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KAPITEL 4 Not zwingt uns, Ideen zu entwickeln

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Brüllt ein Mann, ist er dynamisch.

Brüllt eine Frau, ist sie hysterisch.

Hildegard Knef, deutsche Schauspielerin

Wenn ich an den Wochenenden nicht gerade bei Mumi war, fuhr ich ab und an zu meinen Eltern nach Hause. Auch mein Bruder kam dann aus seinem strengen Jungeninternat. Trotz meiner guten schulischen Leistungen blieb er der Kronprinz, unabhängig von seinen Leistungen oder Nichtleistungen. Als Kind dachte ich, dass das in jeder Familie so sei. Es liegt einfach daran, dass ich kein Sohn bin. Ich gehöre zu einer anderen Klasse. In den Augen meiner Eltern gab es nach meinem Gefühl Menschen erster, zweiter und dritter Klasse – und mein Bruder war wohl erste Klasse.

Bei den zahlreichen Verwandtenbesuchen an solchen Wochenenden lief häufig das gleiche Spiel ab: Verwandte und Freunde meiner Eltern steuerten geradewegs auf meinen wunderhübschen Bruder zu mit den Worten: „Was hast du denn für wunderschöne Augen? Ach, was bist du für ein wunderbarer Bub!“

Ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich offensichtlich sehr hässlich sein musste. Bei mir hieß es meist: „Wie siehst du denn schon wieder aus? Schade, dass du keine Haare hast. Na ja, aus dir wird nie etwas!“

Dieses Spiel konnte meine Mumi des Öfteren beobachten. Bis sie offenbar genug davon hatte. Bei einem dieser Besuche kam sie zu mir. Ich hatte mich wieder einmal weinend in eine Ecke verkrochen. Sie sah mir in die Augen und sagte zu mir: „Eva-Maria, weißt du eigentlich, dass du Bernsteinaugen hast?“ Sie zwinkerte mir zu. Ich wischte mit der Hand über meine tränenverschmierten Augen. Ungläubig sah ich sie an.

„Das ist eine ganz seltene Farbe“, sagte Mumi und nickte geheimnisvoll. „Diese Augen findet man nur ganz selten auf dieser Welt. Außerdem bist du unwahrscheinlich intelligent, mehr als alle deine Klassenkameradinnen.“

„Echt?“, fragte ich und wischte mir über die Nase.

„Ja, aber das musst du natürlich für dich behalten. Es ist dein Geheimnis.“

Von diesem Moment an fühlte ich mich nicht mehr wie das kleine hässliche Entlein. Ich hatte nun ein Geheimnis: Bernsteinaugen und eine unwahrscheinliche Intelligenz. Mich tröstete der Gedanke, dass ich eines Tages einen Menschen finden würde, der erkannte, dass ich tatsächlich Bernsteinaugen habe.

Mich belasteten an den Wochenenden auch die ständigen Streitereien meiner Eltern sehr. Meine Mutter trank dann jedes Mal sehr viel. Ab und an, wenn sie angetrunken war, wurden unsere Gespräche jedoch auch persönlicher. Dann klagte sie mir ihr Leid darüber, wie mein Vater sie behandelte.

„Ich kann machen, was ich will: Er nimmt mich einfach nicht ernst“, erzählte sie. „Vor den Gästen sagt er zu mir: ‚Was redest du schon wieder für einen Blödsinn.‘ Das ist so demütigend, Eva-Maria. Ich bin für ihn ein Mensch zweiter Klasse.“

Meine Mutter tat mir bei diesen Gesprächen leid. Doch ich konnte ihr nur bedingt helfen. Obendrein stand es auch um meine seelische Verfassung nicht gut.

Liebe Mumi,

es ist halb sieben und ich bin nicht mit den Eltern zum Abendessen gegangen. Ich habe heute schon den ganzen Tag so viel gegessen. Mit Papa habe ich mich gestritten. Ich habe ihm offen ins Gesicht gesagt, dass ich die Anschuldigungen, die er gegenüber Mutti macht, unfair finde. Er hat natürlich das gekränkte, unschuldige Lamm gespielt. Er tut so, als hätte nur er Gefühle. Er hat mich gekränkt; ich habe ihn gekränkt. Nun sprechen wir nicht mehr miteinander. Ich habe nichts geändert – höchstens alles noch schlimmer gemacht. Ich weiß, es ist nicht sehr diplomatisch, aber ich bin so ein Mensch, der einfach die Wahrheit ins Gesicht sagt. Taktlos, rücksichtslos, so könnte man mich nennen. Aber ich musste es einmal sagen.

Irgendwie fühle ich mich einsam, so leer. Alles scheint mir so sinnlos. Warum lebe ich? Um zu lernen? Um mir den Kopf über alles Mögliche zu zerbrechen? Warum? Ich verstehe mich selber nicht. Warum solltest Du mich verstehen? Aber irgendwie fühle ich: Du verstehst mich, Du kennst mich. Das gibt mir unheimlichen Auftrieb.

Ich denke oft an Dich.

Deine Evemy

Meine Eltern waren, wie in Österreich üblich, katholisch. Ein katholisches Internat zu besuchen, war damals das Aushängeschild einer guten Erziehung. Man lernt vier Sprachen und wird Tag und Nacht beaufsichtigt. Anfangs im Internat hatte ich mich auch sehr für Religion interessiert. Bestimmt zwei Jahre lang glaubte ich, es sei sicherlich gut, was die Nonne mit uns machte und was sie glaubte. Das änderte sich, als ich merkte, dass Gott etwas Böses sein musste.

Eine wirkliche Beziehung zu Gott hatte ich nicht. Wenn überhaupt, dann standen mir katholische Heilige nahe oder Maria, die Mutter Gottes. In manchen Nächten faltete ich unter der Bettdecke die Hände und flehte Maria an. Meine Gebete waren häufig eine Art Tauschhandel. Bei der Putzkontrolle war ich meistens durchgefallen. Mein Schrank, so gewissenhaft ich ihn auch aufgeräumt hatte, war fast nie in Ordnung. Jedes Mal stand ich unter enormem Stress, wenn die Nonne anrückte. Dabei hatte ich mich wirklich angestrengt. Doch entweder war der Stapel Wäsche nicht gerade genug und die Pullover lagen nicht exakt aufeinander. Oder die Nonne entdeckte Staub. Irgendeinen Krümel fand sie immer.

Also verhandelte ich nachts mit Maria. Ich versprach ihr, ich würde jeden Tag einen Rosenkranz beten, wenn ich einmal bei der Schrankkontrolle ohne Beanstandung durchkam. Doch ich rasselte wieder durch. Im Laufe der Zeit probierte ich andere Gebete mit mehr und minder Erfolg. Auch mit dem Vaterunser versuchte ich es. Ich melde mich sogar freiwillig als Ministrantin. Nichts.

Die Sache mit Gott schloss ich endgültig ab, als mir die Nonne eröffnete: „Eva-Maria, du weißt, dass du in der Hölle landest.“ Sie stellte mich vor diese vollendete Tatsache, nachdem sie mich beim Quatschen mit einem Jungen erwischt hatte.

Die Internatsmauer war teilweise unterbrochen durch einen Holzzaun. Schräg gegenüber war ein Jungengymnasium. Natürlich gab es nichts Interessanteres, als sich über den Zaun mit dem anderen Geschlecht zu unterhalten. Ich war ein Teenager. Zudem hatten wir auch Wochenendausgang. Ich nutzte meinen Ausgehschein, den meine Großmutter unterschrieben hatte, und zog mit Claudia um die Häuser. Teilweise verbrachten wir die Wochenenden damit, in Diskotheken abzuhängen. Wir lernten Jungs kennen. Einer dieser Jungen ging in die Schule gegenüber: Alexander. Mein erster Freund. Meiner Mumi hätte er gut gefallen. Wohlhabende Familie, Anwalt, schöne Villa.

Die Nonne hatte mich gesehen, wie wir uns durch die Zaunlatten unterhielten. Später musste ich zu ihr zum Verhör.

Sie fragte mich, ob ich Kontakt aufgenommen hätte zu männlichen Wesen. Ich gab das relativ schnell zu. Die Meinung der Nonne über mich war mir längst egal. Doch ihre abfällige Bemerkung, Du weißt, dass du jetzt in der Hölle landest, beschäftigte mich sehr.

Ich glaubte nun, dass ich keine andere Wahl mehr hätte. Ich konnte mich für das Leben entscheiden, also weiter mit Alexander durch den Zaun reden, oder für Gott. Allerdings, den Worten der Nonne nach wartete nun auf mich die ewige Verdammnis. In Ordnung, dachte ich. Wenn ich ohnehin in der Hölle lande, dann muss ich jetzt alles tun, damit ich wenigstens auf Erden das Leben finde.

Claudia und ich beschlossen, alles, was verboten war, irgendwie zu erreichen. Das sahen wir als unsere einzige Chance, im Leben voranzukommen. All die untersagten Dinge nun zu tun, wie weiter mit Jungen sprechen, rauchen, trinken. Wir versorgten uns am Wochenende mit Marihuana, um uns für die Disco einzurauchen. Das half, für einen Moment unsere Probleme wegzublasen.

Liebe Mumi,

ich sitze im Zimmer und frage mich, wo mein Ehrgeiz geblieben ist. Wahrscheinlich ist er in der Müdigkeit versunken. Ich bin wie immer den ganzen Tag müde. Es ist so eine Art von Teufelskreis. Den ganzen Tag bin ich müde, in der Nacht kann ich nicht schlafen. Folglich habe ich zu wenig Schlaf. Daher bin ich wieder müde.

Heute muss ich am Abend unbedingt noch lernen, da ich übermorgen eine zweistündige Englisch-Schularbeit habe. Aber ich kann mich so schwer aufraffen. Das Internat geht mir schwer auf die Nerven. Ab sieben Uhr dürfen wir die Zimmer nicht mehr verlassen. Die Raucherecke haben sie uns auch gesperrt. Das Einzige, was sie damit erreichen, ist, dass wir alle im Klo rauchen. Wie in einem Gefängnis.

Ich bin sehr traurig. Traudl, mein früheres Kindermädchen, ist ermordet worden. Ich möchte Dir jetzt nichts Näheres darüber erzählen, besser später am Telefon. Ich bin noch zu verwirrt, um darüber zu schreiben.

Ich sitze also da und alles ist so leer. Ein Hauch von Bitterkeit und sonst nichts. Verbittert über mich, meine Unfähigkeit, meine Schwächen, meine Charakterschwächen, meinen Egoismus und über die anderen Menschen um mich herum. Da fällt mir ein Spruch von Karl Popper ein: „Im Namen der Toleranz sollten wir daher das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“

Überall Paradoxie und Konfusion. In mir besonders. Ich bin manchmal so kalt. Wenn ich weine, spüre ich, dass ich lebe. Meine Ideale und meine Illusionen können so leicht zerstört werden und vielleicht passen sie nicht mehr in die heutige Zeit. Vielleicht passe ich nicht mehr hierher? Aber das alles sind nur Ausflüchte. Milliarden Menschen passen, nur ich soll nicht passen? Was bin ich denn schon? Ein Steinchen im ganzen Menschensalat.

Ich ärgere mich immer so, dass ich manchmal glaube, ich bin so wichtig, meine Probleme sind so wichtig. In Wirklichkeit haben so viele andere Menschen viel größere Probleme. Steig einmal auf einen Turm und blicke hinab. Du siehst viele, viele Häuser. Überall wohnen Menschen mit ihren Problemen.Und jeder glaubt doch tatsächlich, seine Probleme sind die wichtigsten.

Evemy

Liebe Mumi,

ich habe Papa und Mutti einen Brief geschrieben. Ich habe die Zustände im Internat beschrieben. Vater hat gesagt, er wird versuchen, nächstes Jahr eine andere Lösung zu finden. Das kommende Jahr ist für mich ein Problem, über das ich täglich brüte. Ich muss einen Ausweg finden. Das habe ich Papa und Mama geschrieben.

Es ist Studierzeit, daher herrscht in diesem Haus der Aggressionen, der Depressionen und des Unfriedens zumindest äußerlich einmal Ruhe. Ruhe, um Dir zu schreiben. Weißt Du, was mir aufgefallen ist: Wenn wir uns sehen, denke ich nie an die vielen Fragen und Probleme, die ich eigentlich erzählen wollte. Denn in dem Moment sind sie plötzlich nicht mehr wichtig. Erst später, wenn ich allein in der U-Bahn oder im Zug sitze, fällt mir ein, was ich doch eigentlich alles erzählen wollte.

Unter all diesen vielen, vielen Menschen, die hier auf engstem Raum zusammengepfercht sind, finde ich niemanden, der auf meiner „Wellenlänge“ liegt. Der Fehler liegt sicherlich bei mir. Ich bin mir darüber ganz im Klaren, da ich immer oder meistens das Absolute anstrebe. Einen Menschen, den es hier nicht geben kann. Unter diesen Umständen schaltet sich bei mir ein Abwehrmechanismus ein, der das Leben leichter macht. Aber der leichteste Weg ist nicht immer der beste.

Ich gebe mich hier ganz anders, als ich wirklich bin. Ich gerate manchmal sogar unter den Einfluss dieser Menschen und dann bin ich so wie sie. Zwar nur für eine kurze Zeit, da mich dann andere Menschen, so wie Du, wieder aus diesem Einflussbereich reißen: Aber sie genügt, um mir meine Schwächen zu zeigen. Die Schwäche, meine Prinzipien einfach umzustoßen, um in einer solchen Gruppe existieren zu können, in der ich ja leben muss.

Deine Evemy

Mein Überlebenslauf

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