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Montag

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Es begann wie ein ganz normaler vorweihnachtlicher Montag. Als die Belegschaft des Minimarkts an diesem frühen Morgen zur Arbeit kam, warteten vor der Garagentür schon Paletten voller neuer Ware auf sie. Marlies, die schon um zwanzig nach sieben mit dem Bus gekommen war, stand auf der Treppe zum Frühstücksraum und rauchte eine Zigarette, den Mantel noch einmal über die Dienstkleidung gestreift; die anderen zogen sich um, und im letzten Moment erschien auch der Lehrling Mahmut, der, wie üblich an Montagen, übernächtigt und verkatert war. Manuela, die ihre Kolleginnen jeden Tag mit einer anderen Farbe erfreute, war heute an Haar, Ohren und Handgelenken orange geschmückt. Sie war auch schon als Weihnachtsfrau erschienen oder in der Tracht ihres Heimatdorfes und bei wichtigen Fußballländerspielen in den Nationalfarben.

Um halb acht schloss der Chef den Laden auf, und die Belegschaft strömte hinein.

Dann begann eine halbe Stunde fieberhafter Aktivität.

Rolf, der Ladenbesitzer, überprüfte jede einzelne Position der neuen Lieferung und zeichnete die Lieferscheine ab. Anna räumte die Wurst aus der Theke, wusch die Tabletts mit heißem Wasser aus, schnitt jede einzelne Wurst frisch an und legte sie wieder zurück. Manuela schaffte die Körbe mit Backwaren herein, räumte Brote in die Regale und buk frische Brötchen. Marlies legte die aktuellen Zeitungen aus und packte das neue Fleisch in die Fleischtheke. Mahmut und Daniel, der seine Lehre als Verkäufer schon beendet hatte und ein weiteres Jahr lernte, um Einzelhandelskaufmann zu werden, füllten das Obstregal auf, fuhren die Obstwagen nach draußen und spannten die Sonnenschirme darüber auf.

Pünktlich um acht Uhr war alles fertig, jeder streckte sich und atmete noch einmal tief durch, dann wurde die Türe aufgeschlossen und die ersten Kunden kamen herein. Rolf zog sich in sein kleines Büro zurück, um die neuen Lieferungen in den Computer einzugeben, Marlies setzte sich an die Kasse und Mahmut und Daniel zogen sich in die Garage zurück, um die Palette mit frischem Obst abzuräumen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war alles alltägliche Routine gewesen.

Don Luciano regt sich auf

„Nun beruhigen Sie sich doch, Padrone“, sagte der schmächtige kleine Mann. „Denken Sie an Ihren Blutdruck!“

„Mein Blutdruck ist mir scheißegal“, schrie der Padrone. „Keiner klaut Don Luciano zweihundert Kilo Koks und kommt ungestraft davon!“

„Wir wissen ja noch gar nicht, wo der Stoff hingekommen ist. Vielleicht ist es ja auch nur ein Versehen, eine unbedeutende kleine Verspätung …“

„Ja, und vielleicht bin ich der Weihnachtsmann? Für wie blöd halten Sie mich, Silvio? Die Lieferung hätte heute morgen spätestens angekommen sein müssen, und sie ist nicht da! Das ist alles, was für mich zählt. Und ich sage Ihnen das eine: Mit mir macht man so etwas nicht! Mit mir nicht!“

Silvio Francini seufzte. Das war wieder einmal einer jener Tage, an denen er seinen Job hasste. Aber was sollte er machen? Wer einmal Privatsekretär eines Paten geworden war, verließ diesen Job erst als Leiche wieder. Oder zumindest war er kurz danach eine geworden und hatte zudem eine höchst unübliche Begräbnisstätte gefunden. Die Aufstiegschancen hingegen waren minimal.

„Wir sollten erst einmal überprüfen, ob es sich nicht vielleicht doch um ein Versehen handelt. So etwas kommt vor, wissen Sie.“

Der Pate ließ sich krachend in den stabilen Stuhl hinter seinem großen Schreibtisch fallen. Silvio hatte noch nie verstanden, wozu Don Luciano einen so großen Schreibtisch brauchte. Es war ja schließlich nicht so, als ob er darauf irgend etwas geschrieben hätte. Silvio war es, der seiner eigenen Ansicht nach die ganze Arbeit machte; und er fand, er sei völlig unterschätzt und vor allem unterbezahlt. Der Padrone selbst wäre allein mit seinen Telefonen zurechtgekommen, und für die hätte er keinen Schreibtisch gebraucht.

Silvio hielt seinen Chef nicht für besonders intelligent. Es war schon ein Wunder, dass er seine Telefone nicht durcheinanderbrachte: den Festnetzanschluss für die offiziellen Geschäfte und den für Privates sowie das knappe Dutzend nicht ortbarer Handys für alles andere, einschließlich des roten Handys für Notfälle, dessen Nummer alle seine Abteilungsleiter und deren Stellvertreter im Kopf – und nur im Kopf – haben mussten.

„Wissen Sie, Silvio, es geht mir ja nicht um die paar Kilo Koks. Oder um das Geld, das uns da durch die Lappen geht. Die sind mir scheißegal. Aber ich kann auf keinen Fall zulassen, dass irgend ein dahergelaufener Penner einen Don Luciano reinlegt!“

Silvio nickte vorsichtig.

„Und sollte irgend etwas von dieser ganzen üblen Geschichte nach draußen durchsickern, dann möchte ich verdammt nochmal, dass dieser Satz dabei ist. Don Luciano scheißt auf die paar Kröten. Die Sache ist ernst: Hier geht es um die Ehre!“

Silvio nickte noch etwas vorsichtiger. Gelegentlich besserte er sein mickriges Gehalt dadurch ein wenig auf, dass er Informationen aus der Organisation weitergab. Nichts Weltbewegendes, Gott bewahre, auch nichts wirklich Wichtiges; eher so kleine, harmlose Anekdoten, die keinem wehtaten. Diese Geschichte wäre so eine davon.

Don Luciano wusste das und nutzte es von Zeit zu Zeit zur gezielten Desinformation. Seine Konkurrenten lasen diesem nichtsnutzigen Sekretär jedes Wort von den Lippen ab, als hätte es der Papst geäußert, und begriffen nie, warum er manchmal völligen Blödsinn von sich gab.

Das mit der Ehre und der Reputation war ja schön und gut, aber fürs Geschäft war es allemal besser, man wurde ein wenig unterschätzt, fand der Don. So hatte es ihm sein Vater beigebracht, und der hatte Recht gehabt.

Aber dass sie ihn offen vor seinen eigenen Augen bestahlen, das ging denn doch zu weit. Das konnte er sich nicht bieten lassen. Das würde einen Schatten auf seinen guten Namen werfen, den er sich so sorgfältig ausgesucht hatte. Denn natürlich hieß er nicht wirklich Don Luciano. Aber sein wahrer Name lag so weit zurück in der Vergangenheit, dass kaum noch jemand sich daran erinnerte.

Seufzend lehnte er den massigen Körper in seinem Schreibtischstuhl zurück und sah widerwillig auf seinen Sekretär, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und auch seine Hände nicht stillhalten konnte. Gut so. Manchmal musste man die Kerle ein bisschen beunruhigen, sonst fühlten sie sich zu sicher.

„Also, was tun wir jetzt?“, fragte er schließlich.

Silvio atmete auf. Der Kelch des Patenzorns war einmal mehr an ihm vorübergezogen.

„Vor allem müssen wir herausfinden, wo der richtige Container hingekommen ist“, sagte er.

„Tun Sie das“, sagte der Padrone. „Und anschließend finden Sie diesen Schweinehund, der es gewagt hat, Don Luciano zu beklauen. Schneiden Sie ihm die Eier ab und stopfen sie ihm in sein gieriges Maul.“

Silvio zuckte ein wenig zusammen. Die Ausdrucksweise seines Chefs war manchmal wirklich nicht mehr zeitgemäß.

„Aber unauffällig, Silvio! Wir wollen doch nicht, dass unsere Transportwege auffliegen oder unsere Connections.“

Und mit einem Handwinken war Silvio entlassen.

Zwei Lehrlinge machen eine Entdeckung

„Also, was haben wir da“, murmelte Daniel halblaut. Mit einem Klemmbrett in der Hand stand er in der Garage, in die sie eben das Obst geschafft hatten.

„Kolumbianisches Gold“, erwiderte Mahmut trocken, und verwundert sah Daniel auf. Tatsächlich stand Columbian Gold auf die Pappkartons mit den Orangen gedruckt.

„Neue Sorte?“, fragte er, und Mahmut erwiderte: „Scheint so.“

„Na, dann reich mal rüber“, sagte Daniel. Mahmut reichte ihm den ersten Karton, und Daniel eröffnete damit einen säuberlichen Stapel in der Ecke neben dem Kühlraum.

„Du, das ist aber seltsam“, meinte Mahmut plötzlich. „Kolumbianisches Gold in Tüten?“

„Was in Tüten?“

„Weißes Pulver.“

„Vielleicht eine Chemikalie zum Frischhalten?“

„Eingeschweißt. Luftdicht verpackt.“

„Na, dann wohl nicht. Zeig mal her.“

Beide betrachteten schweigend die durchsichtige, prall gefüllte Plastiktüte.

„Also eins ist mal sicher“, meinte Daniel schließlich, „Puderzucker ist das nicht.“ Und nach einem weiteren Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: „Wir müssen die Polizei anrufen.“

„Bist du wahnsinnig? Dann sind wir tot!“ Zweifelnd schaute Daniel von der Tüte in seiner Hand auf. „Natürlich sind wir dann tot! Meinst du vielleicht, das Zeug stammt von der Heilsarmee?!“

„Wie viel ist es überhaupt?“

Die beiden begannen alle Kartons mit kolumbianischen Apfelsinen zu durchsuchen. Es waren zwanzig Kartons, und in jedem von ihnen fanden sie fünf Tüten. Ein Vergleich mit den Orangennetzen ergab, dass jede Tüte etwa ein halbes Kilogramm wiegen mochte.

„Wir müssen dem Chef Bescheid sagen“, sagte Daniel.

„Spinn doch nicht! Willst du den auch noch da mit reinziehen? Wir müssen das Zeug verschwinden lassen, und zwar schleunigst!“

„Meinst du, das ist Koks?“

„Was soll es denn sonst sein? Kolumbien, weißes Pulver – hallo?“

Daniel war ein ruhiger, zielstrebiger Mensch. Unter normalen Umständen hätte er sich gemächlich die Karriereleiter emporgearbeitet, mit dem Rentenalter hätte er ein ausreichendes finanzielles Polster und eine abbezahlte kleine Villa besessen, und dann wäre er ebenso ruhig und zielstrebig darangegangen, die Welt zu entdecken oder sich ein paar andere abendfüllende Hobbys zuzulegen. Die Unterschlagung von fünfzig Kilo Kokain jedenfalls war in seinem Lebensplan nicht vorgesehen.

Mahmut war da schon deutlich impulsiver. Seine Gemächlichkeit bei der Arbeit stellte die von Daniel so sehr in den Schatten, dass die Kolleginnen ihre Frotzleien ganz auf ihn konzentrierten und Daniels Arbeitstempo völlig übersahen. Aber manchmal – wenn auch selten – bekam Mahmut regelrechte Anfälle von Hektik und Arbeitswut. In einem solchen Anfall begann er jetzt Orangen und Pulvertüten in unterschiedliche Kartons zu sortieren.

„Der Chef wird das merken“, meinte Daniel. „Schließlich werden die Apfelsinen nachher in der Kasse fehlen. Kein Mensch klaut fünfzig Kilo Apfelsinen.“

Mahmut drückte ihm einen Karton voller Orangen in die Hand. „Geh zur Kasse und kauf die. Anschließend stellst du sie wieder auf den Stapel.“

„Was, von meinem Geld?“

„Mann, bist du bescheuert oder was? Wir sitzen hier auf einem Vermögen, begreifst du das nicht? Das hier ist das pure Gold in Tüten!“

Auf der Suche nach der Lieferung

Don Luciano hielt viel vom Delegieren. Was man delegierte, das musste man nicht selbst tun. Wovon er nichts hielt, das war Vertrauen. In einer Organisation wie der seinen, fand er, war äußerstes Misstrauen angebracht. Und überall anders übrigens auch.

Deshalb verwendete er ein System, das seines Wissens der KGB einst erfunden hatte und das sich wunderbar bewährte: Jede Aktion musste von drei Leuten ausgeführt werden. Beauftrage man einen oder zwei, dann war die Gefahr groß, dass sie einen hintergingen. Waren es aber drei, dann wusste jeder, dass einer von ihnen ein Spitzel war, und es war so gut wie ausgeschlossen, dass sie sich zu irgendwelchen Eigenmächtigkeiten verabredeten. Einer von ihnen würde reden, das wusste jeder, und deshalb versuchte jeder, dem zuvorzukommen und der erste zu sein, der jede kleine Unregelmäßigkeit sofort meldete.

Ja, fand Don Luciano, das hatte der KGB sich sehr gut ausgedacht.

Und deshalb saß Silvio Francini jetzt mit zwei Männern zusammen, um die Suche nach dem verschwundenen Koks mit ihnen zu besprechen.

Umberto war ein aufstrebender junger Mann, studierter Betriebswirt und mit einer Tochter des Padrone verheiratet. Er ereiferte sich.

„Aber wie können wir diesen Container suchen, ohne alle Welt auf ihn aufmerksam zu machen? Wenn es heißt, Don Luciano sucht einen verlorengegangenen Container mit kolumianischen Orangen, dann weiß doch sofort jeder, was los ist. Nein, das ist völlig unmöglich. Wir sollten ihn abschreiben. Ich habe mir das durchgerechnet. Es ist zwar ein ordentlicher Verlust, aber es bringt uns nicht um. Viel schlimmer wäre es, wenn man uns auf unsere Transportwege käme und sie dicht machte. Das wäre dann wirklich ein Verlust, den wir so schnell nicht verkraften könnten.“

Der dritte Mann in Silvios Büro hieß Rudolfo. Er war schon älter und seine vielen Narben bewiesen, dass er das Geschäft von der Pike auf gelernt hatte. Gerüchte besagten sogar, dass er dem Padrone mehr als einmal das Leben gerettet habe; das war aber auch der einzige Grund, fand Silvio, ihm eine so verantwortungsvolle Position anzuvertrauen.

„Das können wir unmöglich tun“, sagte Rudolfo. „Die anderen Familien würden sich scheckig lachen. Der Verlust an Ansehen wäre wirklich schwerwiegend. Wir müssen diesen Container suchen, finden und hierherschaffen.“

„Aber wenn wir erst gar nicht suchen, dann müssen die anderen doch gar nichts davon erfahren! Sobald wir suchen, wissen es alle.“

Die Diskussion hatte sich schon drei Mal im Kreis gedreht, und jetzt wurde es Silvio zu bunt. Warum nur hatte der Padrone ihn mit diesen Eseln gestraft? Er griff zum Telefon und rief seinen Kontakt bei der Hafenbehörde an.

„Hallo? Hier ist Silvio Francini vom Büro Don Lucianos. Ich hätte da mal ein kleines Anliegen.“

Rudolfo und Umberto starrten ihn sprachlos an, und der Mann bei der Hafenbehörde musste erst einmal beruhigt werden.

„Aber nein, mein Lieber, nein! Alles in bester Ordnung. Nein, es fehlt nichts, alles da. Doch, der Padrone ist sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Aber was ich sagen wollte: Wir haben hier einen Container zu viel bekommen. Der Padrone würde ihn gern an seinen ursprünglichen Adressaten weiterleiten. Könnten Sie mir den bitte raussuchen? Ich gebe Ihnen die Daten. Meinen Sie, Sie könnten das vor Mittag noch rausfinden? Wir wären Ihnen sehr verbunden. Der Padrone möchte gerne, dass alles seine Ordnung hat. Ja, ist klar. Wir erwarten dann Ihr Fax. Meinen ganz herzlichen Dank. Und schöne Grüße an Ihre liebe Frau!“

So. Am liebsten hätte er gesagt: Da könnt ihr mal sehen, wie man sowas macht, ihr Pfeifen. Aber so etwas sagte man natürlich nicht zum Schwiegersohn des Chefs.

Die Tüten verschwinden

Wenn die Kolleginnen Mahmut an diesem Vormittag hätten sehen können, sie hätten sich sehr über ihn gewundert. Er legte einen Eifer an den Tag, ein Tempo, wie sie es nie von ihm erwartet hätten. Wenn der ganze Minimarkt in hellen Flammen gestanden hätte, er hätte nicht schneller arbeiten können.

Der Chef des Minimarkts hielt ebenso wie Don Luciano viel davon, Arbeit zu delegieren. Im Gegensatz zu diesem hielt er auch viel davon, Verantwortung abzugeben. Seiner Ansicht nach bereitete es so viel Mühe, die Angestellten ständig zu überwachen, dass man die Arbeit dann ebenso gut auch gleich selbst erledigen konnte. Also ließ er es bleiben. Natürlich behielt er Neueinstellungen eine Zeitlang unauffällig im Auge; aber sobald er sich von ihrer Zuverlässigkeit, ihrer Ehrlichkeit und ihrer Kompetenz überzeugt hatte, konnten seine Angestellten mehr oder weniger tun und lassen, was sie wollten. Auf diese Weise hatte er im Lauf der Jahre ein Team zusammenbekommen, das sehr selbstständig und mit Freude arbeitete.

Zur Zeit saß er in seinem Büro am Computer und überließ den Laden sich selbst, überzeugt davon, dass alles seine gewohnten, ruhigen Gänge ging.

Diese Einstellung ihres Chefs kam Daniel und Mahmut jetzt zugute. Niemand hielt sie auf, als sie einzeln und so unauffällig wie möglich volle Kartons zu Daniels Auto schafften und dort im Kofferraum verschwinden ließen. Zudem wurden die kolumbianischen Orangen auf die Obstwagen vor der Ladentür gebracht und dort so platziert, dass sie sich so schnell wie möglich verkauften.

Gegen halb elf ließ der vormittägliche Kundenansturm im Minimarkt etwas nach und Marlies nutzte die Zeit für eine Zigarettenpause. Kaum war sie um die Ecke verschwunden, da schleppte Mahmut zwei Kisten voller kolumbianischer Orangen zur Kasse, um sie zu kaufen und anschließend wieder im Lager verschwinden zu lassen. „Wir kriegen nämlich Besuch“, erklärte er, und Anna, Marlies’ Kassenvertretung, nickte verständnisvoll. Sie ging wie selbstverständlich davon aus, dass Familien, die aus dem Nahen Osten stammten, viele Mitglieder hatten und kiloweise Orangen verzehrten.

Wenn die Morgenschicht zu Ende war und die Nachmittagsbesetzung Dienst hatte, wollten Daniel und Mahmut ihre fingierten Einkäufe wiederholen und weitere zwanzig Kilo kaufen, und damit würde dann das Verschwinden von fünfzig Kilo Orangen hinreichend erklärt sein. Und das Kassensystem eines deutschen Einzelhändlers kann sich nicht irren – das sei das Finanzamt vor!

Die Spur führt nach Deutschland

Zur gleichen Zeit erhielt Silvio Francini in Neapel ein Fax, aus dem hervorging, dass die Orangen Don Lucianos eigentlich für die Filiale einer deutschen Einkaufsgemeinschaft in der Nähe von Frankfurt bestimmt waren.

Versonnen blickte Silvio auf das Papier in seinen Händen. Die Hafenbehörde hatte zügig reagiert. Eine deutsche Einkaufsgesellschaft also, die wiederum viele kleine Einzelhändler belieferte. Deren Orangen waren bei Don Luciano gelandet, und es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn die nicht im Austausch den Container bekommen hatten, der für Italien bestimmt gewesen war.

Den Ort, an dem die Filiale sich befand, hatte er erst googeln müssen. Aber auch das hatte ihm nicht viel weitergeholfen.

Sie mussten jetzt handeln, und zwar so schnell wie möglich. Jede Sekunde zählte. Noch mochte es nicht zu spät sein, die Ware wiederzubekommen. Aber wenn sie erst einmal entdeckt wäre – es wäre nicht abzusehen, was dann geschehen konnte. Schlimmstenfalls hatten sie die deutsche Polizei auf dem Hals. Silvio hatte gehört – wenn er es auch nicht so recht glauben konnte –, die könne man nicht bestechen.

„Das ist also die Lage“, sagte er. „Wir haben in Deutschland keine Interessen und folglich auch keine Vertreter. Das sind die Geschäfte in anderen Händen. Vielleicht könnten wir bei den anderen Familien nachfragen, ob die nützliche Verbindungen haben. Aber das kann natürlich nur die allerletzte Lösung sein. Hat jemand eine bessere Idee?“

Zu Silvios Überraschung hatte Umberto, der Schwiegersohn, einen Vorschlag, der sich außerdem auch noch gut anhörte.

„Ein Kommilitone von mir hat sich in Frankfurt selbstständig gemacht“, erzählte er. „Betreibt eine Beraterfirma für genau diese Art von schwierigen Fällen. Wir könnten ihn anrufen. Er ist sehr einfallsreich und kennt viele wichtige Leute.“

Natürlich wollte der Schwiegersohn Pluspunkte sammeln beim Chef, das war Silvio klar. Schließlich hatte der Padrone noch keinen Nachfolger benannt. Allerdings vergab der Don keine Pluspunkte. Es war ein weit verbreitetes Missverständnis, das nie aufgeklärt wurde; denn bisher profitierte die Familie davon, dass jeder versuchte, beim Don zu punkten. Altmodisch, wie er war, würde der Padrone eines Tages seinen Nachfolger nach der Persönlichkeit auswählen, nicht nach irgendwelchen Verdiensten, dachte Silvio.

Aber sei’s drum; ein guter Vorschlag war ein guter Vorschlag, egal von wem und warum er kam. Silvio ließ sich die Karte der Beratungsfirma geben und ging damit hinein zu Don Luciano.

„Was soll das heißen?“, rief der Don. „Irgendwelche stinknormalen Obstverkäufer haben meinen Koks?“

„So sieht es fast aus, Padrone.“

„Was für eine verdammte Schweinerei! Wir haben hart dafür gearbeitet! Nehmt ihnen das Zeug wieder ab, aber pronto.“

„Wir arbeiten daran. Umberto hat vorgeschlagen, diese Agentur hier einzuschalten. Er kennt den Inhaber persönlich. Wenn Sie mal einen Blick darauf werfen wollen?“ Und Silvio überreichte die Visitenkarte von Umbertos Studienkollegen.

„Wenn der Typ unzuverlässig ist, dann drehe ich Umberto seinen verfluchten Hühnerhals um, egal, was seine Frau dazu sagt.“

„Ja, Padrone.“

„Der Kerl ist ein Schleimscheißer und geht mir ganz fürchterlich auf die Nerven. Meine Tochter muss den Verstand verloren haben.“

„Ja, Padrone.“

„Ach, wissen Sie was, Silvio, ich rufe da selbst an. Will doch mal sehen, was das für ein Mensch ist, den Umberto uns empfiehlt.“

Und Don Luciano griff zum Hörer, um mit Frankfurt zu telefonieren.

Luisa übernimmt den Auftrag

Umbertos Freund Friedhelm nannte sich zwar Berater, aber er betrieb eine sehr eigenwillige Agentur. Er war spezialisiert auf Fälle, die Tatkraft, Einfallsreichtum und gute Verbindungen zu allen möglichen Kreisen erforderten und die einen ansehnlichen Profit abwarfen.

Als Don Luciano in Frankfurt anrief, saß Agenturchef Friedhelm gerade mit seiner Assistentin Luisa bei einem späten Vormittagskaffee. Der Anruf aus Neapel kam ihm gerade recht; sie hatten in den letzten Wochen einige gute Aufträge abgeschlossen, bis auf einen alle erfolgreich, und hatten zur Zeit wenig mehr zu tun als auf die Bezahlung ihrer Rechnungen zu warten.

„Das ist was für dich, Luisa“, sagte Friedhelm, als er das Telefonat beendet hatte. „Ein Herr aus Neapel, der sich selbst Don Luciano nennt – mit einer Selbstverständlichkeit, als gäbe es keine Nachnamen auf der Welt. Er vermisst einen Container voller Orangen aus Kolumbien, die versehentlich nach Deutschland geliefert worden sind. Drei Mal darfst du raten. Jedenfalls sollen wir ihm das Zeug unauffällig wieder herbeischaffen.“

„Könnte eine Falle sein“, meinte Luisa und ließ gelangweilt ihren Kaffee in der Tasse kreisen.

„Könnte. Muss aber nicht. Jedenfalls hab ich den Auftrag angenommen. Sie haben einen Container nach Neapel geliefert bekommen, der eigentlich für ein deutsches Verteilzentrum bestimmt war. Und jetzt glauben sie, dass die hier ihre Ware haben. Die genauen Daten krieg ich noch per Fax.“

„Wenn wir Glück haben, wissen die Deutschen von nichts“, meinte Luisa. „Es könnte aber auch eine absichtliche Verwechslung gewesen sein, und in dem Fall müssen wir uns auf Widerstand gefasst machen. Dann kriegen wir Ärger mit dem, der die Container umgeleitet hat.“

„Du übernimmst den Auftrag also?“

„Ja klar.“

Luisa mochte Aufträge mit vielen Unwägbarkeiten, bei denen sie improvisieren musste. Sie gaben ihr das Gefühl, besonders wach und klar zu sein, konzentriert bis in die Fingerspitzen. Ein Artist auf dem Hochseil mochte sich ähnlich lebendig fühlen.

Bei diesem Auftrag durfte sie der Polizei keine Anhaltspunkte liefern, für den Fall, dass die ganze Geschichte eine Falle war. Sie durfte der Einkaufsgesellschaft keinen Anlass geben, sich Gedanken zu machen, sonst würde sie womöglich schlafende Hunde wecken. Und falls ein Dritter hinter Don Lucianos Ware her war, musste sie jede direkte Konfrontation vermeiden und einen unverfänglichen, am besten einen halb offiziellen Eindruck hinterlassen.

Sie mietete eine Garage bei einer kleinen Spedition, die ihres Wissens völlig unbelastet war und so sauber arbeitete, wie eine Spedition heutzutage arbeiten kann; das heißt, lediglich ihren Fahrern Hungerlöhne zahlte und mit den Fahrtenschreibern trickste.

Dann rief sie den Filialleiter der Einkaufsgesellschaft an. Sie entschied sich dafür, die Geschichte von der Spinne in der Yuccapalme zu benutzen, und machte es dringend. So weit sie es absehen konnte, waren damit alle Eventualitäten abgedeckt. Und wenn sich noch etwas Unvorhersehbares ergeben sollte, dann bot ihr diese Geschichte immer noch genügend Spielraum für Reaktionen in alle möglichen Richtungen. Doch, der Auftrag gefiel ihr.

Wenn alles glatt lief, würde die Filiale jetzt die Orangen wieder für sie einsammeln, und dann brauchten sie nur noch eine Rechnung dranzukleben und sie nach Neapel weiterzuschicken. Aber Luisas Erfahrung nach lief sehr selten alles glatt. In diesem Fall würde es noch Probleme geben, das spürte sie genau, und sie freute sich darauf.

Wohin mit dem Koks?

Die Vormittagsschicht im Minimarkt endete zwischen ein und zwei Uhr, zwischen zwölf und eins trat die Nachmittagsbesetzung ihren Dienst an. Das gab den wenigen Vollzeitkräften die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Mittagspause. An diesem Montag hatten sich Daniel und Mahmut verabredet, gemeinsam Burger essen zu gehen. Schließlich hatten sie ja etwas miteinander zu besprechen. Vorsichtig wie selten fuhren sie mit ihrem Koks im Kofferraum und hielten sich an jede einzelne Geschwindigkeitsbeschränkung.

Sie fanden einen freien Tisch in der Ecke, und eine Gruppe lärmender Schüler am Nebentisch sorgte mit ihrer Geräuschkulisse dafür, dass sie sich ungehört unterhalten konnten.

„Und was nun, du Held?“, fragte Daniel, kaum dass sie mit ihren Burgern am Tisch saßen. „Jetzt stehen wir ganz schön dumm da!“

„Also erstmal hab ich uns das Leben gerettet. Das wollen wir doch mal festhalten.“

„Ja vielleicht, mag sein – aber wie geht’s jetzt weiter?“

„Jetzt müssen wir das Zeug nur noch verkaufen, und dann schwimmen wir in Geld und müssen nie wieder arbeiten.“

„Und als nächstes wirst du mir jetzt wahrscheinlich erzählen, dass du zufällig einen Großabnehmer für fünfzig Kilo unverschnittenes Kokain kennst, den wir dann nur noch besuchen müssen.“

„Naja, eigentlich nicht. Den müssen wir natürlich erst noch finden.“

„Na prima. Und wie hast du dir das vorgestellt? Wir können ja schlecht eine Anzeige aufgeben.“

„Darüber habe ich natürlich den ganzen Vormittag nachgedacht. Und du brauchst gar nicht so skeptisch zu gucken. Wie ich die Sache sehe, haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir versuchen es bei einer Rockerbande oder im Rotlichtmilieu. Also Rockbar oder Paradise.“

Daniel lehnte sich über den Tisch und sah seinen Kollegen eindringlich an. „Mahmut, du kannst nicht einfach da reinschneien und fragen, ob jemand vielleicht kiloweise Koks kaufen will. Die hauen dir eine Keule übern Schädel und verduften mit dem Zeug. Und außerdem gibt es ja auch noch die rechtmäßigen Besitzer, die vielleicht schon nach ihrer Ware suchen. Die zählen doch zwei und zwei zusammen, wenn du überall rumrennst und verkündest, dass du was zu verkaufen hast.“

Er lehnte sich wieder zurück und schloss seufzend: „Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich mich auf sowas eingelassen habe.“

„Naja, natürlich müssen wir das ein bisschen diskret machen. Dürfen nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und so. Aber da draußen laufen so viele Typen rum, die verzweifelt nach Koks suchen. Da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht einen davon finden würden.“

„Mahmut, ich glaube, du nimmst die Sache nicht ernst.“

„Nun sei doch nicht so pessimistisch! Lass uns heute abend mal in die Rockbar gehen, nur so ein bisschen rumhorchen. Und morgen gehen wir dann ins Paradise.“

Daniel dachte noch einmal, er müsse verrückt gewesen sein. Aber er würde mitgehen. Natürlich würde er mitgehen. Der Himmel allein mochte wissen, was Mahmut anstellen würde, wenn man ihn allein gehen ließe.

Als die beiden nach ihrer Pause wieder zurück in den Laden kamen, wartete der Chef schon auf sie. Es war ein Fax gekommen, das die kolumbianischen Orangen wegen möglicher Qualitätsmängel zurückrief, und fast die Hälfte davon war schon verkauft gewesen. Über die beiden ging Das Große Donnerwetter nieder, das jeden Verkäuferlehrling erwartet, der frische Ware ins Regal räumt, bevor die ältere verkauft ist. Sie ließen es mit gesenkten Köpfen über sich ergehen und trugen es mit Fassung.

Unter Rockern

Die Rockbar war eine Institution. An Wochenenden waren Daniel und Mahmut schon darin gewesen. Die Rocker hatten keine Berührungsängste zu Normalbürgern und ihre Öffnungszeiten richteten sich nach dem Bockprinzip; so war ihre Kneipe zu einer beliebten Anlaufstelle für späte Nachtschwärmer geworden.

„Wenn wir jetzt zufällig die Leute fragen, denen das Zeug eigentlich gehört, dann sind wir toter als tot“, knurrte Daniel noch vor der Eingangstür, und Mahmut meinte: „Vertrau mir doch einfach.“

„Lieber nicht“, murmelte Daniel noch halblaut vor sich hin. Dann setzten sie sich an die Bar.

Getreu der alten Regel, dass der Barmann im Zweifel am besten Bescheid weiß und die besten Tipps für alle Lebenslagen parat hat, versuchten sie ein Gespräch mit dem Rocker hinterm Tresen anzuknüpfen. Der erwies sich aber als ziemlich wortkarg und wollte nicht so recht auf die beiden eingehen.

Schließlich fragte ihn Mahmut ganz direkt: „Sag mal, was würdest du eigentlich machen, wenn du zufällig fünfzig Kilo Koks finden würdest?“

„Einen großen Bogen drum herum“, erwiderte der Rocker trocken; und einen großen Bogen machte er fortan auch um Daniel und Mahmut und sprach mit ihnen nur noch das Nötigste.

„So geht das nicht“, sagte Mahmut. „Wir müssen mit den Leuten ins Gespräch kommen.“

Er ging zu drei Männern hinüber, die sich am anderen Ende des Tresens miteinander unterhielten, und fragte: „Kann ich diesen Barhocker hier haben?“

Der breiteste von den dreien blickte auf und antwortete: „Nimm ihn. Und wenn du mich noch einmal im Gespräch störst, schlag ich dir die Nase platt.“

Mit einem Barhocker in den zitternden Händen kam Mahmut zurück und sagte zu Daniel: „Weißt du, was der zu mir gesagt hat? Weißt du, was der gesagt hat? Er schlägt mir die Nase platt, hat er gesagt!“

Daniel fand, mit so etwas habe man rechnen müssen. Aber Mahmut war nachhaltig verstört. Er trank sein Bier aus, bestellte entgegen seiner Gewohnheit kein neues und ging früh nach Hause.

Daniel hatte es weniger eilig. Er saß nicht lange allein an der Bar, ein anderer einzelner Gast gesellte sich zu ihm. Daniel erinnerte sich an Mahmuts Frage von vorhin, die er gar nicht mal so ungeschickt gefunden hatte, und fragte in unverbindlichem Plauderton: „Sag mal, was würdest du eigentlich machen, wenn du zufällig fünfzig Kilo Koks finden würdest?“ Und als der Mann ihn verwundert ansah, fügte er hinzu: „Ich meine, andere überlegen sich schon mal, was sie mit einer Million im Lotto machen würden, das ist doch auch so eine Frage, oder?“

„Wie sollte man denn fünfzig Kilo Koks finden?“

„Angenommen, jemand hat es im Wald vergraben und dein Hund buddelt es aus?“

„Hast du denn einen Hund?“

„Nein.“

„Hätte aber gut zu dir gepasst. Du siehst so aus, als könntest du einen haben“, meinte der Mann. Dann begann er begeistert zu erzählen, wie toll er Rocker finde, dass aber Daniel auch eine echt tolle Figur habe.

Da trank auch Daniel sein Bier aus und ging ebenfalls nach Hause.

Gold in Tüten

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