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Über den Flügel hinaus

Was er war, was bleiben wird

Auf dem »Flügelfest« in Binz im November 2019 lagen auf den Tischen mehrseitig gefaltete Flyer. Vorne zeigten sie einen in Stein gemeißelten Kaiser Barbarossa, Teil des Kyffhäuserdenkmals zu Ehren Wilhelms I. Es ist bekannt, dass vor allem Björn Höcke ein großer Anhänger solcher Symbolik ist. Höcke spricht gerne über den schlafenden Kaiser Barbarossa, den Rotbart, der im 12. Jahrhundert geherrscht hat und laut der Kyffhäusersage im rechten Moment erwachen, das Deutsche Reich erlösen und zu neuer Stärke führen soll. All das soll Wilhelm I. 1871 mit der Reichsgründung getan haben, weshalb das Kyffhäuserdenkmal auch ihm gewidmet ist, dem von Zeitgenossen so bezeichneten »Weißbart auf des Rotbarts Thron«.

In seinem 2018 erschienenen Buch Nie zweimal in denselben Fluss schreibt Höcke: »Die Sehnsucht der Deutschen nach einer geschichtlichen Figur, welche einst die Wunden im Volk wieder heilt, die Zerrissenheit überwindet und die Dinge in Ordnung bringt, ist tief in unserer Seele verankert, davon bin ich überzeugt.« Unter dem zornig dreinblickenden Barbarossa stand auf dem Flyer: »Der Flügel. Damit die AfD eine echte Alternative bleibt.«

Der Flügel selbst verstand sich laut Binzer Veranstaltungsflyer als »eine innerparteiliche Wertegemeinschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Gründungsideale der AfD gegen eine schleichende Korrumpierung durch Macht- und Karriereinteressen zu verteidigen.« Von außen betrachtet galt der Flügel als Sammelbecken radikaler und völkischer Kräfte – und das in einer Partei, die den Diskurs in Deutschland in den vergangenen Jahren weit nach rechts verschoben hat. Wenn es um gesellschaftliche Tabubrüche ging, um eine neue politische Kultur im Land, die mitunter an eine lange überwundene Epoche erinnerte, waren es zumeist Flügel-Leute, die dahintersteckten. Bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat vor allem immer wieder Höcke, etwa mit seiner Forderung einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« – im Umgang mit der NS-Zeit.

Höcke war nach außen hin der Frontmann des Flügels und führt sein Netzwerk auch heute, nach der formellen Auflösung, weiter an. Der thüringische AfD-Vorsitzende spaltet seit langem die Geister: Für seine Anhänger ist er ein »Nationalromantiker«, der nur das Beste für seine geliebte Heimat möchte, für seine Gegner ist er Repräsentant einer rechtsextremen Partei, die er mit radikalen Mitteln zum Erfolg führen will. Stand er 2018 noch kurz davor, aus der AfD zu fliegen, gilt er inzwischen als einer ihrer Hauptprotagonisten – und das obwohl er noch nie für einen Posten im Parteivorstand kandidiert hat.

Da Höcke vor allem in den Westverbänden der AfD Feinde hat, hält er wohl das Risiko, nicht gewählt zu werden, für zu groß. Im Osten Deutschlands, insbesondere in »seinem« Bundesland Thüringen, in dem die AfD seit März 2020 als »Verdachtsfall« gilt, sieht die Sache anders aus. Da hat Höcke unter den Mitgliedern und Wählern fast einen Heldenstatus inne, mit dem er beste Wahlergebnisse für die AfD einheimst – wie etwa bei den Thüringer Landtagswahlen im Oktober 2019, als die AfD mit 23,4 Prozent zweitstärkste Kraft wurde, hinter den Linken und vor der CDU. Daraufhin verortete ihn der damalige Vorsitzende Alexander Gauland in der »Mitte der Partei«. Höcke ist aus der AfD heute kaum noch wegzudenken.

Viele Unterstützer, wenig Beweise

Da es kein offizielles Mitgliederverzeichnis des Flügels gab, war bis zuletzt nicht bekannt, wie viele AfDler sich der Gruppierung zugehörig fühlten. Auch der Verfassungsschutz hat sich in der Vergangenheit mit dieser Problematik befasst. Sein Ergebnis: Dem Flügel ist zuzurechnen, wer bei Flügel-Veranstaltungen als Redner auftritt oder häufig daran teilnimmt, oder wer Appelle wie den »Stuttgarter Aufruf« unterzeichnet hat, mit dem sich der radikale Teil der AfD gegen die Parteispitze stellte: »Wir widersetzen uns allen Denk- und Sprechverboten innerhalb der Partei«, lautete der zentrale Satz des Papiers. Treibende Kraft hinter dem Aufruf vom Oktober 2018 war die baden-württembergische Landtagsabgeordnete Christina Baum. Sie war zudem »Obfrau« des Flügels im Südwesten Deutschlands.

Was die Zahlen angeht, gibt es verschiedene Schätzungen, die sich zwischen 7000 und 15000 Mitgliedern bewegen. Im Januar 2019 mutmaßte Alexander Gauland, dass etwa 40 Prozent der AfD-Mitglieder den Flügel unterstützten. Jörg Meuthen wiederum sprach im Sommer 2019 von »höchstens 20 Prozent« der etwa 35000 Parteimitglieder. An dieser Prozentzahl orientierte sich auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, weshalb die Behörde von etwa 7000 Unterstützern ausging. Sie und die Junge Alternative (JA) wurden 2019 zum ersten Mal in der Rechtsextremismus-Statistik berücksichtigt, wodurch die Zahl der Rechtsextremisten plötzlich um etwa ein Drittel stieg.

Wie viele Unterstützer der Flügel auch immer hatte, sie waren stets in der Lage, das Machtgefüge innerhalb der AfD zu beeinflussen. Das zeigte sich spätestens beim Parteitag im November 2019. Flügel-Kritiker wie Kay Gottschalk oder Georg Pazderski verloren ihre Vorstandsposten, Flügelisten wie Stephan Brandner wurden nach oben gespült – allen voran Tino Chrupalla, der schon bei Flügel-Veranstaltungen aufgetreten ist und als Sympathisant galt. Seine Wahl zum Nachfolger von Alexander Gauland brachte den Flügel noch deutlicher ins Zentrum der parteiinternen Macht.

Wie sehr Chrupalla dem Flügel zugewandt ist, machte er später in der »Causa Kalbitz« deutlich. Da schrieb Meuthen nach dem Rauswurf einen Rundbrief an alle Parteimitglieder, in dem er seine Haltung gegen den Flügelisten ausführlich erklärte. Chrupalla, der für Kalbitz’ Verbleib gestimmt hatte, hängte dem Schreiben einen eigenen Brief an, in dem er die gegenteilige Position einnahm. Mehr Gegensatz zwischen zwei gleichgestellten Chefs ein und derselben Partei geht kaum.

Auch die Spitzenfunktionäre kommen kaum noch an den Rechtsaußen der Partei vorbei. Während sich Gauland schon immer hinter Höcke und Kalbitz gestellt hat, gibt es andere, die in ihrem Umgang mit dem Flügel einem Chamäleon gleichen: An ihnen ist abzulesen, wie mächtig er gerade ist.

Die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel ist dafür ein gutes Beispiel. Hatte sie noch Anfang 2017 unter Frauke Petry Höckes rechtsnationalen Kurs kritisiert und seinen Parteiausschluss unterstützt, schlug sie kurze Zeit später beim Parteitag andere Töne an. Nachdem Petry eine schwere Niederlage erlitten hatte und Weidel gemeinsam mit Gauland als Spitzenduo für die bevorstehenden Bundestagswahlen aufgestellt worden war, äußerte sie sich plötzlich ganz anders. Sie und Höcke seien »zwei Teile einer Partei«. Im Wahlkampf werde man Seite an Seite arbeiten.

Zwei Jahre später ist Weidel ganz nah an den Flügel gerückt. Im Sommer 2019 hielt sie sogar ein Referat vor Flügel-Freunden im inzwischen vom Verfassungsschutz beobachteten »Institut für Staatspolitik« von Götz Kubitschek. Ihr Thema: »Politik in Berlin«. Am Ende ihrer knapp einstündigen Rede machte sich Weidel beim Publikum beliebt: »Die damaligen Faschisten sind die heutigen Antifaschisten.« Mit radikalen Äußerungen lässt es sich an der rechten Flanke eben am besten punkten. Das kann man besonders gut bei Reden auf AfD-Parteitagen erkennen: Je heftiger und deftiger die Sprache, desto mehr Applaus und Standing Ovations sind bei den Delegierten aus dem Höcke-Lager zu erwarten.

Auch Parteichef Meuthen, der sich gerne gemäßigt gibt, hat jahrelang das Kyffhäusertreffen besucht, dort sogar Reden gehalten. Nur im Sommer 2019 blieb Meuthen dem Treffen fern. Ein paar Monate zuvor hatte er zum Auftakt des Landesparteitags in Baden-Württemberg von »einigen komplett rücksichtslosen Radikalen« gesprochen – der Flügel verstand das als Kampfansage. Dabei dürfte Meuthen wohl gewusst haben, dass er ohne die Gunst der Radikalen nicht mehr sicher auf seinem Stuhl als Parteichef sitzen würde. Dem Flügel wiederum dürfte klar gewesen sein, dass er Kader wie Meuthen braucht, um anschlussfähiger zu wirken. Allerdings dürfte 2019 noch niemand sicher gewusst haben, dass aus den einstigen Verbündeten echte Feinde werden würden.

Wie alles begann

Um die »Alternative für Deutschland« noch alternativer auszurichten, initiierten Björn Höcke und André Poggenburg, damaliger AfD-Chef von Sachsen-Anhalt, die »Erfurter Resolution«. Diese wurde am 14. März 2015 auf dem thüringischen Landesparteitag von Höcke vorgestellt und von den Mitgliedern verabschiedet. Auch wenn sie später als »Gründungsurkunde« des Flügels bezeichnet wurde, so bestand im März 2015 noch kein direkter Bezug zu der gerade gegründeten Gruppierung.

Die Erfurter Resolution stellte bei ihrer Verkündung schlichtweg ein Gegengewicht zur Politik von Parteichef Bernd Lucke dar, die vielen zu »mainstreamig« geworden war. Zwar gehörten zahlreiche Erstunterzeichner bis zuletzt dem Flügel an, aber es gab auch AfD-Politiker, die die Erfurter Resolution nur unterschrieben, um damit ein Zeichen gegen die Politik Luckes zu setzen – wie etwa der Brandenburger Landtagsabgeordnete Steffen Königer. Im Sommer 2017 schloss er sich gar der »Alternativen Mitte«, der Gegenbewegung zum Flügel, an – und wurde 2018 als Mitglied des Bundesvorstands mehr oder minder aus der Partei gemobbt. Er und ein weiterer AfD-Aussteiger werden später zu Wort kommen.

Zwar hatte der Flügel im März 2015 auf seiner neu registrierten Website begonnen, Unterzeichnerlisten der Erfurter Resolution aus verschiedenen Bundesländern zu veröffentlichen, nahm diese aber wenig später wieder aus dem Netz. Bis zuletzt fanden sich lediglich 19 Erstunterzeichner auf der Website. Alexander Gauland hingegen wurde darauf nicht aufgeführt, obwohl er auch einer der Erstunterzeichner der Resolution war. Womöglich aus taktischen Gründen: Gauland galt lange als Vermittler zwischen Gemäßigten und Flügelisten. Als Parteigrande gelang es ihm, den Flügel innerhalb der AfD salonfähig zu machen. Während er Höcke in der Mitte der Partei verortete, sagte er im ARD-Sommerinterview 2019 über Kalbitz: »Er macht es gut, und er ist ein bürgerlicher Mensch. Ich kann nichts Rechtsextremes in ihm finden.« Kurz zuvor hatte Kalbitz zugegeben, 2007 nach Athen gereist zu sein, um an einem Neonazi-Aufmarsch teilzunehmen.

Zwei Jahre später gesellte sich zur Erfurter Resolution noch das »Kyffhäuser-Manifest«, das als Aufruf zur Einigkeit der Partei beworben wurde: »Wir verteidigen die Einheit der AfD gegen Spaltungsversuche von innen und außen, denn das ist die größte Gefahr: daß wir uns auseinanderreißen lassen. Gewonnen hätte dann nur einer: der politische Gegner.« Dass die beiden Positionspapiere 2015 und 2017 entstanden sind, dürfte kein Zufall sein. In diesen Jahren fanden im Vorfeld von Parteitagen massive innerparteiliche Machtkämpfe statt, die schließlich zur Spaltung führten. Erst wurde Bernd Lucke gestürzt, dann dessen Nachfolgerin Frauke Petry. Und jedes Mal gingen die Anhänger des Flügels als Gewinner hervor.

Warum der Flügel gegründet wurde, ist der Erfurter Resolution zu entnehmen. Darin wird vor allem der damalige Kurs des Parteigründers Lucke kritisiert: »Die Bürger haben uns gewählt, weil sie hoffen, daß wir anders sind als die etablierten Parteien: demokratischer, patriotischer, mutiger. Anstatt nun jedoch die Alternative zu bieten, die wir versprochen haben, passen wir uns ohne Not mehr und mehr dem etablierten Politikbetrieb an: dem Technokratentum, der Feigheit und dem Verrat an den Interessen unseres Landes.« Der Flügel wollte eine Alternative in der Alternative sein – allein dieser Ansatz klingt nach Spaltung.

Wer die Resolution unterzeichnete, forderte demnach eine AfD, die sich »als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.)« aufstellt, als »Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands« agiert – und sich dabei nicht von »bürgerlichen Protestbewegungen« wie etwa Pegida fernhält. Vielmehr sollte sich die AfD zu einer »grundsätzlichen politischen Wende in Deutschland« bekennen.

Ein anderes Land

Es ist nicht ganz einfach, eine genaue Vorstellung davon zu bekommen, welches Deutschland Höcke, Kalbitz und Co. wollen, was vor allem daran liegt, dass sie zwar die Vision eines völkisch organisierten Landes ohne Einwanderung und mit straffen traditionellen Werten entwerfen, sich aber aus taktischen Gründen bedeckt halten, wenn es um die Frage geht, wie genau sie diese Vision durchsetzen wollen. Einen Einblick liefert Höcke in seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss. Darin redet er von einer Politik der »wohltemperierten Grausamkeit«, die notwendig sei, um ein »großangelegtes Remigrationsprojekt« durchzusetzen, und von einer »zentralen Führungsfigur«, mit der die AfD in einer Epoche an die Macht kommen soll, die Höcke als »Wendezeit« bezeichnet. »Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen. Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt, denn die größten Probleme von heute sind ihr anzulasten.«

Ein Unterschied zwischen den Positionen der gemäßigten und der radikalen AfD-Mitglieder ist bisweilen schwer zu erkennen. Doch es scheint oft so, als würden viele Gemäßigte den Inhalten der Radikalen zustimmen – nur in einem moderateren Ton, um ja nicht die bürgerlich-konservative Wählerschaft zu vergraulen. Ohnehin soll hier nicht der Eindruck entstehen, gemäßigtere AfD-Parteigänger seien im Gegensatz zum Flügel »die Guten«. Jeder, der als Politiker, als Mitglied, als Wähler oder als Sympathisant die heutige AfD unterstützt, steht hinter einem völkischen und in Teilen rechtsextremen Denken, das sich gegen ein liberales Weltbild richtet.

Feststeht, dass der Flügel den politischen Diskurs entschieden nach rechts verschoben hat, sowohl in der AfD als auch in Deutschland insgesamt. Haben nach der Parteigründung 2013 noch die Aussagen eines Bernd Lucke für Empörungswellen getaugt, so wirken sie neben Sätzen von Kalbitz, Höcke oder anderen Radikalen der Partei heute fast schon schulbubenhaft. So warnte etwa die Flügel-Anhängerin Christina Baum vor einem »schleichenden Genozid« an den Deutschen, während Jens Maier, Flügel-Anhänger und Höcke-Verehrer, gegen eine »Herstellung von Mischvölkern, um die nationalen Identitäten auszulöschen«, wetterte. Damit fährt der ehemalige Richter am Dresdner Landgericht komplett auf einer Spur mit der NPD.

Ausgerechnet Maier, der sich selbst gerne »kleiner Höcke« nennt und schon oft wegen rassistischer Äußerungen aufgefallen ist, wurde im Januar 2019 von Höcke persönlich zum Flügel-Obmann in Sachsen ernannt. Maiers verbale Ausfälle sind nicht gerade selten. Ein Jahr vor seiner Ernennung zum Obmann wurde von seinem Twitter-Account ein Sohn von Boris Becker als »Halbneger« bezeichnet. Darüber hinaus soll Maier Anfang 2018 Verena Hartmann, die inzwischen die AfD verlassen hat, in einer Sitzung gedroht haben: »Wir machen dich fertig!« Für den norwegischen Attentäter Anders Breivik fand der Abgeordnete hingegen verständnisvollere Worte. Maier erklärte 2017 bei einer Veranstaltung des verschwörungstheoretischen Magazins Compact, dass Breivik »aus Verzweiflung heraus« zum Massenmörder geworden sei.

Der Flügel agierte aber nicht nur mit Worten. Als beispielsweise 2018 Daniel H. in Chemnitz mutmaßlich von Asylbewerbern erstochen wurde, organisierten die AfD-Landesverbände von Thüringen, Sachsen und Brandenburg mit ihren jeweiligen Vorsitzenden Björn Höcke, Jörg Urban und Andreas Kalbitz einen »Trauermarsch« durch die Stadt, bei dem die Flügel-Politiker wie selbstverständlich mit Pegida-Anhängern und gewaltbereiten Neonazis marschierten, darunter auch – wie später bekannt wurde – der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke. Für diesen extremen Schulterschluss wurde die AfD jedoch nicht etwa abgestraft, sondern kam anschließend in Umfragen auf bundesweite Höchstwerte von 15 Prozent.

Doch solche Schulterschlüsse finden nicht nur auf der Straße statt. Bereits 2018 titelte Zeit Online: »Ein Nazi-Netzwerk im Deutschen Bundestag: Mindestens 27 Mitarbeiter von AfD-Abgeordneten sind Aktivisten und Anhänger rechtsradikaler Organisationen.« Sie sollen Anhänger der NPD und Mitglieder der mittlerweile verbotenen »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ), Aktivisten der Identitären Bewegung oder extrem rechte Burschenschafter sein. Selbst Alexander Gauland hat schon Hilfskräfte mit rechtsextremer Vergangenheit in seinem Bundestagsbüro angestellt. Einer war als junger Mann sogar in der neonazistischen HDJ aktiv – für Gauland bloß eine »Jugendsünde«.

Wer die Protagonisten des »aufgelösten« Flügels unterstützt, setzt sich für eine Fundamentalopposition ein, die nicht das bestehende Deutschland reformieren möchte, sondern ein anderes fordert. Ein Deutschland, in dem demokratische Medien mundtot gemacht werden. Ein Deutschland, das Fremde und fremde Kulturen, insbesondere solche außerhalb Europas, ausschließt und sich der – wie Kalbitz es gerne formuliert – »autochthonen«, also ausschließlich der ethnisch deutschen Bevölkerung verpflichtet. Ein Deutschland, in dem deutsche Männer wieder männlicher werden und deutsche Frauen ihre Weiblichkeit im Gebären ausdrücken. Ein Deutschland, das die Untaten der Nationalsozialisten relativiert, um einen neuen Nationalismus und stolzen Patriotismus voranzutreiben. Ein Land voller wehender Deutschlandfahnen.

Homogener Pluralismus

Der politische Fokus des Flügels ist auch dem Verfassungsschutz nicht entgangen. Im Gutachten vom Frühjahr 2019 heißt es: »Der Fortbestand eines organisch-einheitlichen Volkes wird vom ›Flügel‹ als höchster Wert angesehen. Der einzelne Deutsche wird nur als Träger des Deutschtums wertgeschätzt. ›Kulturfremde‹ Nicht-Deutsche gelten als nicht integrierbar. Ihnen soll eine Bleibeperspektive konsequent verwehrt werden. Ziel des ›Flügels‹ ist ein ethnisch homogenes Volk, welches keiner ›Vermischung‹ ausgesetzt sein soll.«

Damit berufen sich die Radikalen auf das Konzept des »Ethnopluralismus«, das innerhalb der Neuen Rechten angesagt ist. Aber auch die NPD benutzt den Begriff. »Ethnopluralismus« bedeutet nichts anderes als die »Reinhaltung« von Staaten nach Ethnien. Die Neue Rechte führt Unterschiede auf die verschiedenen Kulturen einzelner Volksgruppen zurück. Dabei gilt es, diese Kulturen zu bewahren und sie vor fremden Einflüssen, also fremden Kulturen zu schützen. Denn nur so, ohne Vermischung, ohne »Multikulturalismus«, könnten sich die einzelnen Völker voll und ganz entfalten. Für die Anhänger dieser Theorie ist etwa der Islam nicht grundsätzlich zu bekämpfen, sondern nur im europäischen Raum indiskutabel. Jede Religion, jede Kultur sollte nur an ihrem ursprünglichen Abstammungsort heimisch sein dürfen.

Auch Höcke und seine vom Flügel dominierte Thüringer AfD-Fraktion benutzten bereits den Begriff, etwa im Wahlprogramm für die Landtagswahlen 2019. So heißt es in einem Absatz, in dem sie sich auf die vom Verfassungsschutz »lediglich behaupteten verfassungsfeindlichen Tendenzen« der AfD beziehen: »Das gewaltfreie Eintreten beispielsweise für ein ethnopluralistisches Weltbild, die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft, Kritik an der Verharmlosung des Islams und an einer entsprechenden Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Islam oder Kritik an Regierungshandeln im Allgemeinen zählen ausdrücklich nicht hierzu.« Solche Meinungsäußerungen, so das Wahlprogramm, seien in einem Verfassungsstaat grundrechtlich geschützt und zulässig.

Konservative Freunde

Als Rechtsträger für den Flügel ist seit Anfang Mai 2018 der Verein »Konservativ! e.V.« mit Sitz in Erfurt aufgetreten. Als Vorsitzende sind die beiden Flügelisten Jürgen Pohl, Bundestagsabgeordneter aus Thüringen, und Birgit Bessin, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD Brandenburg, verzeichnet. Laut der Thüringer AfD ist der Verein von »Freunden des Flügels« gegründet worden, um Veranstaltungen der innerparteilichen Gruppierung zu organisieren.

Als Björn Höcke in seiner Weihnachtsbotschaft 2018 um Spenden für den Verein bat, um damit den Flügel zu unterstützen, wurde er von der Parteispitze kritisiert. Alexander Gauland sorgte sich, dass solche Zuwendungen als illegale Parteispenden gewertet werden könnten. Klickte man ein Jahr später, an Weihnachten 2019, auf den Spenden-Button der Flügel-Website, stand da geschrieben: »Liebe Freunde des Flügels, aktuell sind leider keine Spenden möglich.« Auch der »Flügelversand« pausierte, das Shirt mit der Aufschrift »Höcke hatte recht!« war somit nicht verfügbar.

In Thüringen versuchte man ebenfalls, über eine parteinahe Stiftung an Steuergelder zu kommen. Im März 2019 berichtete die Thüringer Allgemeine, dass der Landesverband die »Carl-Joseph-Meyer-Stiftung« gegründet habe. Ihr Vorstand stammt aus dem Höcke-Umfeld und wird von Jens Dietrich geführt, einem der Erstunterzeichner der Erfurter Resolution. Die Stiftung wolle Wissenschaft und Bildung, die Förderung von europäischer Zusammenarbeit und Kultur sowie Veranstaltungen organisieren, erklärte Torben Braga der Zeitung.

Braga, Jahrgang 1991, ist vieles: Er ist Vorstandsmitglied von Konservativ! e.V. und der Carl-Joseph-Meyer-Stiftung, Beisitzer des Landesvorstands sowie parlamentarischer Geschäftsführer der AfD Thüringen und gilt als rechte Hand Höckes. Außerdem ist Braga Mitglied der rechtsextremen »Burschenschaft Germania Marburg« und der pflichtschlagenden »Jenaischen Burschenschaft Germania« – seine Narben auf der Stirn dürften daher Schmisse sein. Braga war einst auch Sprecher der »Deutschen Burschenschaft«, dem Dachverband extrem rechter Burschenschaften. In ihren Reihen findet die AfD seit ihrer Gründung neues Personal: Personen mit akademischer Ausbildung und nationalistischer Einstellung. Auf der Website der »Deutschen Burschenschaft« erklärt Joachim Paul, AfD-Politiker und Alter Herr, in einem Interview: »Für Korporierte ist die AfD doch längst erste Wahl, weil man sich gerade in der ›Jungen Alternative‹ einbringen kann, ohne seine Mitgliedschaft in einer schlagenden Studentenverbindung verleugnen oder herunterspielen zu müssen.« Um sich untereinander besser zu organisieren, entstand 2015 der geheime Zusammenschluss »Korporierte in der AfD«. Während die Burschen und Alten Herren in der AfD sich also noch organisieren und eher im Verborgenen vernetzen, reichen die Stiftungs-Aktivitäten der Flügelisten in der AfD bereits weit in Partei und Gesellschaft hinein.

Vorbild für die Thüringer Stiftung dürfte wohl die »Erasmus-Stiftung Brandenburg« sein. Die AfD Brandenburg ist der erste Landesverband, der über eine parteinahe Stiftung Steuergelder kassiert. Diese werden beispielsweise ausgegeben für Veranstaltungen wie das Seminar »Wahlrecht für Deutschland (Wahlbeobachtungen)«, das vom ehemaligen NPD-Funktionär Michael Schäfer geführt wurde. Die letzte Veranstaltung der Stiftung fand im heißen und trockenen Hochsommer 2019 statt: ein Vortrag über »Klima und Energiewende aus AfD-Sicht«, gehalten von einem Leugner des menschengemachten Klimawandels.

Im März 2020 schrieb der Spiegel, dass der Flügel eine schwarze Kasse für Spenden nutzte, die nicht in der Buchführung der AfD auftauchte. So steht es zumindest im neuen Gutachten, mit dem die Verfassungsschützer die dauerhafte Beobachtung des Flügels begründen und ihn als »erwiesen extremistische Bestrebung« einstufen. Auf dem Konto, das vom AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann bei der Deutschen Kreditbank eröffnet wurde, sollen von Juni 2018 bis August 2019 mehrere Spenden eingegangen sein. Neben Einzelspenden an den Flügel habe es auch Überweisungen von Björn Höcke, Hans-Thomas Tillschneider, Thorsten Weiß, Paul Traxl, Christina Baum, Christian Blex und Oliver Kirchner gegeben. Bei allen Einzahlungen habe es sich laut Verwendungszweck um Spenden an den Flügel gehandelt. Mitunter sollen auch Mitgliedsnummern angegeben worden sein, wie zum Beispiel: »Spende Der Flügel Mitgliedsnr. 10«. Da es sich um die Nummer 10 und nicht 10000 handelt, müsste sie von einem der ersten Mitglieder der AfD stammen, von denen aber alle mit oder kurz nach Lucke die Partei verlassen haben, mit Ausnahme von Alexander Gauland. Eine vertrauliche Quelle versichert allerdings, dass Gauland eine vierstellige Mitgliedszahl habe, da er zum Zeitpunkt der AfD-Gründung noch CDU-Mitglied gewesen sei und die Nummern von ausgeschiedenen Mitgliedern nicht noch einmal vergeben würden. Dass die im Verwendungszweck angegebene Mitgliedsnummer 10 aus einem Flügel-Mitgliedsverzeichnis stammt, ist somit wahrscheinlich.

In einem anderen Fall, so das Gutachten der Verfassungsschützer, sei auf den Verein Konservativ! e.V. verwiesen worden. Pasemann ist im Vereinsregister als Schatzmeister eingetragen. Mutmaßlicher Geldgeber des Flügels ist auch der neurechte Verleger Götz Kubitschek. Laut Verfassungsschutz soll Pasemann 500 Euro auf das Konto eingezahlt haben, mit dem Betreff »Spende Gotz [sic] Kubitschek«.

Dazu teilte Pasemanns Anwalt mit, dass über das Konto keine Spenden für den Flügel gesammelt worden seien, sondern nur Gelder für den »parteiunabhängigen Verein« Konservativ!. Deshalb seien die Spenden auch nicht im AfD-Rechenschaftsbericht erfasst. Allerdings wurde Pasemanns Bankverbindung über mehrere Monate auf der Website des Flügels als Spendenkonto angegeben. Die Gründe dafür kenne er nicht, ließ Pasemann mitteilen.

Und raus bist du

Die wachsende Radikalisierung der AfD durch den Flügel sorgte mitunter auch für Aussteiger aus der Partei. Verena Hartmann etwa, die im Januar 2020 die AfD verlassen hat, findet in ihrer Austrittserklärung klare Worte: »Doch da ist auch der rechte Flügel, der um jeden Preis nur nach Macht und Einflussnahme strebt und die ganze Fraktion mit seinen Grabenkämpfen vereinnahmt. Diejenigen, die sich gegen diese rechtsextreme Strömung wehren, werden gnadenlos aus der Partei gedrängt. Der Flügel will die AfD voll und ganz übernehmen, da sich mit diesem ›Etikett‹ mehr erreichen lässt als mit dem adäquateren NPD-Label.« Auch für die graue Eminenz der Partei, Alexander Gauland, den niemand aus der Partei zu kritisieren wagt, hat Hartmann nichts mehr übrig. Über ihn und Höcke schreibt sie: »Dr. Gauland erklärt ganz offen den Begründer des rechten Flügels, Herrn Höcke, der ›Mitte der Partei‹ zugehörig. Damit verschiebt sich die Mitte nach rechts und zwingt die gesamte Partei mitzugehen. Er unterstreicht einmal mehr, voll und ganz hinter Höcke zu stehen. Lieber verliert die Parteispitze viele gute Mitglieder, auch Mandatsträger, als einen Höcke. Der rechte Flügel konnte sich dadurch in den letzten Jahren frei entfalten, die Richtung ist vorgegeben und der Wandel der AfD damit besiegelt.«

Weiter in den Westen

Der Flügel hatte sein Kraftzentrum ganz klar im Osten Deutschlands, wo auch Höcke und Kalbitz dominieren. Um den Einfluss auch in den Westverbänden auszubauen, wo weitaus die meisten AfD-Mitglieder leben, wurden verschiedene Treffen ausgetragen, wie etwa das »Hermannstreffen« in Ostwestfalen. In Berlin hingegen fand das erste Flügeltreffen keine Wiederholung. Im Frühjahr 2018 trafen sich Flügelisten zum ersten »Wartenberger Fest« im Wartenberger Hof im gleichnamigen Neubaugebiet in Berlin-Hohenschönhausen – unter den Rednern waren Höcke, Kalbitz und Meuthen. »Auch in einem Landesverband wie Berlin gibt es eine starke Stimme des Flügels«, sagte Thorsten Weiß, Flügelist und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, auf eben diesem Fest.

Weiß galt als Koordinator des Flügels in Berlin und ist ein enger Vertrauter von Höcke. Auf Twitter versucht Weiß, der wie ein jüngerer Matteo Salvini aussieht, die Lügen des »polit-medialen Establishments« aufzudecken und bezeichnet sich selbst als »radikalen Demokraten« – so formulierte Weiß es nach seiner Rede im Februar 2020 im Berliner Abgeordnetenhaus, in der er die Einführung eines Aussteigerprogramms für Linksextremisten forderte. Für seine treuen Dienste wurde Weiß beim Kyffhäusertreffen 2019 von Höcke ausgezeichnet: mit einer »Bismarck-Medaille«.

So wie beim Kyffhäusertreffen das Kyffhäuserdenkmal namensgebend war, so ist es beim Hermannstreffen das Hermannsdenkmal. Mit seiner Größe von über 50 Metern ragt es über den Teutoburger Wald und soll an den Cheruskerfürsten Arminius, später genannt »Hermann der Cherusker«, und an die Schlacht im Teutoburger Wald erinnern, in der germanische Stämme 9 n. Chr. unter dessen Führung dem römischen Heer eine entscheidende Niederlage beibrachten. Heute wird das Denkmal oft zu rechten Propagandazwecken missbraucht. Im Januar 2019 traf sich beispielsweise eine kleine Gruppe von »Combat 18« am Hermannsdenkmal und zeigte Plakate mit der Forderung nach »Freiheit für unsere inhaftierten Brüder«. Combat 18 gilt als bewaffneter Arm des in Deutschland verbotenen Neonazi-Netzwerks »Blood and Honour«. Seit dem 23. Januar 2020 ist auch Combat 18 in Deutschland verboten.

Hinter dem Hermannstreffen, das im Dezember 2019 zum zweiten Mal stattfand und 2018 noch offiziell als »Flügelkongress« gelabelt wurde, steckte der Verein »Alternativer Kulturkongress Deutschland«, in dessen Vorstand etwa der Flügelist und Kreissprecher der AfD Paderborn Karl-Heinz Tegethoff sitzt. Traten 2018 Björn Höcke oder Gianluca Savoini von der italienischen Rechtsaußenpartei Lega auf, um über das »wahre Europa« zu referieren, so waren es ein Jahr später Flügelisten aus der zweiten Reihe wie Christian Blex, AfD-Landtagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen, und Dubravko Mandic, Freiburger AfD-Stadtrat. Sprechen sollten sie zum Thema »Deutsche Souveränität und deutsche Interessen«, die die Flügelisten offenbar bedroht sehen. Ihre Einschränkung der deutschen Souveränität gehe über die außenpolitische Dominanz »vor allem der USA« hinaus, heißt es in der Veranstaltungseinladung auf Facebook: »Bekanntlich stehen immer noch fremde Streitkräfte mitsamt deren Kernwaffen und Geheimdiensten auf unserem Boden.« Ein Staat, der sein eigenes Staatsvolk auflöse, löse sich langfristig selbst auf. Zweifel haben die Organisatoren auch an der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik: Kriminalität verfolge der Staat nicht mehr – »dafür aber Falschparker, GEZ-Nichtzahler und jeden, der auch nur einen Cent Steuern einbehält«. Umso härter würden »im Gegenzug wie selbstverständlich Andersdenkende und Dissidenten verfolgt«.

Kein Ende in Sicht

Eigene Stiftungen, Spenden, Feste – der Flügel war gut organisiert und strukturiert. Auch wenn Ende April 2020 die Website, die Facebook-Seite und der Youtube-Kanal des Flügels abgeschaltet wurden, bedeutet das nicht das Ende. Genau das äußerte Höcke selbst in dem Interview, das er im März 2020 mit Götz Kubitschek führte. In dem Gespräch prognostizierte Höcke: »Unsere Arbeit weist über den Flügel hinaus, Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen ›Flügler‹ werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen.« Da für Höcke und Co. nur der Flügel im Sinne der AfD agierte, da nur er eine echte Alternative bot, sind seine Worte nicht als Friedensangebot, sondern als Kampfansage zu deuten.

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