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Schulmeisters Marie

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Vor der grünen Tanne ging es toll und lustig zu. Damit ist jedoch nicht etwa jene schlanke, steife Tochter des Nordens gemeint, die im Sommer ihr dunkelgrünes, rauhhaariges Haupt im Sonnenlicht badet und zur Winterzeit, feenhaft geschmückt, eine einzige Gastrolle in der Kinderstube gibt – ein reizendes Debüt, das selbst in der Erinnerung uralter Leute einen geheiligten Platz behauptet. Diese Tanne also war es nicht, wohl aber die stattliche Schenke in dem thüringischen Dorfe Ringelshausen, in deren Schild ein derber Tannenbaum prangte, der bereitwillig wandernde Handwerksburschen, vornehme Städter und müde Kärrner unter seinem Schatten beherbergte und der nur denen seine spitzen Nadeln zeigte, welche die kabbalistischen Kreidestriche auf des Wirtes schwarzer Tafel nicht gebührendermaßen löschten.

Es ging also toll und lustig zu und gab so vergnügte Gesichter, als ob, wie ein alter, fideler Bauer meinte, das ganze Leben für die Leutchen ein Tanz sei, zu welchem die lieben Engel im Himmel aufspielten. Was den Alten übrigens zu diesem Vergleich veranlassen mochte, das kann ich dem Leser so eigentlich nicht sagen. Die Musik war es nun einmal gewiß nicht, denn die tat ihr möglichstes zu beweisen, daß sie erdgeboren sei; besonders die Trompete entfaltete eine Energie, als gälte es, die geweissagten Posaunen am Jüngsten Tag zu unterstützen. Das schien indes den lustbeseelten Ringelshäusern nicht im entferntesten unangenehm zu sein, denn je wichtiger sich die Trompete machte, desto lauter klang ihr Jauchzen und Johlen.

Es war Hochzeit – Grund genug, zehnfach lustig zu sein, da ein solches Freudenfest auf dem Lande für ein oder mehrere Jahre Salz und Würze bei allen übrigen Zusammenkünften geben muß. Es war aber auch ein prächtiger Tag, so golden klar, wie man ihn nur wünschen kann, wenn man im sorgsam geschonten, allerbesten Staate auf grünem Rasen und unter dem luftigen Dach der Lindenbäume den Hochzeitsreigen aufführen will. Eigentlich soll es der Braut in den Kranz regnen – das bedeutet das Wachstum der irdischen Güter; allein, es zeigte sich kein Wölkchen am Himmel, und die Versammelten verziehen es dem Himmel auch gar gern; denn im Grund genommen waren die segnenden Wassertropfen diesmal ziemlich überflüssig, weil ja ohnehin »Geldsack und Ackergrund« Hochzeit machten – des reichen Schulzen Tochter heiratete einen reichen Bauerngutsbesitzer aus der Umgegend.

Eine stattliche Hochzeit war es in der Tat. Gäste und Zuschauer hatten sich so zahlreich eingefunden, daß man meinen konnte, alles, was im Dorfe Leben und Odem habe, sei hier versammelt. Nur in einem Häuschen, das mit seinen hellen Wänden und grünen Läden freundlich von einem sanften Abhang auf den Tanzplatz heruntersah, schien man sich ganz und gar nicht um die vor der Schenke entfaltete Pracht und Herrlichkeit zu kümmern. Ein schöner Mädchenkopf, sicher der schönste im ganzen Dorfe, bückte sich hinter dem blanken Fenster, das Weinranken und Rosenzweige halb bedeckten, so emsig über die Arbeit, daß man wohl hier und da einen Streifen des aschblonden Haares, nie aber auch nur einen Schimmer der Augen gewahren konnte.

Was indes diese Einsame durch ihr beharrliches Wegwenden von dem Schauplatz des Vergnügens entbehrte, das wird sich der Leser ungefähr vorstellen können, wenn er zum Beispiel eine der Hauptpersonen unter den geladenen Gästen mit mir betrachtet. Etwas seitwärts vom Tanzplatz, unter dem prächtigen, breitästigen Lindenbaum sitzt eine – ich komme wahrhaftig in Verlegenheit um eine passende Benennung; denn die Persönlichkeit hat längst die Vierzig hinter sich und heißt »Mamsell Dore«. Sie ist sehr mager; deshalb wird es mir einigermaßen schwer werden, den Leser zu überzeugen, daß sie nichts mehr und nichts weniger vorstellt als des verwitweten Herrn Pfarrers Haushälterin, ein Posten, den die Einbildungskraft der meisten Menschen mit wohlbehäbiger Korpulenz zu besetzen pflegt. Dieser Mangel schadete indes dem Ansehen der Mamsell Dore nicht im geringsten, und wenn die Ringelshäuser in ihr eine Person von Einfluß verehrten, so geschah dies mit vollem Rechte. In der dürren Hand, die soeben den Strickstrumpf mit großer Lebendigkeit handhabte, ruhte des Herrn Pfarrers leibliches Wohl – wie innig aber das geistige Leben des Menschen mit dem körperlichen Wohlbefinden verknüpft ist, braucht hier nicht erst gesagt zu werden, um zu beweisen, daß Mamsell Dores Kochfertigkeit und Umsicht im Hauswesen mit ihres Gebieters Beredsamkeit und seinem Benehmen gegen die Gemeinde Hand in Hand ging. Kein Wunder also, wenn die Ringelshäuser diesem Gestirn hinter den Dampfwolken der Küche mit großem Respekt begegneten.

Nun also, Mamsell Dore saß auf dem Ehrenplatze. Ihr gelbes Antlitz umschloß eine moderne Haube mit fliegenden, weißen Atlasbändern und zwei mächtigen Rosenbuketts an jeder Seite. Ein gestickter Kragen über dem himmelblauen Wolkenkleide und weiße Unterärmel vervollständigten eine Toilette, die wahre Sensation in Ringelshausen machte. Diese Anerkennung, die sich nicht allein in schmeichelhaftem Geflüster, sondern auch, wie es einfachen Naturkindern eigen ist, im naiven Hinzeigen mit dem Finger kundgab, schien die schlanke Gestalt der Bewunderten um einige Zoll zu strecken. Niemals hatte sie ihr hervorstehendes Kinn mit mehr Würde in die Lüfte gehoben, nie holdseliger und herablassender gelächelt wie heute.

Neben ihr saß eine alte Frau in stattlicher Bauerntracht – ein liebes treuherziges Gesicht, das unter der kolossalen, überladenen Bauernmütze hervorsah wie ein milder Stern unter einem dräuenden Wolkengebirge. Vielleicht klingt es seltsam, wenn ich meinen Vergleich für ein Matronengesicht vom Firmament herabhole. Freilich haben die Dichter aller Zeiten und Zonen in nicht mehr zu zählenden Beispielen den schönen Mädchenaugen einzig das Recht eingeräumt, Sterne zu heißen; gleichwohl, sind die Sterne nicht auch alt? Und gibt es nicht auch eine Klarheit der Seele, die gleich den Sternen ewig jung nach außen leuchtet, gleichviel, ob sie alte oder junge, schöne oder häßliche Züge bestrahlt?

Die alte Frau war die Stiefmutter des Bräutigams und wohnte in Wallersdorf, einem großen, drei Stunden von Ringelshausen entfernten Orte. Weit und breit ward die Vortrefflichkeit ihres Charakters anerkannt; aber sosehr auch Frau Sanner diesen Ruhm verdiente, so steht noch sehr zu bezweifeln, ob er wohl so weit und nachhaltig erklungen wäre, wenn nicht Frau Fama zu gleicher Zeit so erstaunlich viel von dem Vermögen der Gerühmten zu erzählen gewußt hätte – nach allgemeinen Begriffen läßt ja der Goldgrund das Charaktergemälde schöner hervortreten.

Wer indes das Gerücht bezüglich des Reichtums der Frau Sanner bezweifelt hätte, den würde das Benehmen des Wirtes zur grünen Tanne unfehlbar überzeugt haben; denn ab- und zugehend, trat er häufig zu ihr und bemühte sich, sie zu unterhalten. Wann hätte der wohl je mit einem an irdischen Gütern nicht Gesegneten so viel Umstände gemacht?

Sein aufgedunsenes, mit Sommersprossen bedecktes Gesicht, der dürre, semmelfarbene Haarwust, der seinen großen, stierartigen Kopf umstarrte, und die Gemeinheit in jeder Bewegung der ungeschlachten Gestalt machten ihn zu einer sehr unvorteilhaften Erscheinung neben der feinen, alten Frau, die sich an seinen Späßen nicht besonders zu ergötzen schien.

Auch er war reich, aber infolgedessen grob und anmaßend. Trotzdem ward sein Gasthaus häufig besucht, sowohl von Landleuten als auch von den Bewohnern der nahen Stadt A. Denn im Hinblick auf die wirklich reizende Umgebung, und besonders in Rücksicht darauf, daß kein zweites Wirtshaus vorhanden war, ignorierte man selbst die allzu begründete Sage, daß der Brunnen vor der grünen Tanne noch einen zweiten Ausfluß habe, und zwar drunten im Keller, allwo dieser unschuldige Quell geradeswegs in die Bier- und Weinfässer münde.

Im Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit dieses Systems ließen sich‘s denn auch die Hochzeitsgäste angelegen sein, ihre Krüge und Gläser fleißig zu leeren. Daß dabei die Köpfe allmählich warm wurden, ist erklärlich. Die Burschen schrien, stampften mit den Füßen und schwenkten ihre Mädchen oft so weit aus dem Tanzkreise, daß die Zuschauer zurückweichen mußten, wenn sie nicht die mit Nägeln gespickten Sohlen der flüchtigen Tänzer kennenlernen wollten.

Um dieser Gefahr zu entgehen, hatten sich zwei kleine Mädchen hinter den bis dahin streng respektierten Stuhl der Mamsell Dore geflüchtet und verfolgten, kaum atmend, damit diese gefürchtete Standesperson ihre Nähe nicht ahne, die Tanzenden mit dem regsten Anteil. Da plötzlich sauste ein Paar vorüber. Die Kleine, welche zunächst stand, erhielt einen Stoß und stürzte vorwärts. In der Angst ihres Herzens erfaßte sie das lange flatternde Band an Mamsell Dores Haube. Da aber dies Wunderwerk von Tüll und Spitzen auf eine solche Attacke nicht berechnet war, so flog es in einem Nu, begleitet von zwei falschen, ihm allzu eng verbundenen Seitenlocken, zur Erde. Mamsell Dore fuhr wie unsinnig mit beiden Händen nach dem beraubten Haupte und stieß ein klägliches Geschrei aus. Augenblicklich waren wenigstens zehn Hände beschäftigt, das aus all seinen Himmeln gerissene Kleinod von der Berührung des gemeinen Staubes zu befreien. Man blies und schüttelte aus Leibeskräften und stellte endlich mit vieler Mühe den künstlichen Bau wieder her. Nun aber wandte sich Mamsell Dore voll Zornes gegen die kleine, zitternde Schuldige.

»Du ungezogener Balg!« schrie sie mit gellender Stimme. »Wie kannst du dich unterstehen, mir so nahe zu kommen?«

»Gebt ihr doch einen Denkzettel, damit ihr das Wiederkommen vergeht!« sagte der Sohn des Wirtes, der seiner ungemein schmächtigen Gestalt wegen allgemein »der dürre Bastel« genannt wurde, im übrigen aber seinem häßlichen Vater glich wie ein Ei dem anderen.

»Was hast du hier zu suchen?« fuhr er das erschrockene Kind an. »Lange Finger brauchen wir hier nicht!… Geh du«, und er hob den Arm, um die Kleine zu schlagen.

In demselben Augenblick aber wurde seine Hand mit einem fast krampfhaften Druck festgehalten. Er wandte sich um. Hinter ihm stand, wie plötzlich aus der Erde gewachsen, eine Frau. Ein dunkler Mantel umhüllte die hochgewachsene, ein wenig nach vorn gebeugte Gestalt; um das totenbleiche, vergrämte Gesicht schloß sich die feine, blendendweiße Krause eines Häubchens, und darüber war ein großes graues Tuch geschlagen, das Kopf und Schultern nonnenhaft bedeckte.

»Tue meinem Kinde nichts zuleide, Bastel!« sagte sie halblaut, als wolle sie ihre Anwesenheit nicht bemerkbar machen. Trotzdem klang es aus ihrem Ton eher wie eine Herausforderung denn als Bitte, und in der hastigen Bewegung, mit der sie das kleine Mädchen unter den Mantel zog, lag jene Entschlossenheit, mit der eine Mutter ihr Junges vor einem Angriff schützt.

Das anfangs verblüffte Gesicht des Burschen verwandelte sich schnell zu einem hämischen Grinsen.

»Ei der Tausend, da ist ja die Frau Schulmeisterin wieder!« rief er spöttisch und zog ironisch-höflich seine Mütze bis zur Erde. »Was, die Strafzeit schon vorüber? Habt Ihr fleißig gesponnen zwischen den vier Wänden? – Zeit genug habt Ihr gehabt – na, seid auch schön willkommen!«

Das feine, verwelkte Gesicht der Angeredeten färbte sich dunkelrot; ihre blassen Lippen schlossen sich einen Augenblick fester zusammen, als wolle sie damit einen tiefen Schmerz bekämpfen; dann aber entgegnete sie ruhig: »Du weißt recht gut, Bastel, so wie alle hier, daß ich nicht für strafbar befunden worden bin.«

»Aber auch nicht für unschuldig, he, Frau Lindner?«

Ohne Zweifel wollte die gequälte Frau dem schonungslosen Frager gebührend antworten; denn sie hob würdevoll den Kopf und trat dem jungen Menschen einen Schritt näher, so daß er scheu zurückwich; allein, durch einen unvermuteten Anwalt wurde sie jeglicher Selbstverteidigung enthoben.

Das junge Mädchen da droben in dem netten Häuschen hatte nur ein einziges Mal von ihrer Näherei hinweg nach dem bunten Treiben auf dem Tanzplatz geblickt; aber sie war auch sofort im jähen Freudenschrecken aufgesprungen, hatte die Tür aufgerissen und war atemlos nach der Stelle geflogen, wo die eben angekommene Frau sich befand. Durch den Menschenschwarm zurückgehalten, wurde sie Zeugin der peinlichen Szene. Nur mit Mühe hatte sie die Tränen unterdrückt, als sie die gebrochene, abgehärmte Gestalt schutzlos inmitten der hämischen Gesichter stehen sah, die sie mit jener scheu gaffenden Neugier umringten, mit der ungebildete Menschen ein fremdes, reißendes Tier, einen verunglückten Menschen oder einen eingefangenen Verbrecher zu betrachten pflegen. Mehrere Male hatte sie versucht, den dichten Haufen zu durchbrechen; allein, den Leuten war der Auftritt viel zu interessant, als daß sie nur einen Zollbreit gewichen wären. Was indes Bitten und Flehen nicht vermocht hatten, das bewirkte endlich ein Schrei der Entrüstung, den das Mädchen infolge der letzten unverschämten Äußerung Bastels ausstieß. Die Menge stob sofort erschrocken auseinander – einen Augenblick später stand das junge Mädchen neben der gekränkten Frau und schloß sie zärtlich in ihre Arme.

»Mutter«, sagte sie, »gib es auf, das Vorurteil dieser hier« – sie deutete mit einer fast stolzen Gebärde auf die Umstehenden – »zu bekämpfen. Eher würde ein Rabe weiß werden, als daß sie sich von deiner Unschuld überzeugen ließen. Sie glauben das Schlimme gern und trennen sich von einer üblen Meinung fast noch schwerer als von ihrem Geld… Du, Bastel«, fuhr sie zu dem jungen Burschen gewendet fort, »hast wieder einmal deinen tückischen Sinn recht gezeigt. Dein ganzes Benehmen gegen uns während einer so schweren Prüfungszeit war ein elendes, ein undankbares. Diese Frau« – sie legte die Arme fester um ihre Mutter – »nahm dich einst als halbverwahrlostes, mit Ausschlag bedecktes Kind in ihr Haus, weil deinem eigenen Vater vor dem Anblick graute. Sie hat dich mütterlich gepflegt, und dein Dank dafür ist, daß du sie in ihren alten Tagen zu beschimpfen suchst. Ebenso hast du wohl vergessen, daß ihre Hände es waren, die deiner braven, sterbenden Mutter die Augen zudrückten, während du beim Kartenspiel diesen letzten Liebesdienst versäumtest?«

Bastel, der sich anfänglich bei dem Erscheinen des Mädchens hinter die Umstehenden zurückgezogen hatte, fuhr bei dieser letzten Anschuldigung wie wütend auf die Sprechende los.

»Ach, du überg‘studierter Schulmeister, du!« schrie er. »Mache dich nicht so mausig!… Wenn deine Mutter uns dienstbar war, so wird sie auch reichlich dafür bezahlt worden sein. Der reiche Tannenwirt nimmt nichts geschenkt; am allerwenigsten aber von solchen Hungerleidern, wie ihr seid… Geh lieber heim«, fuhr er fort, und ein tückischer Blick streifte das Mädchen, »und pfleg das Kind; das kann dein vornehmer Herr für seine fünfzig Taler schon verlangen… Geh heim, da tust du besser, als daß du hier stehst und predigst wie der Herr Pfarrer auf der Kanzel!«

Es mußte eine furchtbare Beleidigung in diesen, von spöttischen Gebärden begleiteten Worten liegen, denn das junge Mädchen zuckte im tödlichen Schrecken zusammen; sie erbleichte bis in die Lippen und richtete einen wehklagenden Blick auf ihre Mutter. Diese jedoch sagte scheinbar gelassen: »Du kannst mein Kind nicht beleidigen, Bastel; denn du selbst bist zu verächtlich… An die Schande, die du Marie aufbürden willst, glaubst du so wenig als das ganze Dorf – denn ihr unbescholtenes Leben liegt ja klar vor aller Augen.«

»Bis auf ein Jahr, das sie in der Stadt zugebracht hat«, unterbrach sie hier eine rauhe Stimme. Der Wirt, welcher gesprochen hatte, ließ seinen Worten ein kurzes, rohes Gelächter folgen.

Hatte die alte Frau bis dahin standhaft ihre Fassung behauptet, so war es jetzt um dieselbe geschehen. Mit funkelnden Augen trat sie vor ihre Tochter, hob die Rechte drohend gegen den Wirt und rief mit unheimlich klingender Stimme: »Tannenwirt, Ihr seid mein Feind seit langen Jahren! Was mir auch Böses von den Menschen widerfahren ist, Ihr hattet stets die Hand dabei im Spiele… Ich habe Euch nicht geflucht um Eurer unglücklichen Frau willen, und weil Ihr mich, mich allein verfolgtet. Aber hütet Euch, mein Muttergefühl zu kränken!… Ich sage Euch nochmals, hütet Euch, auch nur einen Schatten von Verdacht auf mein schuldloses Kind zu werfen, oder Ihr sollt mich kennenlernen!«

Der heroische Ausdruck einer edlen Empfindung hat in gewissen Momenten Gewalt selbst über die rohesten, unzugänglichsten Naturen, und so wurde diese entflammte, in ihrem Kind beleidigte Mutter momentan ein Gegenstand der allgemeinen Teilnahme. Freilich äußerte sich dieselbe nicht sehr tatkräftig, denn das Ansehen und der Reichtum des Wirtes fielen dem menschlichen Mitgefühl gegenüber schwer ins Gewicht; allein, es wurden doch tröstende Stimmen laut, wie: »Beruhigt Euch, Frau Lindner, der Bastel war zu hitzig – Niemand im Dorfe glaubt, was er eben gesagt hat – Wir wissen ja, daß die Marie brav und unbescholten ist« – und der Kreis teilte sich, um die Frau mit ihren Kindern hindurchzulassen. Sie verließ denn auch, gestützt auf ihre ältere Tochter und das kleine Mädchen an der Hand führend, den Schauplatz des kränkenden Vorfalles und schwankte müden Schrittes ihrem Hause zu.

Die Tanzmusik begann von neuem. Die alten Bauern stopften ihre Pfeifen, und die jungen Burschen führten ihre kreischenden Mädchen zum Reigen. In kurzem wirbelte eine mächtige Staubwolke über der Stelle, wo eben noch zwei Herzen in bitterer Pein geschlagen hatten. – Daran schien niemand mehr zu denken; das wäre auch zu viel verlangt gewesen; denn – Hochzeit ist nicht alle Tage.

Nur ein junger Mann, vorher der eifrigste Tänzer, trat aus dem Gedränge zurück und lehnte sich an den Stamm einer Linde. Er war eine schlanke, hochaufgeschossene Gestalt, aber von den kräftigsten Formen. Das volle, schwarze Haar legte sich in glänzenden Wellen nach dem Hinterkopf zurück und ließ ein auffallend hübsches, wenn auch von Luft und Sonne fast asiatisch gebräuntes Gesicht frei. Seine edle, ungezwungene Haltung zeichnete ihn weit aus vor den anderen Burschen; und wenn diese in ihren langen Röcken, kurzen Westen und den fast zum Ersticken fest geschnürten, buntseidenen Halstüchern mitunter höchst drollig aussahen, so mußten der zierliche Anzug und besonders das lose um den weißen Hemdkragen geschlungene schwarzseidene Halstuch an dem jungen Mann vorteilhaft auffallen. Derselbe hieß Joseph, war der Stiefbruder des Bräutigams und der einzige Sohn der Frau Sanner – ihr Abgott und Erbe all ihrer Besitztümer.

Gegen so viele Vollkommenheiten waren natürlich die Herzen der Dorfschönen nicht gestählt. Das sah man hauptsächlich an ihrem Bestreben, den schönen Tänzer, der unbegreiflicherweise für den herrlichen Walzer plötzlich taub geworden zu sein schien, wieder in ihre Reihen zu ziehen – allein vergebens. Er trat endlich zu einer Gruppe alter Frauen, die in seiner Nähe saß; mehrere derselben entwickelten eine staunenswerte Zungenfertigkeit.

»Eine jede von euch weiß, wie es scheint, Hunderte von Fehlern an der Schulmeisterin«, sagte er fast ungeduldig. »Was hat sie denn aber getan, daß sie gefänglich eingezogen worden ist?«

»Das kann Euch Mamsell Dore am allerbesten erzählen«, sagte der Wirt, der eben hinzutrat; über seinen buschigen, strohfarbenen Augenbrauen und auf den Wangen flammten noch blutrote Flecken des Zornes.

Mamsell Dore jedoch sah scheel nach dem Sprechenden auf und entgegnete mürrisch: »Laßt mich zufrieden. Mir steht die Sache bis an den Hals. Ich habe so viel Ärger und widerwärtige Gänge wegen dieser Dieberei gehabt, daß ich froh bin, wenn ich nicht daran denke!«

Damit stand sie auf und rauschte von dannen.

»Wie, gestohlen hätte diese Frau?« fragte ungläubig der junge Mann.

»Na – und ob!« entgegnete der Wirt. »Seht«, fuhr er fort, und ein Blick des Hasses und Ingrimms streifte das Häuschen der Schulmeisterin, »das Weib da oben hatte ihr Lebtag einen Dünkel, daß es kaum zu sagen ist… Glaubt Ihr denn, daß die je in eine Spinnstube gegangen wäre? Ja, da kommt Ihr schön an, die war ihr lange nicht gut genug. Zur Kirmse saß sie an ihrem Fenster und guckte auf die Gäste runter, als sei die Nußschale da droben ein Rittergut und sie die gnädige Frau… Ihr Mann war nicht um ein Haar besser. Er nannte seine Frau – ha, ha, ich muß noch lachen, wenn ich daran denke – seine Rose, seine Krone und Gott weiß was alles. Der ist gestorben, ohne zu wissen, wie die grüne Tanne inwendig aussieht; er hielt sich für viel vornehmer als der Pfarrer, der gar oft auf ein Spielchen bei mir einspricht… In seinem Garten, nicht größer als meine Hand, steckte er den lieben langen Tag und vertat seine paar Groschen in teurem Blumensamen. Wenn nun das nichtsnutzige Zeug wuchs und blühte, hatte Euch der alte Narr eine Freude, als ob er eine unverhoffte Erbschaft getan hätte… Auf einmal starb er und hinterließ seiner Frau nichts als das Häuschen und zwei Kinder. Da hat sie denn bald gemerkt, daß der Hunger vor den grün angestrichenen Fensterläden und den weißen Vorhangslappen so wenig Respekt hat als vor den elenden Baracken draußen am Ende des Dorfes, und so ist es gekommen, daß sie« – er machte eine unzweideutige Gebärde, die das bezeichnet, was man »lange Finger« zu nennen pflegt.

Der junge Mann mußte zu dieser Anschuldigung abermals ein zweifelhaftes Gesicht machen, denn der Wirt fuhr ihn heftig und polternd an: »Na, na, spielt Euch nur nicht gar so auf den ungläubigen Thomas!… Hat Euch die Alte etwa auch behext mit ihrem scheinheiligen Getue?… Na, wartet nur, Ihr werdet schon klein beigeben… Vor ein paar Monaten sitzt Mamsell Dore spätabends allein in der Pfarre. Sie hatte alle Türen fest verschlossen, weil sie sich fürchtete; denn der Herr Pfarrer war verreist, und es lag viel Geld im Hause… Da hört sie auf einmal ein Hin- und Hertappen draußen auf dem Gang. Sie kriegt eine Gänsehaut und traut sich natürlich nicht von der Stelle. Weil aber der Spektakel gar nicht aufhört, so faßt sie sich endlich ein Herz, macht schnell auf und leuchtet hinaus. Da steht denn unten am äußersten Ende des Ganges, vor der weit offenen Stubentür des Herrn Pfarrers, die Schulmeisterin, leichenblaß vor Schrecken. Mamsell Dore fragt ganz erstaunt, wie sie denn durch die fest verschlossene Haustür hereingekommen sei? Darauf sagte die Schulmeisterin, aber stotternd und bebend – Mamsell Dore hat gehört, wie ihr die Zähne klapperten —, sie habe die Haustür offen gefunden. Als sie aber den Gang betreten habe, da sei etwas rasch an ihr vorbeigesprungen – an dem heftigen Stoß, den sie dabei erhalten, und an den starken Schritten habe sie gemerkt, daß es eine Mannsperson gewesen sein müsse. Der Schrecken und die Dunkelheit seien schuld, daß sie an das falsche Ende des Ganges getappt sei; denn sie habe nicht zu dem Herrn Pfarrer, sondern zu Mamsell Dore gewollt, um Brustsirup für ihr krankes Kind von ihr zu holen.«

»Das war alles erlogen«, fiel hier eine Frau dem Erzähler eifrig ins Wort, »denn Ihr müßt wissen«, wandte sie sich an Joseph, »daß der Wirt auch gerade am Pfarrhause vorüberging, als die Schulmeisterin hineinschlich, und da ihm dies auffiel, so blieb er ein Weilchen stehen. Der hat nun ganz gesunde Augen im Kopfe, wie Ihr seht; aber von einem Kerl, der herausgesprungen sein soll, hat er nichts gesehen – das hat er auch vor Gericht ausgesagt – gelt, Tannenwirt?«

»Nu ja«, entgegnete dieser, indem sein Gesicht dunkelrot wurde – ob vor Zorn oder Verlegenheit, wer konnte es wissen? —, »unterbrich mich nicht, du bist und bleibst ein altes Plappermaul. – Am andern Morgen«, fuhr er fort, »gab‘s einen höllischen Lärm im Dorfe. Der Herr Pfarrer war wieder da und hatte eine hübsche Bescherung an seinem Schreibpult gefunden. Die Klappe war zwar ganz manierlich angelehnt, so daß Mamsell Dore am Abend vorher, als sie nach dem Weggang der Schulmeisterin noch einmal so oberflächlich hinsah, nichts merken konnte; aber das Schloß war erbrochen, und 700 Reichstaler, ein Kapital, das dem Herrn Pfarrer vor einigen Tagen heimgezahlt worden war, hatten Reißaus genommen.«

»Und das soll die Frau Lindner getan haben?« fragte Joseph.

»Ei freilich!« schrie der ganze Weiberchor, wie aus einem Munde. »Wer denn sonst?«

»Ihr ganzes Haus«, fuhr eine derselben fort, »wurde durchsucht; das half freilich nichts. Die wird doch nicht so dumm gewesen sein, das Geld im Hause zu behalten – das liegt irgendwo gut aufgehoben, bis die Leute nicht mehr so viel davon sprechen; dann geht die Reise nach Amerika; denn das war immer der Schulmeisterin ihr Plan… Gut also, es fand sich nichts weiter als fünfzig blanke Taler – Pflegegeld für das Kind, sagte sie, das sie ein Jahr vorher mit heimgebracht hatte; woher? – das kann Euch niemand sagen. Ob der Bastel mit seiner Vermutung so gar unrecht hat, weiß ich doch nicht – die Marie war gerade dazumal in der Stadt, um Nähen zu lernen – ich will aber nichts gesagt haben… Die Schulmeisterin wurde nun nach A. zur Untersuchung gebracht. Da hat sie aber einen Advokaten genommen, der hat die Sache so fein gedreht, daß man ihr nicht an den Kragen konnte – du lieber Gott, man weiß ja auch nicht, was der vielleicht dabei gehabt hat? Na, kurz und gut, sie ist heute entlassen worden; aber wenn auch alle Rechtsverdreher der Welt sagen, sie habe das Geld nicht – das ganze Dorf wird doch mit Fingern auf sie zeigen, denn hier glaubt‘s jedes Kind!«

»Ich aber nicht!« rief Joseph. »Die Frau ist keine Diebin, da wollt‘ ich gleich Hab und Gut verwetten!«

Der Wirt kehrte ihm zornig den Rücken; die Zunächstsitzenden konnten hören, wie er etwas von »naseweisen Gelbschnäbeln« und dergleichen in den Bart brummte. Er packte klirrend einige leere Krüge zusammen und trat in die Schenke. Auch in den Augen der Weiber hatte der unbefugte junge Anwalt der Verfemten bedeutend verloren. Er achtete indes ganz und gar nicht auf die giftigen Blicke, die ihm zuteil wurden, und begrüßte mit einer höflichen Verbeugung den Schullehrer des Dorfes, der stillschweigend einen Teil der Anklagen mit angehört hatte und nun, nachdem sich der Kreis der Zuhörer verlief, auf den jungen Mann zuschritt.

»Kommen Sie ein wenig mit mir!« sagte er. »Ich muß Ihnen danken für die gute Meinung, die Sie von der armen Witwe haben.«

Er faßte zutraulich und herzlich Josephs Hand und führte ihn nach einer entfernten Bank.

»Da haben Sie wieder einmal«, begann er, sich niedersetzend, »den starren, unbeugsamen Bauerneigensinn! – Ich weiß, ich kann mit Ihnen frisch von der Leber weg sprechen; denn Sie haben drei Jahre lang eine tüchtige, städtische Schule besucht und stehen so hoch, daß Sie Ihren Stand mit seinen Fehlern und Vorzügen überblicken können… Man mag einen Engel vom Himmel herunterholen, diese Leute eines Besseren zu überzeugen – wenn er nicht den Sack mit dem gestohlenen Geld in der einen und den wirklichen Dieb in der anderen Hand hält, so wird er so wenig ausrichten als alle Vernünftigdenkenden. Denn einmal wird es ihnen vermöge ihrer schwerfälligen Auffassungsweise wirklich schwer, zweierlei Vermutungen aufzunehmen, und dann glauben sie manchmal, wie zum Beispiel in diesem Fall, das Schlimmste am liebsten… Soll man sich nicht ärgern, wenn man sieht, wie es keinem einfällt, die Anklägerin, Mamsell Dore, von der niemand weiß, wo sie eigentlich herstammt – zu beargwöhnen, während alle die Schulmeisterin verdammen, deren ganzer, reiner Lebenswandel vorliegt und keinem ein Geheimnis sein kann… Die unglückliche Frau hat freilich den Fehler begangen, streng zurückgezogen zu leben, was auf dem Dorfe, wo die wenigen Bewohner nur auf sich angewiesen sind, stets unangenehm auffällt und böses Blut macht. Wer indes das stille, sinnige Gemüt des armen Weibes kennt, das im Umgang mit einem vortrefflichen Mann höhere Genüsse kennengelernt hat, als da Spinnstuben- und Kirmsenlustbarkeiten sind, der wird sie entschuldigen… Das können Sie mir glauben, sie würde eher samt ihren Kindern verhungern, als daß ihre Hände fremdes Gut anrührten.«

»Und ihre Tochter?« fragte Joseph hastig, indem er den Schullehrer durchdringend ansah.

»Ihre Tochter?« wiederholte dieser unwillig erstaunt. »Nun, die sieht doch wahrhaftig nicht aus, als ob sie gestohlen…«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Joseph, »das meine ich nicht… Bastel beschuldigte sie« – er brach ab, während ein tiefes Rot in seine gebräunten Wangen stieg.

»Ja, ich weiß, was der nichtswürdige Bube heute von ihr gesagt hat«, erwiderte der Lehrer zornig, »aber auch nur er, der selbst keinen Schuß Pulver wert ist, konnte eine solche niederträchtige Verleumdung aussprechen… Das Mädchen ist rein wie die Sonne am Himmel, und wer‘s nicht glauben will, der mag ihr nur in das Gesicht sehen… ich würde nicht den Mut haben, in ihrer Nähe auch nur ein unlauteres Wort fallenzulassen… Die Schulmeisterin hat allerdings sehr unüberlegt gehandelt, als sie ein Kostkind in ihr Haus nahm, dessen Herkunft sie zu verschweigen gelobt hatte. Sie mußte Rücksicht auf ihre erwachsene Tochter nehmen… Das arme Mädchen! Die Beschuldigung hat sie wie ein Blitz getroffen… Sie ist überhaupt zu beklagen, weil sie viel zu fein erzogen ist für ihre Verhältnisse. Ihr Vater hat sich viel mit ihr beschäftigt, denn sie ist gescheit und gelehrig in allem – er hat sie zart behandelt wie seine Blumen; es war ein Fehler, denn er mußte den Boden berücksichtigen, auf welchen diese Blume angewiesen ist. Sie wird dadurch mehr zu leiden haben als wenn er sie in glücklicher Unwissenheit gelassen hätte.«

»Und meinen Sie, es gäb‘ nicht noch Leute, die ein solches Mädchen zu schätzen wüßten?« rief Joseph erregt. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er empor und ging einigemal hastig auf und ab.

Mittlerweile war es Abend geworden. Das Dorf lag bereits im tiefen Schatten. Desto heller glänzte seine uralte kleine Kirche, die, friedlich umschattet von einem Lindenkreise, den Gipfel der Anhöhe krönte, auf welcher das Haus der Schulmeisterin lag. Ein weiches Abendlüftchen flüsterte in den Gipfeln, und die letzten Strahlen der Sonne stahlen sich golden durch die grüne Dämmerung der Lindenzweige – sie glitzerten in den spitzen Kirchenfenstern, dem unangetasteten Wohnsitz friedlicher Schwalben, und überhauchten die Schar graubemooster Leichensteine auf dem kleinen Friedhof so rosig und lebenswarm, als seien sie Vorboten des gewaltigen Auferstehungsrufes.

Schulmeisters Marie

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