde, dass die herrschaftlichen Fräuleins allzu gern den Pferdestall aufsuchten. Auch von einem Diebstahl war die Rede. Anschließend eine Zeit lang mit Charles Boycott im Westen; dann für einige Jahre in Amerika und jetzt wieder hier mit dieser gedehnten Sprechweise; Frachtführer, Quacksalber, eingebildet, das schon, aber schwer zu verstehen, warum dieser Pfarrer so extrem gegen ihn eingestellt war.
Der Messingriegel an der Haustür klickte, die Tür ging auf, und Mercy Boyle betrat den Vorbau. Sie trug ein mit Spitzentuch bedecktes Tablett mit drei Tassen, einer Kanne Kaffee, einer Zuckerdose und einem Kännchen Sahne. Mercy stellte das Tablett neben dem Kanonikus auf die Bank. Der stand auf, murmelte: »Zu viel des Guten, mein eigenes Frühstück wartet, so viel Aufwand wäre doch nicht nötig gewesen«, und flocht eine Begrüßung für Mercy ein: »Das ist doch Mercy Boyle, nicht wahr? Wie geht’s dir, Mercy?«
»Mir geht’s gut, Hochwürden.« Beth hielt Mercy beim Hinausgehen die Tür auf, schloss sie und trat vor, um die ausgestreckte Hand des Kanonikus zu ergreifen.
»Du kannst ihr die Hand gleich doppelt schütteln«, sagte Billy, »heute ist ihr Geburtstag, und als es heute Morgen noch stockfinster war, hat sie schon eine Kuh vor der Blähsucht gerettet.«
Beth erwiderte das Lächeln der Männer. Zwei Väter, keiner davon der meinige, dachte sie. Unterdessen schwafelte Billy weiter, auf die scheinbar gewöhnliche, onkelhaft irische Art, die er für Landpfarrer, Hofknechte und Steinbrucharbeiter an den Tag legte, nie jedoch für die »Protestanten zu Pferde« oder während der Pferdeschau in der Royal Dublin Society.
Sie schenkte den Kaffee ein und erkannte an der Art des Schweigens, dass sie in ein vertrauliches Gespräch geplatzt war. Sie sah den ungeöffneten, an Billy adressierten Brief mit dem Wachssiegel des Bischofs von Clogher.
»Und wie«, fragte ihr Gemeindepfarrer, »gedenkst du den Tag zu feiern?«
Angenommen, sie könnten Gedanken lesen… Die Vorstellung war so absonderlich, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg, und so entgegnete sie rasch:
»Butter machen, den Torfstechern Tee bringen, und dann ist da noch ein Schwein, das geschlachtet werden muss.«
»Wer besorgt das für euch?«, fragte der Kanonikus.
»Blinky Blessing«, antwortete Billy.
»Aha.«
Aus den Augenwinkeln heraus konnte Beth sehen, wie Billy dem Gemeindepfarrer zublinzelte.
»Es wird kein reiner Arbeitstag werden, ich habe noch ein oder zwei Überraschungen auf Lager.«
Die habe ich auch, dachte sie, als sie sich mit ihrer Tasse neben Billy setzte. Und ich hoffe inständigst, dass dieser Mann mir gegenüber jetzt nicht anfängt, von Familienähnlichkeiten zu schwafeln, wie die alte Lily Cole es einst getan hat: Mund, Nase, Hände, Augen, Stimme und so weiter und so fort, schmerzlicher für Billy als für mich. Ab morgen haben all diese Peinlichkeiten ein Ende.
Plötzlich deutete Billy mit seinem kurzen, dicken Zeigefinger auf den Kanonikus und fragte:
»Wirst du heute Abend im Rathaussaal sein, Leo?«
»Das erfordert einen Sonderdispens und eine frühzeitige Reservierung … ich habe weder das eine noch das andere.«
»Schade. Ich war mit ihm im Trinity College.«
»Ich wusste nicht, dass du ein Studierter bist.«
»Ich bin’s und bin es nicht… Ein Jahr Ingenieurswesen, und dann wurde mein Vater krank…«
»Du kennst ihn also?«
»Kannte ihn … vor achtundzwanzig Jahren … damals hieß er schlicht und einfach Willy French. Das war, bevor aus ihm der weltberühmte Percy French wurde.«
Es folgte ein Schweigen, das Billy füllte, indem er sagte:
»Er ist ein begabter Maler, hab ich gehört.«
»Davon habe ich keinen blassen Schimmer … auf dem Auge bin ich blind.«
»Ich hab dich doch gesehen, wie du Schnepfen im Vorbeifliegen erledigst, und noch aus zwanzig Metern Entfernung legst du jede Forellenfliege sauber auf einer Untertasse ab.«
Der Kanonikus lächelte geschmeichelt. Billy wandte sich um und sagte zu Beth:
»Ein Mann wie Leo wäre der Richtige für dich, Beth, ein begeisterter Sportsmann, ein guter Gärtner, ein Landwirt und ein tadelloser christlicher Ehrenmann obendrein – und Bienen hält er auch noch… Sie ist so was von wählerisch, dieses Fräulein; ganze Wagenladungen voll hab ich hierhergekarrt; von jeder Sorte etwas: überzüchtet und unterzüchtet, junge Kerle und weniger junge, Burschen von der Bank, wohlhabende Landwirte, Müller, Kaufleute, angehende Juristen, Buchhalter, Architekten. Mit keinem von ihnen will sie was zu tun haben.«
»Sie auch nicht mit mir, Sir«, sagte Beth leise.
»Du gibst ihnen keine Chance, Mädel.«
»Wenn die Zeit kommt, wirst du den rechten Mann schon finden«, sagte der Kanonikus.
»Ich bin nicht auf der Suche«, erwiderte Beth, stand auf und ging mit ihrer Kaffeetasse aus dem Vorbau zu der Stelle, wo die Irish-Setter-Hündin auf dem Kies lag. Als Beth sich hinhockte, um dem Tier den Kopf zu streicheln, reckte es in scheuer Begrüßung den Hals vor. Die beiden Männer sahen zu.
»Du hast sie in Verlegenheit gebracht, Billy.«
Billy Winters schüttelte den Kopf.
»Sie geht ihre eigenen Wege, man hat keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht, genau wie bei ihrer Mutter. Niemand weiß, was in Frauenköpfen vorgeht«, und fügte dann beinahe säuerlich hinzu, »vom Offensichtlichen mal abgesehen.«
Dem Priester drängte sich das Bild des kopulierenden Pärchens auf. Stirnrunzelnd riss er sich davon los, stürzte beim Aufstehen den Kaffee hinunter und sagte:
»Ich geh dann mal, Billy.«
Der Kopf der Hündin schnellte hoch, und mit aufgestellten Ohren und wachsamem Blick starrte sie zur Tür des Vorbaus hinüber. Beth wusste, ohne sich umzudrehen, dass der Priester im Aufbruch begriffen war. Mit halbem Ohr hörte sie den ausgetauschten Gemeinplätzen zu. Sie wusste, dass die gekünstelte Kameraderie nur verschleierte, was die beiden wirklich voneinander dachten. Vor langer Zeit die erbitterten Streitereien mit der armen Mama. Warum bis heute diese Heuchelei?
Sie winkte dem davonreitenden Priester zu, der ihr, während der Hund den Grauschimmel umkreiste, seinen Segen erteilte, blickte ihm einen Moment lang nach und ging dann zu dem Vorbau, wo Billy den Brief des Bischofs las. Kommentarlos reichte er ihn ihr herüber, und sie erkannte das bischöfliche Wappen und die Adresse.
Latlurcan House, Bischofsresidenz
Dublin Road, Monaghan
Donnerstag, den 3.Mai 1883
Lieber Billy,
heute hat uns ein nicht ganz so junger Mann namens Maurice Fairbrother aufgesucht. Von der Steuerbehörde im Dublin Castle war er bevollmächtigt, unsere Bücher in Augenschein zu nehmen. Wir ließen ihn gewähren. Er zeigte besonderes Interesse an allen von dir geleisteten Marmor-, Maurer- und Steinmetzarbeiten sowie an allen damit zu sammenhängenden Geldern und Transaktionen. Father Benny Cassidy gab ihm eine Truhe voller Dokumente, die alle mit der Kathedrale und den Kosten ihrer Fertigstellung zu tun hatten. Er warf kaum einen Blick darauf. Wir fanden beide, dass er sehr wenige Fragen zu Dingen stellte, die ihn eigentlich hätten interessieren sollen.
Später unterhielt ich mich mit ihm. Sein Vater ist ein Gutsverwalter in Chatsworth (Sitz des Herzogs von Devonshire), und so kamen wir natürlich auf den verstorbenen Lord Frederick Cavendish zu sprechen. Als ich meine tief empfundene Abscheu über dessen grausige Ermordung im Phoenix Park zum Ausdruck brachte, zeigte er sich stark betroffen. Anschließend sprach er mit mir über vertrauliche (nicht geheime) Angelegenheiten der Krone und ich mit ihm über vertrauliche (nicht geheime) Angelegenheiten der Kirche. Er ist ziemlich sattelfest in beiden Themen. Daher bin ich mir sicher, dass er kein Steuerkommissar ist – aber was er ist, das weiß ich nicht. Die Art und Weise, wie er sich nach Dir erkundigte, erschien mir befremdlich. Morgen will er Dir einen Besuch abstatten. Ich vermute, Du hast genau wie ich vor langer Zeit gelernt, das Unverwartete zu erwarten, das Unglaubliche zu glauben und allen Menschen gegenüber jederzeit auf der Hut zu sein.
Ich habe Dich getraut, ich habe Elizabeth getauft, wir sind immer Freunde gewesen, Du bist all die Jahre über aufrichtig mit mir umgegangen, und ich habe das Gefühl, dass mein Eindruck von diesem Fairbrother hilfreich für Dich sein könnte. Übrigens, wie geht es Elizabeth? Wie ich höre, wird sie Deiner armen Catherine immer ähnlicher. Morgen fahre ich nach Enniskillen, um eine Nichte zu verheiraten und einen hoffentlich vergnüglichen Abend mit Percy French zu verbringen. Wirst du dort sein? Und Elizabeth? Wenn nicht, sende ich meine besten Wünsche, und bitte schaut vorbei, falls einer von Euch in diese Gegend kommt.
Mit freundlichen Grüßen in Christo
James von Clogher
P. S. Father Benny hat mich davon unterrichtet, dass noch einige Zahlungen offen sind. Sie werden, Deo volente, noch vor Ende November beglichen sein. Jimmy.
Beth gab Billy den Brief zurück und sagte:
»Er ist ein Agent des Dublin Castle, Sir.«
»Ein Spion?«
»So etwas Ähnliches.«
»Was könnte der von mir wollen … von uns?«
»Informationen, das ist doch deren Aufgabe.«
»Da ist er bei uns aber an der falschen Adresse.«
Billy betrachtete unschlüssig den Brief, las noch einmal einzelne Passagen, und Beth wagte eine Vermutung.
»Vielleicht hat’s ja damit zu tun, dass wir Mr Parnell beherbergt haben.«
»Was für eine Bedeutung sollte das haben?«
»Genug, um die Leute im Castle neugierig zu machen.«
»Zur Hölle mit alledem. Du hast Geburtstag… Lass uns reingehen und frühstücken, du bist seit aller Herrgottsfrühe auf.«
Billy faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Westentasche, nahm Beth beim Ellbogen und führte sie durch die Eingangshalle zum Speisezimmer.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Sie haben fest geschlafen, Sir.«
»Trotzdem.«
»Nächstes Mal tu ich’s.«
»Du bist dein Gewicht in Gold wert, Mädel.«
»Bin ich das, Sir?«, fragte sie.
Durch die hohen Fenster strömte die Maisonne ins Speisezimmer, schimmerte auf der polierten Schieferplatte des Kamins und ließ Gläser und Besteck auf dem Tisch aus Rosenholz funkeln. Mercy hatte eine große Glasvase mit Rhododendron, Klematis und grünen Farnwedeln gefüllt. Den Tisch hatte sie eigens mit weiß-blauem Geschirr und gutem Silberbesteck gedeckt, und während sie Platz nahmen, setzte sie jedem von ihnen ein gebratenes Frühstück vor und stellte eine Schüssel mit Scones zwischen sie. Beide dankten ihr, und Billy fragte Beth einige Minuten lang zum genauen Hergang der Kuh- und Blähungsgeschichte aus, ließ sie Schritt für Schritt jede Einzelheit rekapitulieren. Während sie antwortete, erinnerte sich ein Teil von ihr an eine ganz andere Morgendämmerung, die sie vor nicht allzu langer Zeit erlebt hatte.
Kurz bevor es hell wurde, war sie von Lärm und Geklapper in der Küche erwacht und hinuntergegangen. Ja, sie konnte schon mal Fleisch abschneiden, ja, sie konnte schon mal Butter aufs Brot streichen, und während sie dies tat, hatte Billy am Esstisch gesessen und mehr Whiskey auf die Tischplatte als in sein Glas geschüttet und, vermischt mit rührseligen Anspielungen auf ihre Mutter, über Reisen und Steinbrüche und Geschäfte und Verträge geredet. Als es zu nervtötend und unverständlich wurde, hatte sie sich zum Gehen gewandt. Da hatte er mit dümmlich geöffnetem Mund ihren Oberschenkel gepackt, und sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte: »Wenn ich in der anderen Hand jetzt eine Waffe hätte, könnte ich sie ihm in den Mund stecken und abdrücken.« Sie blickte ihm fest in die blutunterlaufenen Augen. Er lockerte seinen Griff und stand schwankend auf. »Dein Vermächtnis, Mädel, dein Erbe, alles im Safe wartet auf dich.« Einen Moment lang stand er scheinbar unentschlossen da, und sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zur Zimmerecke. Dann kniete er nieder und nestelte an den Schlüsseln herum, die er stets am Körper trug.
»Bring mal die Lampe her.«
Sie trug die Öllampe hinüber und hielt sie hoch, während er drei Schlüssel auswählte. Der erste, ein langer Eisenschlüssel, öffnete eine in die Wandtäfelung eingelassene Tür; mit dem zweiten, einem Hahnschlüssel, ließ sich eine gusseiserne Tür zur Seite schieben; dann der eigentliche Safeschlüssel, ein eleganter, doppelseitiger Messingschlüssel. Die geölte Zunge klickte im Schloss, und als er am Griff drehte und die Tür aufschwang, vermittelte sich der Eindruck von Schwere. Das Erste, was sie sah, war eine dreieckige Biberkappe, ähnlich derjenigen auf dem Porträt seines Großvaters, eines ungeschlacht wirkenden Mannes, der in einer Hand ein Pergament hielt, in der anderen die Biberkappe. Vom eisigen linken Auge zog sich eine Narbe bis hin zur geraden Linie der Oberlippe; laut Billy stammte sie von einem indianischen Kriegsbeil. Mit einem schnaufenden Gackern setzte Billy sich die Kappe auf den Kopf und glotzte zu ihr hoch: ein neuzeitliches Ebenbild des Porträts, verschmolzen mit dem wissenden, grinsenden Gesicht eines Trinkers.
Sie sah Pergamentrollen, Bündel verblichener Briefumschläge in offenen Regalfächern, Schatullen aus Sandelholz und Kästchen aus Perlmutt, ein schwarzes Logbuch und ein großes unteres Schubfach, das genauso breit war wie der Safe selbst. Dem Safe entnahm er einen separaten Schlüssel, mit dem er das Schubfach aufschloss. Während er es mit der linken Hand herauszog, tauchte seine Rechte in einen glitzernden Haufen Goldmünzen. Er nahm eine Handvoll davon, zog die Biberkappe ab und hielt beides ins Lampenlicht, ihr entgegen.
»Das hat diesen Ort vor hundert Jahren aufpoliert … französisches Gold, die Biberausbeute von drei Millionen Quadratmeilen.«
Er nickte zu dem Porträt hinauf: »Sein Wahlspruch: ›Wach sein und zugreifen.‹«
Er keuchte ein heiseres Lachen hervor und wiederholte: »›Wach sein und zugreifen.‹« Dann senkte er die Stimme zu einem lauten Flüstern ab und sagte: »Und genau das hat er getan… Schau!«
Wieder hielt er ihr die Münzen vors Gesicht. Erschrocken wich sie zurück, obgleich sie mit der Mythologie des Gründergroßvaters seit Langem vertraut war: wie er 1770 in London bei der Company of Adventurers angeheuert hatte und nach Kanada und in die Hudson Bay gesegelt war. Sie hatte von der drei Millionen Quadratmeilen großen weißen Vorhölle erzählen hören, wo Pelzhändler ein Vermögen machten und wieder verloren und sich Whiskey und Squaws hingaben. Sie wusste von der Grausamkeit des Lebens und des Sterbens dort drüben, wusste, dass in jenem ersten Winter acht von ihnen während einer Fahrt flussaufwärts ins eisige Wasser gestürzt waren, als ihr Kanu an Felsen zerschmetterte. Da sämtliche Vorräte verloren gegangen waren, hatten sie sich eingegraben, um auszuharren, bis ihr Scout vom Stamm der Cree mit Lebensmitteln, Kleidung und Hilfe zurückkehrte. In einer Kälte, die so erbarmungslos war, dass selbst Quecksilber gefroren wäre, war im Verlauf der nächsten beiden Tage ein Weggefährte nach dem anderen gestorben. Nachdem er Wölfe und Polarfüchse abgewehrt hatte, die sowohl die Toten wie die Sterbenden angriffen, war er schließlich allein gewesen, hatte bittere Tränen vergossen und – wie er glaubte, für immer – die Augen geschlossen, nur um sie in einem verräucherten Tipi unter einer wärmenden Biberdecke wieder zu öffnen.
Und wie sich in den darauf folgenden Jahren, als England und Frankreich nahezu ununterbrochen miteinander im Krieg lagen, eine günstige Gelegenheit ergeben hatte. Seit dem Morgengrauen hatten sich eine französische Fregatte und ein englisches Kriegsschiff in der Hudson Bay gegenseitig mit Kanonenfeuer beschossen. Zum Mittag hin waren die Flanken beider Schiffe derart zerschmettert, dass die Besatzungen der unteren Decks einander wie in einem offenen Puppenhaus sehen konnten: auf beiden Seiten Geistliche und Wundärzte, die in Chorhemden und blutbefleckten Schürzen ihrer Pflicht nachgingen. Später am Abend lavierte der französische Kapitän sein Schiff mit abgedrehten Kanonen heran und forderte den englischen Kapitän zur Kapitulation auf. Dieser weigerte sich und forderte seinerseits den Franzosen zur Kapitulation auf. Daraufhin ließ der Franzose Brandy kommen, um auf die Tapferkeit des Engländers anzustoßen, während dieser Whisky kommen ließ, um auf die Tapferkeit des Franzosen anzustoßen, und danach wurde das Gefecht fortgesetzt. Gemeinsam mit drei Kameraden hatte Billys Großvater dies von den Stufen eines Handelspostens aus beobachtet und gesagt: »Genug zugeschaut: Zeit, zuzugreifen.« In dieser Nacht beluden sie eine Schaluppe mit fünfzehntausend Biberpelzen und segelten nach Nordfrankreich, wo sie sie für fünf Kisten Gold verkauften; eine für jedes Besatzungsmitglied und zwei für Kapitän Winters.
Plötzlich, als würde er sich seiner Handlungen und Worte eben erst bewusst, legte Billy das Gold und die Biberkappe wieder zurück, verschloss den Safe, entfernte sich aus der Ecke und sagte fast nüchtern: »Wenn du umsichtig bist, Mädel, wenn du dir Zeit lässt und das Deinige tust…«, mit dem Daumen deutete er in die Ecke mit dem Safe, »könnte all das dir gehören – das und was ich hinzugefügt habe.«
Am folgenden Morgen tat er so, als habe er alles vergessen. Sollte sie ihn doch beerben? Und was hieß ›umsichtig sein‹? Sich fügen, während er einen Schritt zu weit ging! Und was hieß ›das Deinige tun‹? Betten machen, Hemden waschen, Eier kochen, Ställe ausmisten, melken und buttern, mit Mercy Boyle als Hilfe? Wahrscheinlich würde er neunzig werden und sich womöglich sogar wiederverheiraten, wenn sie aus dem gebärfähigen Alter längst heraus wäre.
Als sie Tee nachgoss, hörte sie Billy sagen:
»Das neue Gewächshaus deines Gemeindepfarrers ist eingeschmissen worden.«
»Mercy hat mir davon erzählt.«
»War sie da? Am Wegkreuz? Trinkgelage und Teufelstänze?«
Beth hörte, wie sich ihr eigenes Lachen mit Billys Glucksen vermengte, und sagte:
»Es ist aber auch eine Schande, wo sollen sie sich denn sonst treffen?«
»Er hat sie mit seiner Reitgerte verjagt. Hat Mercy das erwähnt?«
Er versuchte von ihrem Gesicht eine Reaktion abzulesen; vergebens. Das gequälte Gesicht einer Schlaflosen mit dunklen Ringen unter den Augen, das rotbraune Haar zu Gretelzöpfen geflochten, der volle Mund dem von Cathy so ähnlich, dass es ihm das Herz zerriss. Während des gesamten Frühstücks gab sie sich unnahbar, beinahe abwesend, dabei war sie schon draußen auf den Feldern und unten im Hof gewesen und hatte geholfen, das Frühstück vorzubereiten.
»Du bist sicher müde, Beth.«
»Nicht besonders, Sir.«
»Du hast also gut geschlafen.«
»Bis mich das Tier aufgeweckt hat.«
»Du hättest mich wecken sollen.« Billy bemerkte, dass ihr Mund Worte formte, ihr Geist jedoch mit etwas anderem beschäftigt war. Womit nur?
»Leo sagt, er kennt den Schurken.«
»Ja?«
»Unser unmittelbarer Nachbar und Pächter … Liam Ward. Er hält ihn für böse.«
»Böse, Sir?«
»Das ist das Wort, das er gebraucht hat.«
»Wie kommt er dazu?«
»Das weigert er sich zu sagen … Beichtgeschichten eben.«
»Ich bezweifle, dass Ward zur Beichte geht, ich habe ihn noch nie in der Kirche gesehen.«
»Vielleicht beichten ja seine Damen, falls man seine Gefährtinnen ›Damen‹ nennen kann.«
»Wäre er deswegen böse, Sir?«
»Seine genauen Worte waren: ›Er ist ein übler Geselle … das personifizierte Böse, oder doch nahe dran.‹«
Beth dachte darüber nach, dann sagte sie:
»Ich denke, das sind die meisten Menschen, mehr oder minder … auf die eine oder andere Art.«
Worauf spielte sie an? Billy spürte einen Vorwurf, und sein Verstand suchte und fand eine Antwort.
»Dummheit ist eine Sache«, sagte er, »Bösartigkeit eine andere.«
Am Morgen nach der trunkenen Nacht und dem Bibergold hatte er sich beim Frühstück darüber ausgelassen, dass Malt Whiskey »etwas Abscheuliches« sei, er selbst in Enniskillen in »schlechte Gesellschaft« geraten sei, er sich, »verflucht noch mal, an nichts, aber auch rein gar nichts« erinnere und von Glück reden könne, »ein großes Pony wie Punch« zu haben, »das in der Dunkelheit von selbst nach Hause findet«.
Da wusste sie, was geschehen war, und er ahnte oder wusste es auch. Als Heranwachsende hatte sie oft laut vor sich hin gesagt: »Ich wünschte, er wäre tot.« Im Halbschlaf oder im Halbwachen beruhigte es sie manchmal, seinen Tod zu planen: ihn von der Steinbruchkante zu stoßen, seinen Whiskey mit Gift zu versetzen oder – jene schreckliche Lösung, von der sie bei William Carleton gelesen hatte – das Haus in Brand zu setzen, während er im Vollrausch war, und vom Ringfort, vom Wäldchen oder vom Brunnenhügel aus sämtliche Untaten der Vergangenheit brennen zu sehen, brennen, brennen, brennen zu sehen, keine Rache, sondern ausgleichende Gerechtigkeit. Es lag eine Art beglückender Trost darin, von derart unmöglichen, derart schrecklichen Taten zu träumen.
Während sie Scones mit Butter und Orangenmarmelade aßen, nutzte Billy eine Gesprächspause, stand auf, ging zur Anrichte und entnahm der Schublade einen Umschlag. Aus dem Umschlag zog er etwas, das wie ein Billett aussah und legte es vor sie hin. Sie las:
DER WELTBERÜHMTE
MR PERCY FRENCH
WIRD AM DONNERSTAG, DEM 3. MAI 1883
UM 19.00 UHR
IM RATHAUS ZU ENNISKILLEN
SEINE UNNACHAHMLICHEN LIEDER
UND BERÜHMTEN GEDICHTE
VORTRAGEN
Alberne Balladen, Banjogeklimper, idiotische Rezitationen jämmerlicher Knittelverse, die sie witzlos fand, und all das gewürzt mit peinlicher Sentimentalität. Jede zweite Schänke und viele Häuser im Land hallten von betrunkenen Darbietungen wider. Es würde einer Art Folter gleichkommen, den Urheber solchen Unfugs in der Öffentlichkeit singen zu hören. Aber sie konnte ohnedies nicht mitgehen. Seit Wochen malte sie sich aus, was in der kommenden Nacht geschehen würde. Sie hörte sich sagen:
»Ich mache mir nicht viel aus Percy French, Sir.«
»Du magst Percy French nicht?«
»Nein, Sir.«
»Was gefällt dir an ihm nicht?«
»Ich glaube, die Albernheit…«
Billy streckte die Hand aus und zog das Billett langsam zurück, während er wiederholte: »Albernheit?«
»Ja, Sir.«
»Alle Welt singt seine Lieder … ist die ganze Welt albern?«
Albern schien ihr noch ein freundliches Wort für das, was alle Welt wunderbar fand.
»Es gefällt mir nicht besonders, was er macht.«
»Was gefällt dir denn?«
»John Keats.«
»Und wovon singt der?«
Nachdenklich hielt sie inne, dann sagte sie: »Von Tod und Nachtigallen.«
»Vielleicht kommt er ja eines Tages und trällert uns im Rathaussaal was vor.«
»Sie wissen doch, dass er längst tot und beerdigt ist, Sir.«
»Wo keine Vögel singen.«
»Wozu die Heuchelei, wenn Sie ihn zitieren können?«
»Weil ich Percy French kenne und schätze. Du hast heute Geburtstag … es sollte ein Ausflug werden. Aber sei’s drum, ich kann jemand anderen für deine Karte finden.«
Wieder ganz die Mutter … strafend … keine Abneigung gegen Percy French, Abneigung gegen alles, was mir gefällt.
Beth wusste seit Jahren, dass Billy als Student Percy French gekannt hatte. Er würde in der ersten Reihe des Rathaussaals sitzen, zu laut klatschen und sie höchstwahrscheinlich anschließend hinter die Bühne bringen, um sie Percy French vorzustellen. Auf dem Heimweg im Einspänner dann voraussichtlich betrunkenes Gegrapsche, beim Abschirren des Hengstfohlens im Hof Gestolper und Gebrummel, der obligatorische Klavier- und Gesangsvortrag. Heute Nacht würde er all das allein tun müssen, während Ward und sie ihren atemberaubenden Plan in die Tat umsetzten. Danach würde sie fort sein von hier, für immer und immer und immer und ewig… Amen.
»Du versäumst eine seltene Gelegenheit.«
»Ich mag keine Konzerte, Sir … Ich dachte, das wüssten Sie.«
»In Italien bist du doch beinahe jede Woche in eins gegangen.«
»Das waren Opern.«
»Du wirst allein hier sein.«
»Mit Geflügel im Hof und Feldern voller Schafe und Rinder, und Krähen und Tauben, Tausende davon, und jetzt all die Schwalben und die Wiesenralle, die unablässig tönt. Und sollte die mal verstummen, setzt sofort ein Esel ein. Wenn ein Ort auf Erden nicht einsam ist, dann dieser.«
»Es tut gut, dich lächeln zu sehen, Beth. Ich dachte, du wärst vielleicht über irgendetwas verstimmt.«
»Ich bin ganz zufrieden, Sir.«
»Dann werden wir deinen Geburtstag auf andere Weise begehen, an einem anderen Tag.«
»Das wäre schön, Sir.«
»Du willst es dir nicht anders überlegen?«
»Ich würde lieber nicht gehen.«
Er war zur Tür gegangen, hatte sie einen Spaltbreit geöffnet, dann gezögert und auf die Stimmen gelauscht, die von der Küche herdrangen. Beth konnte mit halbem Ohr die schleppende, kehlige Stimme von Jim Ruttledge erkennen. Alles lachte, als Mercys Bruder Gerry einen Reim zum Besten gab. Dann Mickey Dolphin, der ausführlich beschrieb, wie er einmal das Feld am See hinaufgewandert war, die Kanüle, die »wie ein Peitschenhieb« hineinfuhr, das Zischen des eingeschlossenen Gases, und noch mehr Gelächter, als Gerry irgend einen Blödsinn daherstammelte. Über ihn hinweg sagte Mickey: »Mit Miss Beth würde ich mich lieber nicht anlegen, wenn sie dieses Dings in der Tasche hat. Sie könnte Unheil anrichten, sie könnte einen Menschen damit übel durchlöchern.« Darauf die tiefe Stimme von Jim Ruttledge: »Wie hält’s denn unsere Mercy, würdest du dich durchlöchern lassen, Mercy?«
Inmitten eines neuerlichen Ausbruchs gutmütigen Gelächters und Geplänkels ließ Mercy sich mit den Worten vernehmen: »Wie ’ne Meute dummer kleiner Jungs, die ganze Bagage hier!«
Billy lächelte leise, blinzelte zu Beth hinüber, räusperte sich und ging in die Küche. Plötzliche Stille, dann eine allmähliche Wiederaufnahme des Gesprächs. Sie hörte Billy sagen:
»Der Kanonikus sagt, dass der Depp McGonnell wieder im Lande herumstreunt. Kennst du ihn, Gerry?«
»Jawohl, Sörr.«
Mercys Bruder Gerry Boyle hatte die gleichen großen, dunkel starrenden Augen wie seine Schwester. Er lauschte allem mit offenem, zahnlückigem Mund, und wenn er sprach, dann um einen Vers oder einen Sinnspruch hervorzustottern, den er gelernt hatte. »Armer Bursche, bisschen unbedarft«, sagten gütigere Menschen über ihn. Für die meisten jedoch war er nur »’n Dämlack«.
»Un’ ob ich ihn kenn’, Sörr. Er, er, er macht den Mädels bange, un’ er is’ mächtig stark, er, er, er zischt se an wie ’n Ganter, und das jagt ihnen ’nen heillosen Schrecken ein, dass se ihm alles geben … er’s ’n harmloser Schlawiner, Sörr.«
»Sicher doch«, sagte Billy, »und raucht sein Pfeifchen in jeder Scheune, in die man ihn reinlässt … zieht eine Spur von Scheunenbränden hinter sich her. Ich will nicht, dass er mir auch nur in die Nähe kommt, und wenn er widerspenstig wird, dann ruft mich, ich kümmere mich schon um ihn.«
Als Beth das Frühstücksgeschirr aufs Tablett stellte, hörte sie, wie sie über das Moor, das Torfstechen und das Wetter redeten, hörte, wie Billy ans Barometer klopfte und von einem Wetterumschwung sprach, hörte Mickey Dolphin sagen: »In der Zeitung steht, es soll die ganze Woche schön bleiben«, und Jim Ruttledge entgegnen: »Woher willst du das denn wissen, Mickey, du kannst doch gar nicht lesen.« Dann hörte sie, wie die Männer die Küche verließen.
Sie ging mit dem Frühstücksgeschirr zur Küche, dann in die Spülküche, wo Mercy ihm, wie an jedem Wochentag, sein Mittagessen in eine schwarze Ledertasche packte: in feuchtes Butter-Musselin eingewickelte Specksandwiches, ein Stück Kümmelkuchen und eine Glasflasche mit kaltem Tee. Durch das Spülküchenfenster sah Billy Winters den drei Männern nach, die den Hof überquerten, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Vor genau fünfundzwanzig Jahren, an diesem Tag und etwa zu dieser Stunde, hatte er von der Treppe her den Schrei eines Säuglings vernommen, unterlegt von der Stimme des alten Doktors McAllister, der mit der Hebamme sprach. Überfordert hatte er sich davongemacht, ohne zu wissen, wohin und für wie lange. Hier nun blickten ihn die gleichen grünen Augen an, aus dem gleichen Gesicht – ein lebendiges Abbild des Betrugs? Beth legte die Kanüle, die sie gesäubert und ausgekocht hatte, in die Schublade des Veterinärschranks zurück. Was sollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Er ging auf sie zu, nahm ihren Ellbogen und lenkte sie in Richtung Hintertür. Er öffnete sie, trat hinaus auf das trockene Pflaster in das trübe Sonnenlicht und die jähen, grellen Schreie früher Schwalben.
»Scheint in gewisser Weise etwas dürftig … dein Geburtstag.«
»Ich bin zufrieden, Sir, wirklich.«
»Mit diesem Haus, diesen Feldern … nicht mit mir.«
»Bisweilen.«
»Sag mir, was dich so verdrießlich stimmt.«
»Jetzt?«
»Ja, raus mit der Sprache, damit wir’s endlich hinter uns bringen. Du hegst einen Groll gegen mich.«
Der Vortäuschungen mit einem Mal müde, sagte Beth:
»Ich denke, Sie wissen es, Sir, und ich weiß, dass Sie es wissen.«
»Ich habe dir nie etwas zuleide getan, Beth.«
In die darauf folgende Stille ertönte vom fernen Festungshügel die Coda der Wiesenralle.
»Oder?«
»Ich weiß nicht, Sir.«
»Ich würde eher sterben, als dir ein Leid zuzufügen, Mädel … das weißt du.«
»Wollen Sie es wirklich wissen?«
»Ja.«
»Das letzte Mal sind Sie hereingekommen, haben sich auf mein Bett gesetzt, mich auf unväterliche Art geküsst und dann etwas gesagt, das ich lieber nicht wiederholen möchte. Da bin ich zornig geworden, Sir, und zu Mercy gegangen, um in ihrem Bett zu schlafen.«
»O Gott«, stöhnte Billy, »und das eröffnest du mir an einem sonnigen Tag im Mai?«
»Sie wollten es wissen, Sir.«
Er durchquerte den Hof, drehte sich um und sagte:
»Immerhin hat der Tag gut angefangen, du hast dich tapfer geschlagen, und das werde ich dir nicht vergessen.«
Beth schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und versuchte, Worte zu finden, mit denen sie das Gespräch beschließen konnte.
»Jede andere hätte genauso gehandelt, Sir.«
»Lass uns ein andermal reden«, sagte Billy, »ich mache es wieder gut.«
Zu spät, dachte Beth, als sie zusah, wie er Mickey Dolphin nachging, der jeden Morgen mit seinen zwei weißen Emailleeimern den halben Weg zum Steinbruch zurücklegte, um aus einem oberirdischen Quellbrunnen Wasser für das Haus zu schöpfen. Das Wasser, das vom Brunnenhügel durch den Hof floss, war bernsteinfarben und schmeckte morastig.
Bei trockenem Wetter zog es Billy Winters sommers wie winters vor, zu Fuß zum Steinbruch zu gehen. Dabei gab es mehr zu sehen: Rinder, Schafe und, zu dieser Zeit, den Obstgarten in voller Blüte – und wenn er sich dem Steinbruch näherte, kam immer wieder der Lower Lough in den Blick. Außerdem war es so eine Meile kürzer, als wenn er mit dem Einspänner die Auffahrt zur Landstraße hinunterfuhr und dann außen herum zum Steinbruch. Jetzt ging Billy unter dem Torbogen hindurch zum hinteren Weg. Er gab acht, wohin er trat, damit er seine feinen Lederstiefel nicht mit Kuhdung beschmutzte. Mickey Dolphin hörte ihn, drehte sich um und blieb stehen, um auf ihn zu warten. Während er sich näherte, blickte Billy Winters unablässig zum Himmel empor, und es kam Mickey Dolphin vor, als sei das Gesicht seines Dienstherrn in Ärger erstarrt.
»Was können Sie da oben lesen, Mr Billy, Sörr?«
»Da steht geschrieben, dass du letzte Nacht betrunken warst und es mit aller Wahrscheinlichkeit immer noch bist… Eines Morgens wird man dich tot auffinden, und keiner wird da sein, der dich beerdigt.«
Billy Winters ging ohne anzuhalten an Mickey vorbei, der seine Eimer aufhob und ihm im Laufschritt hinterhereilte.
»Sie würden mich beerdigen, Billy, Sörr.«
»Warum sollte ich?«
»Sie haben mich halt mächtig gern.«
»Aber warum sollte ich… Was hast du in den letzten dreißig Jahren je für mich getan, außer deinen Lohn zu kassieren? Einen Scheißdreck.«
»Lohn, Billy, Sörr … zehn Schilling im Monat?«
»Ja, und immer was zu beißen, ein Dach überm Kopf und meine abgelegten Hemden und Stiefel und Wollsachen.«
»Sie sind heut Morgen aber schlimm verquer, Billy, Sörr.«
Da brüllte Billy plötzlich:
»Vier Männer: du, ich, Gerry Boyle und Jim Ruttledge und eine Kuh, die ihre Qualen herausschreit – und wer rettet sie vor dem Abdecker? Nicht ich, nicht du, nicht Gerry, nicht Jim Ruttledge, sondern ein schmächtiges Mädchen, Elizabeth Rosaleen.«
»Ja, Miss Beth, ein wahres Wunder, dieses Mädchen. Und schauen Sie, die Kuh ist gesund und munter, Sörr.«
»Kannst du mir erklären«, sagte Billy mit bedächtiger Stimme, »was es an Mr Percy French auszusetzen gibt? Du bist Bänkelsänger, spielst Mundharmonika, treibst dich an Wegkreuzen herum, bist Volksmusikant, Steptänzer und Fuselschlucker; sag du mir, Mickey Dolphin, was es an Mr Percy French auszusetzen gibt?«
»Rein gar nichts ist an ihm auszusetzen, Sörr … nach allem, was man hört.«
»Dann sieh zu, dass du um fünf das Torffeld verlässt, dich rasierst und deine besten Sachen anziehst und Punch so rechtzeitig angeschirrt hast, dass wir um sechs aufbrechen können. Heute Abend wirst du im Rathaussaal Mr French hören.«
Plötzlich blieb Billy stehen, hielt mit der linken Hand Mickey fest und legte den Zeigefinger der rechten auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu mahnen. Dort, wo sie jetzt standen und lauschten, fiel der Hohlweg zum Steinbruch zwei Gräber tief zu einer Wildnis aus Birken, Erlen und Ahorn ab, einem Morgen abgetragenen Moorlands, wo seit alters her der Unrat von Clonoula abgekippt und verscharrt wurde, eine Schicht über der anderen und zum Teil schon überwuchert: Räder von Karren und Kinderwagen, Reifen, verfaulende Fässer und Kübel, Scherben von Gefäßen und Geschirr, rostige Sturmlaternen, dazu Bauschutt, Latten und Putz, alte Rechnungen und Wirtschaftsbücher und – ein grotesker Anblick – eine blinde Puppe, die von einem neueren Müllhaufen schief herabgrinste.
In der Stille hörten sie etwas, das wie gleichmäßiges Schnarchen klang. Billy kämpfte sich durch totes Farnkraut und Dornengestrüpp, bis sie den Moorgrund erreichten. Getüpfeltes Licht, trübe wie in einer Kathedrale, und mittendrin, wie auf einer Insel inmitten schwarz schimmernder Moorlöcher, sahen sie den schlafenden Depp McGonnell, den Kopf auf Farnwedeln in die Astgabel einer Birke gebettet. »Der Depp«, flüsterte Billy, und Mickey erwiderte: »Hier wird er wohl kaum Feuer legen, Sörr.«
Nach einer Minute hatten ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt, und Mickey fragte:
»Wie wäre ein Mensch in dieser Welt wohl besser dran: blind oder taub?«
»Taub«, sagte Billy. »Was man hört, ist schlimmer als das, was man sieht.«
»Blind. Ich wäre hundert Mal lieber blind.«
In diesem Moment wurde Billy Winters bewusst, dass Mickey Dolphin zu zittern begonnen hatte. Die Stirnfransen auf seinem schmalen Kopf wackelten wie die Mähne eines mechanischen Spielzeugpferdes. Er sah nicht, dass Mickeys Blick von der blinden Puppe auf dem Müllhaufen zu dem bleichen Gesicht eines ertrunkenen Kindes gewandert war, das durch das braune Wasser des Moortümpels zu ihm heraufstarrte. Billy sah ins Wasser. Er konnte nichts erkennen und flüsterte eindringlich:
»Kerl, was ist los mit dir?«
Ein Weinen brach sich Bahn, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien; ein derart schmerzerfülltes nasales Wimmern, dass Billy verwirrt ein Stück beiseite trat und murmelte: »Du musst die Finger von den Kurzen lassen, Mickey – kein Mensch verträgt unverdünnten Poteen.«
Dann sah er, wie Mickey Dolphin sich vor den Tümpel kniete und hinabstierte. Tränen strömten ihm durch die Finger.
»Herr im Himmel«, grummelte Billy, »was soll denn das?« Er ging zu Mickey, hockte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter.
»Ist schon in Ordnung, Mickey. Ich hab nur Spaß gemacht. Wir werden dich schon anständig unter die Erde bringen.«
»Auf meine Beerdigung würd ich keine Wette eingehen.«
Dann wandelte sich das Schluchzen zu einem Zwischending aus Kichern und Lachen. Es endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Mickey setzte sich wieder auf die Fersen und wischte sich das Gesicht ab.
Mit einem Mal richtete der Depp sich auf und blickte zu den beiden Männern hinüber, von denen der eine kniete, der andere hockte. Mit einem knurrenden Geräusch beugte er sich über das Wasser vor ihm, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu wimmern, als wollte er Mickeys Kummer nachäffen. Billy sagte:
»Lass ihn, schau nicht hin zu ihm.« Er nahm Mickey beim Arm und führte ihn aus dem Moor heraus zum Hohlweg.
»Was hast du da unten gesehen?«
Mickey Dolphin schüttelte den Kopf.
»Du bist verrückt, Mickey.«
»Sind wir das nicht alle ein bisschen?«, sagte Mickey, und als er von Neuem zu zittern begann, nahm Billy Winters ihn bei den Schultern, drehte ihn zum Brunnen hin und sagte:
»Hol dein Wasser und halt dich um sechs bereit.«
Als er Mickey nachsah, der den Pfad zur Quelle unter der Eberesche entlangging, hörte er den Depp aus dem Moor kommen: ein großer, breitschädeliger Mann mit drei langen gelben Zähnen im Oberkiefer, einem grob gestutzten Bart und rot geäderten Augen. Sein langer, knopfloser Mantel war mit einem Strick zugebunden.
In Zeichensprache gestikulierend, kam er in zwei ungleichen Stiefeln den Hohlweg heruntergewatschelt.Um Abstand bemüht, sagte Billy mehrmals: »Schon gut, schon gut.«
Der Depp schüttelte den Kopf, stellte sich ihm in den Weg und nötigte Billy, auf seinen Mund zu schauen, der die Worte formte:
»Nichts ist gut … ich habe Hunger.«
»Dann geh hinauf zum Haus«, sagte Billy, »da bekommst du ein Frühstück… Und danach wirst du auf dem Hof nicht den Kranken spielen, und es kommt nicht in Frage, dass du in den Speichern oder Heuschuppen übernachtest.«
Der Depp brummte und rümpfte die Nase, als rieche er etwas Unangenehmes.
»Und wer zum Teufel bist du, McGonnell«, fragte Billy, »dass du Mickey Dolphin verspottest?«
Der Depp warf ihm zornige Blicke zu, schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. Billy beharrte:
»Er war verzweifelt, und du hast ihn verspottet.«
Der Depp schüttelte vehement verneinend den Kopf. Mit Zeichen und Gesten, die Hand aufs Herz gelegt, machte er Billy klar, dass er Mitgefühl mit Spott verwechselt habe.
»Und was kannst du schon über Mickey Dolphin wissen? Er ist seit mehr als fünfundzwanzig Jahren bei mir.«
Mit einem wissenden Grinsen ließ der Depp durchblicken, dass er nahezu alles über jeden wusste.
Dann steckte er die Hand tief in die Manteltasche und zog den Stummel eines Kopierstifts hervor. Auf die Innenfläche seiner weichen weißen Hand zeichnete er eine Art Halbkreis. In den unteren Teil des Halbkreises kritzelte er das Bild eines Kindes, das auf dem Rücken lag.
»Ein Mutterleib?«, fragte Billy und legte eine Hand an seinen Brustkorb. Der Depp schüttelte den Kopf. Er deutete auf den Pfad, den Mickey Dolphin mit seinen Eimern hinuntergegangen war, kauerte sich hin und zog mit dem Zeigefinger einen Kreis in den Sand.
»Ein Brunnen?«
Der Depp nickte. Dann skizzierte er auf seinem Daumen ein Gesicht mit Stirnfransen, das Mickeys ähnelte, malte ein paar Tränen dazu und knickte den Daumen ein, um eine kniende und weinende Gestalt über einem Brunnen darzustellen.
»Ein ertrunkenes Kind?« Der Depp nickte.
»Mickeys?«
Er nickte erneut und begann die Einzelheiten zu schildern. Mickey war eines Abends mit seiner kleinen Tochter zu einem Brunnen gegangen. Er war betrunken, schlief ein, und als er aufwachte, starrte sein Kind vom Grund des Brunnens zu ihm herauf. Seine Frau drehte durch und tat sich mit einem Mann aus der Nachbarschaft zusammen. Mickey trank noch mehr, musste sein Haus räumen und fing an herumzustreunen, und so kam es, dass der Depp ihm vor langer, langer Zeit in der Grafschaft Tyrone begegnet war.
»Lieber blind als taub«, murmelte Billy, als der Depp bittend seine Hand ausstreckte.
»Wozu die Bettelei?«, fragte Billy.
Der Depp rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gegeneinander. Dann presste er die Hände zusammen, legte sie an die rechte Wange und schloss die Augen.
»Geld für ein Schlafquartier«, grummelte Billy. »Mag sein, dass du dumm und stumm bist, McGonnell, aber auf die Kunst des Bettelns verstehst du dich bestens.«
Er legte dem Depp einen Schilling in die Hand und ging den Hohlweg entlang in Richtung Steinbruch. Im Gehen dachte Billy Winters an trügerische Mutterleibe und trügerische Brunnen, daran, dass ein jeder mehr oder minder beschämende und schmerzliche Geheimnisse zu verbergen hatte. Auf dem Pfad, der zum Brunnen führte, sah er Mickey Dolphins schmächtige Gestalt, die sich zum Wasser bückte. Wie hatte sein Kind geheißen? Ein kleines Mädchen, Allmächtiger, der Name musste in sein Herz eingeschnitten sein. Hat Gott auch darauf herabgegrinst? Lasset die Kindlein zu mir kommen. Gibt uns rechts und links eins übern Schädel. Kriechen, rennen, schlurfen bis zum Exitus, dann der Himmelsfürst oder der andere Bursche, oder das Nichts!
Die Landschaft begann zum Lower Lough hin abzufallen. Jetzt konnte er den vertrauten quadratischen Turm und die Dächer des Pochwerks und des Siebhauses erkennen und hörte das Kreischen eines stählernen Abbaumeißels, der in den Kalkstein drang. Für das Dynamit, das am Mittag unter schwerer Bewachung in einer versiegelten Fuhre aus Enniskillen eintreffen würde, mussten vierzig tiefe Löcher gebohrt werden. Ihm kam Donnellys Brief in den Sinn: »Das Unerwartete zu erwarten … und allen Menschen gegenüber jederzeit auf der Hut zu sein.« Gab es da etwas Unausgesprochenes? Heute Abend im Rathaussaal konnte er ihn fragen.
Als er sich dem Rand des Steinbruchs näherte, hielt er an einer steinernen Treppe an, die zur Schreibstube hinunterführte. An schönen Tagen wie heute konnte er bis zu den Spitzen und dem Turm des Rathauses von Enniskillen blicken, konnte die Landstraßen und die Feldwege, die Auffahrten und die Herrenhäuser, die in die Landschaft eingegrabenen Cottages erkennen. Seit beinahe hundert Jahren hatte dieser Steinbruch am See die Steine geliefert, aus denen sie erbaut waren, das Füllgut und den Kies, aus dem der Straßenbelag bestand.
Neben der Brechmaschine erhob sich eine Pyramide aus faustgroßem Bruchgestein. Dahinter erstreckten sich drei Morgen mit zerhacktem schwarz-grauem Kalkstein, voller eingetrockneter Pfützen und mit von Schlitten, Karren und Fuhrwerken zerfurchten Pfaden, die zum hinteren Ende des Steinbruchs führten. Dort, vor einer großen schiefergedeckten Steinhütte, standen Grabsteine, Altäre, eine halbfertige Kanzel und marmorne Kamine in unterschiedlichen Stadien der Vollendung. Auf dem Giebel der Hütte stand in fetten Großbuchstaben:
WINTERS’ STEINMETZARBEITEN
»Haben wir hier in West Fermanagh etwa einen Michelangelo?«, hatte vor Jahren einer der Adamsons gemurmelt. Hochadel, der über das Handwerk die Nase rümpfte. Der Schöpfer eines Grabsteins stand gerade mal eine Sprosse über dem Leichenbestatter. Derselbe Mann hatte in weniger als fünfzehn Jahren seine Gemälde, seine Skulpturen und sein marmornes Treppenhaus verschleudert, seine Ländereien waren Viehhändlern, Binsen und Jakobskraut anheimgefallen. Billys Vater hatte einmal gesagt: »Wenn sie kein altes Geld haben, kein neues Geld heiraten oder kein Handwerk erlernen wie wir, werden sie verschwinden. Sei achtsam, Sohn, und hüte das alte Geld, vermehre es und bewahre das Land. So wirst du überleben.«
Er war diesem Rat gefolgt, obgleich es ihm müßig erschien, ein Vermögen anzuhäufen, da zuletzt doch alles an desinteressierte Verwandte fallen würde: zwei verheiratete Cousinen und ihre Familien bei Dungannon. Wer würde dann die Arbeiten in diesem Steinbruch, auf dem Gehöft und allem, was dazugehörte, leiten und lenken? War der Testamentsnachtrag Beth gegenüber ungerecht? Der alte Patterson, juristisch kalt und schneidend persönlich: »In einem Testament geht es darum, was Sie wollen, Sir, und natürlich hat das Mädchen etwas verdient; aber wenn Sie zuerst sterben, könnte sie einen der ihren heiraten. Und was dann? Haben wir dafür das Meer überquert, dafür gefochten? Haben wir uns dreihundert Jahre lang hier geschunden, um es uns auf diesem Wege wieder entreißen zu lassen? Nein, Sir, Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was nach Ihrem Tode geschieht. Mit Verlaub, Sie haben schon einen Fehler begangen. Verschlimmern Sie ihn nicht durch einen weiteren.«
Weit unten, hinter dem Staub und dem Getöse des Steinbruchs, lag die spiegelglatte Fläche des Sees wie erstarrt in einem Streifen Sonnenlicht, der so grell war, dass Billy kaum die Umrisse von Corvey Island und Tirkennedy ausmachen konnte.