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Kapitel 5
ОглавлениеRosa-Li hat Roberto nicht davon abbringen können, für die Tour nach Satipo den alten Jeep gegen ein neues Modell zu tauschen. Sie zöge es vor, nicht aufzufallen, erklärte sie ihm, doch sie erntete damit nur einen Lacherfolg. Groß und für peruanische Verhältnisse blond, sei sie doch ohnehin bereits von weitem als Europäerin oder Nordamerikanerin zu erkennen, da käme es auf das Auto auch nicht mehr an. Er sei aus dem Alter heraus, stundenlang am Straßenrand zu stehen, um den Wagen zu reparieren, war sein Argument, dem sie nicht viel entgegenzusetzen hatte. In den Kordilleren mit der dünnen Luft brauche man außerdem einen guten Motor, und mit schlechten Bremsen in die Berge zu fahren, sei ihm zu gefährlich. Auch wieder wahr. Sie konnte ihn lediglich überreden, eine Diebstahlversicherung für den Leihwagen abzuschließen. Als sie die Rechnung für den eleganten, weißen Off-Roader sah, musste sie schlucken. Roberto beglich sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ihr Schädel brummt, sie hat gestern eindeutig zu viel getrunken. Sie leidet still vor sich hin, denn Robertos Spott wäre ihr sicher, wenn sie sich jetzt beklagte. Er hat ihr mehrfach eindeutige Blicke zugeworfen, als sie sich am Abend von Jorge immer wieder Rotwein nachschenken ließ. Schließlich hatte sie mittags bereits mit Pisco Sour angefangen, das hält der beste Kopf nicht aus, jedenfalls nicht, wenn man um fünf Uhr aufstehen muss. Doch auch darauf hat Roberto bestanden, weil er vor Einbruch der Dunkelheit in Satipo sein will.
Die Bahnstrecke zum Gipfel des Ticlio verläuft neben der Straße, und Rosa-Li ist froh, dass sie die Tour nicht mit dem Zug machen muss. Allein bei dem Gedanken, über die vielen schmalen Eisenbahnbrücken fahren zu müssen, die über die tiefen Schluchten und Täler führen, werden ihr die Knie weich.
Roberto macht an einer Raststätte Halt. Sie sind auf dreitausendfünfhundert Meter Höhe angelangt, das besagt zumindest ein Schild. Als Rosa-Li die Autotür öffnet, reißt der Wind sie ihr fast aus der Hand. Eisige Kälte schlägt ihr entgegen. In der Gaststätte ist es auch nicht viel wärmer. Sie bestellen Coca-Tee, der angeblich die dünne Luft besser ertragen lässt, doch sie selbst hat davon nie etwas gespürt. Ihr Kreislauf sackt trotzdem ab. Aber der Tee wärmt wenigstens durch.
Einige Männer am Nebentisch sitzen vor riesigen Tellern mit dampfender Suppe aus Mais, Kartoffeln und fettem Schweinefleisch. Ihr würde schlecht, wenn sie die in dieser Höhe essen müsste. Doch der Mensch gewöhnt sich an alles.
»Glaubst du immer noch, dass Jorge in irgendwelche dunklen Machenschaften verstrickt ist?«, fragt sie.
»Schwer zu sagen. Immerhin wissen wir jetzt aber, dass seine Frau nicht in Lima, sondern auf einer Tagung in Cusco war, als der Mord passierte. Und sie hätte ein Motiv gehabt, Alejandra ins Jenseits zu befördern. Eifersucht.«
»Das stimmt zwar, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass Laura... nein, wirklich nicht. Jorge und Alejandra hatten seit ein paar Wochen einen Klüngel, mehr nicht. Deshalb bringt man doch niemanden um. Es ist auch nicht gesagt, dass sie überhaupt etwas davon wusste. Außerdem kann man nachprüfen, ob sie auf der Tagung war und wann sie sie verlassen hat. Und wenn sie von Cusco aus zum Machu Picchu gefahren wäre, hätten wir sie doch sehen müssen«, wendet Rosa-Li ein.
»Nicht notwendigerweise. Wenn sie am Freitag einen früheren Bus hinauf genommen hat als wir, gleich auf ihr Hotelzimmer gegangen ist und das erst wieder verlassen hat, nachdem wir am Samstagmorgen bereits mit Jorge zur Besichtigung aufgebrochen waren, mussten wir sie nicht notwendigerweise sehen. Sie begeht den Mord, kurz bevor morgens der erste Bus heraufkommt und fährt mit dem wieder nach Aguas Calientes zurück. Und nimmt dort gleich den ersten Hubschrauber nach Cusco.«
»Du hast Recht, so hätte es gewesen sein können. Trotzdem: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine berühmte Menschenrechtsanwältin und Präsidentenberaterin einen Mord aus Eifersucht begeht. Und außerdem ist sie eine ganz liebe, warmherzige Frau, die tut bestimmt keiner Fliege etwas zu Leide.«
Roberto lacht, greift nach ihrer Hand und küsst sie. »Ein Ehedrama passt dir nicht in den Kram, sei doch ehrlich, Rosita! Du bist geldgierig, meine Liebe. Aber du hast Recht, auf mich machte Laura gestern Abend auch einen sehr netten, freundlichen Eindruck. Und sie scheint eine Gerechtigkeitsfanatikerin zu sein.« Er winkt dem Kellner. »Lass uns weiterfahren. Je schneller wir in Satipo sind, desto eher wissen wir, was gespielt wird.«
Er lässt es sich trotz der Eile nicht nehmen, auf dem Gipfel des Ticlio anzuhalten. Rosa-Li möchte die verschneite Berglandschaft vom Auto aus bewundern, doch Roberto öffnet die Beifahrertür und zieht sie aus dem Wagen. »Komm, ich will wissen, wie es ist, auf 4815 Metern Höhe zu küssen. Es ist unglaublich schön hier.«
Widerwillig steigt sie aus. Sie hat das Gefühl, ihr Kopf platzt gleich und ihr Gesicht ist hochrot. Jedenfalls glüht es, obwohl sie friert. Wieso strotzt dieser Kerl auch hier oben in der dünnen Luft vor Energie? Sie wünscht sich sehnlichst in tiefere Gefilde zurück. Die Anden waren noch nie ihr Ding. Und schön? Sie sieht nur schneebedeckte Berge, unter einem Nebelschleier noch dazu. Doch sie ist zu schlapp, um zu protestieren. Es ist eiskalt, und so lässt Roberto sich nach wenigen Minuten überreden, weiterzufahren.
Auf der Strecke durch das karge Hochgebirge kommt ihnen eine Gruppe von Männern in roten Arbeitsoveralls im Gänsemarsch entgegen. Sie alle tragen Grubenlampen an ihren weißen Sturzhelmen. Minenarbeiter auf dem Weg in die triste Barackensiedlung, an der sie gerade vorbeigekommen sind. Wie sauer sie ihr Geld verdienen! Nach acht, zehn Stunden unter Tage bleibt ihnen hier oben nur, sich zu besaufen. Der nächste Ort ist weit, ein Kino oder Sportmöglichkeiten hat sie zumindest nicht gesehen. Und die Landschaft ist auch nicht gerade anheimelnd. Sie haben die Baumgrenze bereits hinter sich gelassen.
»Man müsste mal eine Reportage über das Leben der Mineros hier oben machen. Ich stelle es mir ganz schön hart vor. Die werden bestimmt nicht alt«, sagt Rosa-Li.
Roberto nickt. »Hast du die Lagune gesehen, an der wir vorhin vorbeigekommen sind? Auf der Wasseroberfläche lag ein dicker silbriger Film. Die Minengesellschaft kippt da irgendwelchen giftigen Abfall rein. Bestimmt ist die ganze Gegend hier ziemlich verseucht. Vermutlich gelangt der Dreck auch ins Trinkwasser.«
»Was holen die hier wohl aus der Erde?«, fragt sie.
»Im Reiseführer stand etwas von Blei und Kupfer.«
Sie kommen am Nachmittag in Satipo an. Ein heißes, seelenloses Provinznest, irgendwann in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von Siedlern aus dem Boden gestampft, die die Weiten des Amazonasgebietes erschließen wollten, weil sie sich hier ein einfacheres Leben als im Andenhochland erhofften. Ein schlichtes Flachdachhaus gleicht dem anderen. Der architektonische Einfallsreichtum wird allenfalls von deutschen Nachkriegssiedlungen oder sozialistischen Plattenbauten übertroffen.
In den Schaufenstern der Geschäftsstraße liegt nichts als Ramsch aus Fernost. Rosa Nylonblüschen mit Rüschen, japanische Markenfernseher, zu billig, um echt zu sein, klotzige goldene Uhren für ein paar Soles. Wer Geld hat und Geschmackvolleres sucht, fährt zum Einkaufen nach Lima. Oder fliegt nach Miami.
In einer Seitenstraße finden sie ein kleines Hotel, in dessen Hinterhof sogar Platz für das Auto ist. Rosa-Li war nicht wohl bei dem Gedanken, die Luxuskarosse nachts auf der Straße stehenzulassen. Wenn ihnen der Wagen gestohlen würde, könnten sie sich den Rest ihrer Ferien mit Polizei und Versicherung rumschlagen. Nicht auszudenken!
Rosa-Li hätte sich nach der Fahrt zu gern ein Weilchen aufs Ohr gelegt, doch Roberto drängt. »Wenn wir diese Elena Cruz heute noch finden wollen, müssen wir uns auf die Socken machen. Damit sie nicht Feierabend macht, bevor wir kommen.«
Nachdem ihnen der junge Mann an der Rezeption die Adresse des örtlichen Krankenhauses genannt hat, das dem Hotel am nächsten ist, brechen sie sofort auf. Doch in dem Hospital arbeitet keine Elena Cruz. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragt Rosa-Li die Schwester am Empfang nach einem Familienplanungsprojekt in der Stadt, denn womöglich hat Jorges Programm für arme Frauen eine Zweigstelle in Satipo, und Elena arbeitet dort. Die Schwester schaut sie zunächst skeptisch an, doch dann nickt sie. »Ja, es gibt hier eine Familienplanungsstation.«
»Stimmt etwas nicht mit der Station?«, fragt Rosa-Li.
Die Schwester zögert einen Moment, aber dann antwortet sie doch. »Ihr Ruf hat in letzter Zeit erheblich gelitten. Aber mehr weiß ich auch nicht. Man hört nur so einiges.«
»Was hört man denn?«, schaltet sich Roberto ein. Er stützt sich auf die Empfangstheke und sieht die junge Frau im weißen Kittel lächelnd an. Und – wie könnte es anders sein – die Schwester taut auf. »Nun ja, es sind in letzter Zeit mehrere Frauen zu uns gekommen, weil sie schwanger geworden sind, obwohl man ihnen dort die Pille gegeben hat. Bei einigen von ihnen hat die Schwangerschaft zu Komplikationen geführt, sie hätten um ihrer Gesundheit willen nicht schwanger werden dürfen. Und eine Frau aus einem Dorf der Ashaninkas ist sogar gestorben. Aber mehr weiß ich auch nicht, ich arbeite hier nur halbtags als Hilfsschwester.«
»Wer weiß denn mehr darüber?«, will Roberto wissen.
»Die Ärzte und der Gemeindepfarrer. Der sagt, die Station sei des Teufels.«
Was nicht sehr erstaunlich ist, schließlich hat die katholische Kirche etwas gegen Antibabypillen und Präservative. Obwohl Rosa-Li bei ihren Reisen durch Lateinamerika schon so manchen Pfarrer und so manche Nonne getroffen hat, die ihre Schäfchen nicht nur Ogino Knaus anempfehlen. Weil sie tagtäglich sehen, wohin es führt, wenn die Familien zehn und mehr Kinder haben. Zu noch mehr Elend. Aber laut sagen würden sie das nie, schließlich wollen sie ihren Job behalten.
Sie lassen sich von der Hilfsschwester den Weg zur Station beschreiben und brechen auf. »Es sieht so aus, als stimmte da tatsächlich etwas nicht. Dabei hatte ich bei meiner Reportage damals einen richtig guten Eindruck von Jorges Familienplanungsstationen. Allerdings war ich nicht hier, sondern in Lima und in einem Dorf im Norden, dessen Namen ich vergessen habe.«
»Das ist aber schon ein paar Jährchen her, und so etwas kann sich schnell ändern. Und am örtlichen Chef liegt es sicher auch, ob das Ganze gut läuft oder nicht. Vielleicht ist das Projekt auch zu groß geworden, und Jorge überschaut es nicht mehr. Aber es ist müßig, zu spekulieren. Vielleicht gehört die hiesige Station ja auch gar nicht zu Jorges Projekt, sondern wird von einem anderen Träger unterhalten«, wendet Roberto ein.
Sie gehört dazu, das sieht Rosa-Li schon von Weitem an dem Schild über der Tür des rosa gestrichenen Hauses. Futuro Feliz – eindeutig Jorges Verein. Die deutschen Farben leuchten ihr ebenfalls entgegen, damit auch jeder weiß, dass Berlin hier beim Verhüten hilft. Offensichtlich hat sich die Nichtregierungsorganisation, von der Jorge früher Geld bekam, aus dem Geschäft zurückgezogen und dem deutschen Staat das Feld überlassen.
Auch wenn die Station der Schwester im Hospital zufolge einen schlechten Ruf hat - vor der Rezeption im Erdgeschoss stehen dennoch viele Frauen Schlange. Kunststück, den Futuro Feliz arbeitet kostenlos. Rosa-Li bleibt am Eingang stehen, während Roberto an der Rezeption nach Elena Cruz fragt. Bei ihm nimmt wohl keine der Frauen an, dass er sich vordrängeln will.
Auch im Innern sind die Wände rosa getüncht und beißen sich mit dem dunkelroten Steinfußboden. Der vielarmige Messingleuchter mit den Tulpenschalen ist an Kitsch kaum zu überbieten. Aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Zumindest wirkt alles sehr sauber und gepflegt. Wahrscheinlich fließt genug Geld aus dem Ausland, um die Station in Schuss zu halten.
Der verwaschenen Kleidung nach zu urteilen, kommen die rund zwanzig vor dem Empfang wartenden Frauen alle aus ärmlichen Verhältnissen, und etliche haben indianische Züge. Einen privaten Arztbesuch oder ein Krankenhaus kann sich bestimmt keine von ihnen leisten, da bleibt ihnen nur Futuro Feliz, wenn sie keine Kinder mehr wollen. Diese Frauen bieten sich förmlich an, wenn jemand irgendwelche Schweinereien vorhat, geht es Rosa-Li durch den Kopf. Sie leben in der tiefsten Provinz, fernab aller Menschenrechtsgruppen, haben kein Geld für einen Anwalt und sind obendrein nicht gebildet genug, um sich über Behandlungs- oder Verhütungsmethoden und Medikamente im Internet zu informieren. Und Journalisten kritischer Medien kommen auch nur selten in Satipo vorbei. Hier ist der Arzt noch uneingeschränkt der Herrgott in Weiß.
Sie haben Glück, Elena ist im Hause. Während sie auf sie warten, werden sie von den Frauen neugierig beäugt. Nur selten verirrt sich eine Europäerin hierher, und erst recht nicht in Begleitung eines attraktiven männlichen Wesens.
Nach ein paar Minuten kommt über die Holztreppe rechts vom Empfang eine kleine, sehr schlanke junge Frau in weißem Kittel auf sie zu. Sie hat das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre Augen lassen auf chinesische oder japanische Vorfahren schließen. Sie schaut sie fragend an. »Sie wollen zu mir?«, will sie wissen.
Roberto nickt. »Ich bin Roberto Pavón, meine Freundin Rosa-Li Sauer.« Er deutet auf Rosa-Li. »Wir sind Journalisten. Die Mutter von Henry Salinas hat uns Ihren Namen genannt. Wir würden gern...«
Rosa-Li sieht, wie Elena Cruz der Schreck in die Glieder fährt. Sie schaut sich ängstlich um, als fürchtete sie, jemand könnte ihr zuhören. Dabei greift sie nach Robertos Arm und unterbricht ihn. »Nicht hier. Warten Sie um achtzehn Uhr in der Cafeteria gegenüber der Landwirtschaftskooperative auf mich«, raunt sie ihm zu. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und rennt wieder über die Treppe, über die sie gekommen war, in den ersten Stock hinauf.
Die Cafeteria hat noch weniger Charme als ein Wartesaal. Der graue Betonfußboden ist fleckig, an den grob verputzten Wänden kleben verblichene Poster von Musik- und Sportveranstaltungen, die Jahre zurückliegen. Zwei große Ventilatoren mühen sich lautstark, aber vergeblich, der Hitze Herr zu werden, die die Sonne durch das Wellblechdach schickt. Rosa-Li und Roberto nehmen an einem der runden Resopaltische Platz, deren einstmals schwarz lackierte Beine langsam vom Rost zerfressen werden. Der feuchtheißen Luft hält nichts lange stand. Hinter der Gefriertheke, die neben Limonade und Bier vor allem grellbunte Yoghurtbecher beherbergt, kommt eine korpulente Frau mittleren Alters hervor, die sich auf der Haupteinkaufsstraße von Satipo eingekleidet hat, daran lassen rosa Nylonrüschenblüschen, zu enge schwarze Röhrenjeans aus glänzendem Polyester und rosa Plastikpumps keine Zweifel. Rosa scheint die Lieblingsfarbe in diesem Ort zu sein. »Zu Besuch hier?«, fragt sie.
Roberto nickt und bestellt zwei Kola. Die Wirtin klackert auf ihren Pfennigabsätzen davon und hinterlässt eine Wolke billigen Parfums. Bestimmt ist der Flakon auch rosa, schießt es Rosa-Li durch den Kopf. Sie hasst die Farbe.
»Haben Sie Bekannte in Satipo?«, will die Frau wissen, als sie mit zwei Kolaflaschen nebst Strohhalmen zurückkommt. Rosa-Li schüttelt den Kopf. »Wir sind Journalisten und machen eine Reportage über Familienplanung in Peru. Wir haben gehört, dass die Station hier vorbildlich arbeiten soll«, blufft sie.
»Na, ich fürchte, da sind Sie schlecht informiert.« Die Wirtin schaut sie verächtlich an.
»Bestimmt hören Sie so manches hier in der Cafeteria. Was halten Sie davon, wenn wir Sie zu einer Kola einladen, Sie setzen sich zu uns und erzählen uns, was Sie wissen«, schlägt Roberto vor.
Das lässt sich die Wirtin nicht zweimal sagen, und als Rosa-Li auch noch ihren Notizblock aus der Tasche kramt, ist ihr anzusehen, wie wichtig sie sich fühlt. »Also, meine Nachbarin, die wollte ihr zweites Kind schon nicht mehr, weil sie arbeiten muss. Ihr Mann bringt das Geld nämlich in der Kneipe durch. Und ihre Mutter wird langsam zu alt, um Kinder zu hüten. Ein drittes ginge erst recht über ihre Kräfte. Dann ist sie in die Station, und da hat man ihr die Pille gegeben.« Die Wirtin hält inne und schaut die beiden erwartungsvoll an.
»Aber sie wurde trotzdem schwanger?«, fragt Rosa-Li auf gut Glück.
Die Frau nickt so heftig, dass ihre dauergewellten Löckchen hüpfen. »Genau. Schon nach einem Monat. Und da war dann guter Rat teuer. Die auf der Station haben sich natürlich nichts davon angenommen. Sie sei selbst schuld, haben sie gesagt, sie habe bestimmt vergessen, die Pillen einzunehmen. Doch meine Nachbarin schwört, dass sie jeden Abend eine geschluckt hat. Und blöd ist die nicht, das kann ich Ihnen sagen. Sie ist fest davon überzeugt, dass mit den Pillen etwas nicht stimmte.«
»Was soll denn nicht gestimmt haben damit?«, hakt Rosa-Li nach.
»Na, dass man ihr Zucker gegeben hat oder so.«
»Und was hat Ihre Nachbarin dann gemacht?«.
»Wegmachen lassen hat sie sich das Balg.«
»Ist das nicht verboten in Peru?«, wendet Rosa-Li ein.
»Das schon, aber einer der Ärzte von der Station hat es ihr trotzdem weggemacht. Weil sie doch das Kind nicht wollte. Aber sie musste natürlich dafür bezahlen. Fünfhundert Soles, glaube ich. Danach hat sie nicht aufgehört zu bluten und musste ins Krankenhaus. Und stellen Sie sich vor, sie traf da eine Frau, der ist das Gleiche passiert«.
Roberto will wissen, ob mal etwas darüber in der Zeitung gestanden habe, doch die Frau schüttelt den Kopf. »Das nicht, aber hier weiß inzwischen jeder, dass die Ärzte dort nichts taugen.«
»Und warum gehen dann noch so viele Frauen hin? Wir waren kurz da, es war brechend voll.«
»Sie verteilen die Pillen kostenlos, und Präser auch. In der Apotheke kosten die viel Geld. Wer will, kann sich auch kostenlos operieren lassen. Sie wissen schon, damit man keine Kinder mehr kriegt«, erläutert die Frau.
In diesem Moment kommt Elena Cruz zur Tür herein. Sie zögert zunächst, als sie die Wirtin mit den beiden am Tisch sitzen sieht, aber als diese aufsteht, kommt die Krankenschwester doch auf sie zu. Sie hat den weißen Kittel gegen ein paar schlichte, blaue Jeans und ein weißes Polohemd vertauscht. Roberto erhebt sich und bittet sie, Platz zu nehmen. Als er ihr etwas zu trinken anbietet, lehnt sie mit einem Kopfschütteln ab. Sie kommt gleich zur Sache.
»Sie sagten, Henrys Mutter schickt Sie.«
»Ganz richtig. Wir haben sie besucht, und sie hat uns Ihren Namen genannt. Sie macht sich große Sorgen um ihren Sohn und meinte, Sie wüssten bestimmt, wo er sich aufhält.«
Ein wenig zu rasch schüttelt sie den Kopf. »Nein, ich weiß nicht, wo Henry ist.« Sie schaut auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hält.
»Aber Sie wissen, dass er in Schwierigkeiten steckt.«
Nun nickt sie.
»Und Sie wissen auch, dass er vermutlich der letzte war, der die Journalistin Alejandra Prieto lebend gesehen hat. Auf dem Machu Picchu.«
Wieder nickt sie.
»Und nun vermuten Sie, wir halten Henry für Alejandras Mörder.«
Sie schaut auf.
»Keine Bange, Elena, er hat sie nicht auf dem Gewissen«, beruhigt sie Roberto. »Vielmehr glaube ich, dass er Gefahr läuft, dem Mörder ebenfalls in die Hände zu fallen. Wahrscheinlich, weil er weiß, wer Alejandra ermordet hat. Und warum.«
Rosa-Li schaltet sich ein und erklärt der sichtlich nervösen Elena, wie sie Alejandra kennengelernt haben und dass sie sich nun auf die Suche nach ihrem Mörder gemacht hätten. Das beruhigt die junge Frau ein wenig, und sie bestellt sich jetzt doch eine Limonade.
»Wollen Sie uns nicht sagen, worum es geht bei dem Ganzen? Hat es etwas mit der Familienplanungsstation zu tun? Im Ort hört man so manches. Was weiß Henry? Vielleicht können wir ihm sogar helfen«, insistiert Roberto.
Zwar schaut Elena ihn zweifelnd an, doch sie beginnt zu erzählen. »Henry kennt Alejandra Prieto schon seit Jahren. Sie haben zusammen studiert. Er verdient sehr wenig bei Radio Reloj, und so hat er Alejandra häufig Informationen verkauft. Sie zahlte gut, und er konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, dass sie ihn nicht verriet. Weder bei den Informanten noch bei seinem Sender, wenn es um Themen ging, die er eigentlich nicht hätte weitergeben dürfen, sondern dort zuerst hätte bringen müssen. Vor zwei Monaten rief sie ihn mal wieder an. Sie hatte läuten hören, dass eine Pharmafirma in Peru abgelaufene Medikamente verkauft, und dass irgendjemand im Gesundheitsministerium dafür dickes Geld kassiert. Aus Europa. Sie wollte, dass Henry sich umhört, weil er doch gute Beziehungen im Gesundheitsministerium hat. Er berichtet seit ein paar Jahren darüber.«
»Er erzählte Ihnen davon, und Sie recherchierten in Ihrer Familienplanungsstation«, wirft Rosa-Li ein, als Elena eine Pause macht, um etwas zu trinken.
»Nicht ganz. Zunächst kriegte Henry raus, dass es sich unter anderem um Hormonpräparate handelt, Antibabypillen vor allem. Na ja, und vor etwa zwei Wochen stellte ich dann durch einen Zufall fest, dass ungewöhnlich viele unserer Patientinnen, denen in den letzten Monaten die Pille verordnet worden war, schwanger geworden sind.«
»Und wie sind Sie darauf gekommen?«, will Roberto wissen.
»Ich musste die Assistentin unseres Chefs vertreten, sie war krank. Na ja, und da fiel es mir auf, als ich die Karteikarten der Patientinnen las, die zu ihm in die Sprechstunde kamen. Ich hatte natürlich schon von den sich häufenden Schwangerschaften trotz Pille gehört, denn in der Stadt redet man bereits darüber. Aber ich sah da zunächst keinen Zusammenhang zu Henrys Recherchen. Erst, als ich die Woche im Vorzimmer unseres Chefs verbrachte, kam mir ein Verdacht. Ich habe dann Henry davon erzählt, und für ihn war sofort sonnenklar, dass wir auf eine Spur in Alejandras Korruptionsfall gestoßen...« Roberto unterbricht sie. »Sie haben nicht zufällig Kopien der Karteikarten?«, fragt er.
Sie verneint. »Wir haben sie natürlich im Computer der Station abgespeichert, und ich habe sie mir heimlich ausgedruckt, aber ich habe die Kopien Henry gegeben. Und der hat sie Alejandra verkauft.«
»Und an einen zweiten Ausdruck kommen Sie nicht?«, hakt er nach.
»Meine Kollegin ist wieder gesund, und ich habe keinen Zugang mehr zum Büro meines Chefs. Ich arbeite ja normalerweise im Labor im zweiten Stock. Es fällt auf, wenn ich mir an einem Computer in einem der Sprechzimmer im Erdgeschoss zu schaffen mache. Und eine Stunde bräuchte ich mindestens, wenn nicht länger, um mir die entsprechenden Dateien rauszusuchen und auszudrucken.«
Zu schade, denkt Rosa-Li. Die Dateien wären ein handfester Beweis. Basierend auf der Aussage einer einzigen Krankenschwester gegen einen europäischen Pharmakonzern anschreiben – ein hoffnungsloses Unterfangen. Das kauft ihr kein Mensch ab. »Sagen Sie, als Henry dann die Datei-Kopien hatte...«
»... rief er sofort Alejandra an, auf ihrem Handy, ich war dabei. Ich hatte die Kopien mit nach Lima genommen. Alejandra war aber schon in Cusco, weil sie für das Wochenende auf dem Machu Picchu gebucht hatte. Na ja, und da sie die Papiere sofort haben wollte, ist Henry hingeflogen. Den Flug hat sie ihm bezahlt.«
»Ich habe Alejandras Hotelzimmer gleich nach ihrer Ermordung durchsucht, aber ich habe die Karteikarten nicht gefunden. Hat Henry sie ihr gegeben oder kam es gar nicht mehr dazu?«, warf Roberto ein.
»Doch, sie haben sich getroffen, sie haben ein paar Minuten geredet, und Henry hat ihr die Fotokopien übergeben. Der Mörder muss sie ihr abgenommen haben.«
Rosa-Li legt ihre Hand auf Elenas und sieht sie eindringlich an. »Ich glaube, Sie und Henry sind in großer Gefahr. Wenn der Mörder die Kopien an sich genommen hat, wird er bereits wissen, dass sie aus Satipo stammen. Ein Gespräch mit Ihrem Chef, und er weiß, dass nur seine Assistentin oder Sie sie beschafft haben können. Wobei es wahrscheinlicher ist, dass Sie es waren, weil die Assistentin bislang dichtgehalten hat. Für Ihren Chef dürfte es auch ein Leichtes sein, zu erfahren, dass Sie mit einem Journalisten aus Lima liiert sind, wenn er es nicht sogar von Ihnen selbst weiß. Und wenn der Mörder oder seine Auftraggeber aus dem Gesundheitsministerium kommen, kennen sie Henry womöglich durch seine Arbeit. Elena, wo ist Henry?«, insistiert Roberto.
Die Krankenschwester schüttelt entschieden den Kopf. »Ich darf Ihnen nicht sagen, wo Henry ist. Ich habe ihm fest versprochen, es niemandem zu verraten, und ich halte mich daran, solange ich ihn nicht gefragt habe, ob ich Sie einweihen darf. Von Henry weiß auf der Station übrigens niemand. Ich habe da keine Freundin, und ich rede auf der Arbeitsstelle grundsätzlich nicht über mein Privatleben.«
Trotz aller Bemühungen gelingt es ihnen nicht, Elena zu überzeugen, ihnen Henrys Aufenthaltsort zu verraten. Sie verspricht lediglich, ihren Freund zu fragen. Sie verabreden sich, am Morgen gemeinsam im Hotel zu frühstücken. Dann will sie ihnen mitteilen, ob Henry bereit ist, sich mit ihnen zu treffen.