Читать книгу Mami Classic 39 – Familienroman - Eva-Maria Horn - Страница 3

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Frau Ziegler starrte ihre Tochter verständnislos an. »Tränen, Marianne? Das begreife, wer kann. Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der geweint hat, wenn er den ersten Preis gewonnen hat.«

Marianne wischte zornig die Tränen fort. »Verstehst du das denn nicht, Mama? Ich will Geld verdienen, ich hoffte auf eine Stelle oder zum mindesten wollte ich den Geldbetrag gewinnen. Statt dessen habe ich einen Aufenthalt in einem Luxushotel gewonnen. Was soll ich denn da?«

Frau Zieglers ganze Liebe gehörte ihrer Tochter. Natürlich verstand sie Mariannes Ungeduld. Wie sehr glich Marianne doch ihrem verstorbenem Vater, der war ebenso ehrgeizig und zielbewußt gewesen.

»Das ist nun aber wirklich eine dumme Frage, meine Liebe. Was du in einem wunderschönen Hotel sollst? Dich erholen, natürlich, dich amüsieren, wie andere Mädchen es in deinem Alter auch tun.«

»Möchtest du mir sagen, wovon ich mich erholen soll?« Marianne verzog bitter ihren gut geschnittenen Mund. »Ich hänge seit zwei Monaten faul hier zu Hause herum und mäste mich von deinem Geld.«

Frau Ziegler lachte belustigt, dabei hätte sie ihre Tochter am liebsten in die Arme genommen und getröstet. Aber Mitleid war hier nicht am Platz.

»Wie eine gemästete Person siehst du leider nicht aus, du Dummes. Jetzt möchte ich dir einmal etwas sagen, Marianne, selbst auf die Gefahr hin, daß du deine Finger in die Ohren stopfst, wie du es früher getan hast, wenn ich dir eine Strafpredigt hielt.

Hast du nicht allen Grund, dankbar zu sein? Du hast dein Diplom als Auslandskorrespondentin in der Tasche. Du hast sogar mit Auszeichnung abgeschlossen. Der liebe Gott hat es sehr gut mit dir gemeint, du bist nicht nur bildhübsch, du bist auch gesund. Und als köstliches Bonbon gewinnst du auch noch den ersten Preis. Ist es nicht ein großes Glück, daß wir beide zusammen sind? Daß wir uns gut verstehen, daß wir miteinander lachen können? Ja, miteinander lachen ist sehr wichtig. Ist es nicht völlig egal, wer das Geld in die Haushaltskasse legt? Eines Tages wirst du viel mehr Geld verdienen, als ich in den letzten Jahren zur Verfügung hatte. Warum hast du nicht ein wenig Geduld, Marianne? Warum bist du nicht einfach nur dankbar und freust dich?«

»Das war wirklich eine lange Rede.« Marianne stand auf, beugte sich zu ihrer Mutter hinunter und küßte sie reuevoll auf die Wange.

»Natürlich hast du recht, Mama. Ich habe allen Grund, dankbar zu sein. Aber ich brenne so sehr darauf, endlich im Beruf zu sein. Außerdem habe ich dir schon viel zu lange auf der Tasche gelegen. Nein, jetzt mußt du mir einmal zuhören, jetzt spreche ich.

Seit einem halben Jahr schreibe ich Bewerbungen, ich bin schon damit angefangen, als ich noch längst nicht mein Examen hatte. Jeden Morgen renne ich zum Briefkasten, aber wenn ich schon Post habe, dann sind es nur Absagen.«

»Na und? Man hätte dir an der Uni nicht nur Sprachen in deinen Kopf pauken sollen, man hätte dir auch Geduld predigen müssen. Aber jetzt hör’ auf, dir selber leid zu tun. Ich finde es wunderbar, daß du Urlaub machen kannst. Zieh nicht solch ein Gesicht, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Ich bin als junges Mädchen und später einige Male mit deinem Vater in Hotels abgestiegen, die eindrucksvolle vier Sterne auf ihrer Karte hatten. Jetzt kannst du diesen Luxus genießen, dich 14 Tage verwöhnen lassen. Oh, Marianne, ich freue mich so für dich.«

»Mama, du kannst wirklich sehr unvernünftig sein. Was soll ich denn in einem so vornehmen Kasten? Ich habe gar nicht die Garderobe dafür.«

Frau Ziegler unterbrach ihre Tochter lebhaft. Ihre braunen Augen funkelten entrüstet. »Na und? Du hast vielleicht nicht die Kleider, die sündhaft viel Geld kosten, aber du bringst deinen

Charme, deine Schönheit mit. Du hast es gar nicht nötig, dich mit Schmuck und elegantem Zeug zu behängen. Es ist ein Jammer, daß ich es dir sagen muß, das sollten junge Männer übernehmen. Du hast Ausstrahlung, du hast das gewisse Etwas, das auch Menschen mit viel Geld nicht kaufen können. Man hat sie, oder man hat diese Gabe nicht. So, und jetzt werden wir uns mit deiner Garderobe befassen. Ich kann zwar nicht gut laufen, aber meine Hände gehorchen mir noch immer. Mit ein wenig Geschick werden wir aus deinen Kleidern schon gute Garderobe zaubern. Wie steht es eigentlich mit deinem Skifahren?«

Sie war aufgestanden und strich unternehmungslustig die weißen Haare aus der Stirn.

»Ich habe seit Jahren nicht mehr auf den Brettern gestanden und habe ganz sicher nicht die Absicht, es zu tun. Meinst du, ich will mir die Hand verstauchen oder das Bein brechen?«

Frau Ziegler stemmte ihre Fäuste in die Hüften, die kaum sichtbar waren, so schlank war sie.

»Wie komme ich nur an eine so depressive Tochter? Ich kenne dich überhaupt nicht wieder, Marianne.«

Das junge Mädchen hockte noch immer auf der Lehne des Biedermeiersessels.

»Mama, ich werde versuchen, aus dem Preis Geld zu machen, ich werde ihn verkaufen.«

»Das kannst du gar nicht«, Frau Ziegler krauste triumphierend ihre Nase. Marianne betrachtete ihre Mutter, und die Liebe krampfte ihr Herz zusammen, daß es schmerzte.

»Schwarz auf weiß steht es da, daß der Preis an deine Person gebunden und nicht übertragbar ist. So, jetzt komm, wir haben keine Zeit zu verschenken. In einer Woche um diese Zeit hast du dich schon so an das Luxusleben gewöhnt, daß du deine Augen nur noch auf reiche Männer gerichtet hast.«

»So etwas solltest du nicht einmal im Scherz sagen«, rügte sie ihre Mutter, »Männer interessieren mich überhaupt nicht, und reiche schon gar nicht. Ich will arbeiten, ich habe nicht studiert, um meine Zeit am Kochtopf zu verplempern. Mir kann jede Ehefrau nur leid tun, die ihre Tage mit Kindergeschrei verbringen muß, sie ertrinken ja in kleinlichem Kram, und abends müssen sie auch noch ihren Ehemann verwöhnen.«

Frau Ziegler lachte nur, schüttelte den Kopf und meinte amüsiert:

»Wenn dir der richtige Mann über den Weg läuft, mein Liebes, dann denkst du ganz anders. Ich jedenfalls bin gern Hausfrau und Mutter gewesen, und deinen Vater habe ich auch gern verwöhnt. Nein, jetzt reden wir nicht mehr, wir haben genug Unsinn gequatscht. Gehen wir zuerst an meinen Kleiderschrank, mal sehen, was wir aus meiner Garderobe für dich verwenden können.«

*

Sonja Zimmermann schlang zärtlich ihre Ärmchen um den Nacken ihres Vaters. Das kleine Mädchen war außer sich vor Glück.

»Papa, ich freue mich so. Ich freue mich ganz doll, ich glaube, ich platze vor lauter Freude.«

Leopold Zimmermann legte beide Hände um die Taille der Kleinen, hob sie hoch und hielt sie über seinem Kopf. Er lachte in ihr glückliches Gesicht hinein.

»Ich freue mich auch, Kerlchen, ich freue mich genauso doll wie du. Ich hatte in der letzten Zeit viel zu wenig Zeit für dich, mein Kleines. Aber du bist ja mein vernünftiges Mädchen, das genau weiß, wieviel Arbeit ich habe.«

Er stellte sie behutsam auf den Teppich zurück, strich zärtlich über die blonden Locken

seiner Kleinen, die sich trotz

vieler Mühe nicht bändigen ließen.

»Klar, weiß ich doch, Papi.« Die Kleine hielt die Hände ihres Vaters und hüpfte wie ein Gummiball. »Wenn Urgroßpapa euch die Fabrik nicht an den Hals gehängt hätte, wäre Großpapa Tierarzt geworden, weiß ich doch alles. Aber jetzt mußt du in dem ollen Fabrikgebäude sitzen und langweilige Maschinen pro-, ich weiß nicht mehr, wie das heißt. Aber du machst die Maschinen ja auch nicht selbst, du hast haufenweise Männer, die für dich arbeiten.«

Sie hielt mit ihrer Hopserei inne, legte den Kopf schief und krauste die hohe Kinderstirn.

»Sag’ mal, Papa, wie kommt das, daß die vielen Männer für dich arbeiten, aber sie wohnen längst nicht in einem so großen Haus wie wir? Der Karl sagt, das ist der Sohn von dem Mann, der immer den Hof fegt und einen Rappel kriegt, wenn wir auf dem Hof Rollschuh fahren, sie verdienen nicht mal so viel Geld, daß sie sich ein großes Auto kaufen können, und Häuser haben auch nur wenige. Aber sie tun doch die Arbeit, dann müßten sie doch viel mehr Geld haben als du.«

Er öffnete schon den Mund zu einer Antwort, aber mit einem verstohlenem Blick auf seine Uhr tippte er an Sonjas Nasenspitze.

»Zerbrich dir über diese Dinge, nicht dein hübsches Köpfchen, Sonja. Pack lieber deine Sachen, aber daß du mir nicht deinen ganzen Puppenstall mitnimmst, unser Auto hat auch nur einen Kofferraum.«

Sie gluckste vor Lachen, sie mochte es, wenn ihr Vater so lustig war, die Aussicht, ihn 14 Tage ganz für sich allein zu haben, jede Nacht neben ihm im Bett zu schlafen, machte sie quirlig vor lauter Glück.

»Meine Puppen wohnen nicht in einem Stall, sie wohnen in meinem Zimmer. In einem Stall wohnt mein Kaninchen Charly. Außerdem haben wir doch auf dem Rücksitz Platz genug, wenn wir mit dem Kofferraum nicht auskommen. Du bist es doch, Papa, der immer so viel Klamotten mitschleppt.«

»Und wo willst du sitzen, Fräulein Naseweis?«

»Neben dir natürlich«, trumpfte sie auf und reckte sich zu ihrer ganzen Größe, aber leider reichte sie ihrem Vater nur bis zum mittleren Knopf seiner Tweedjacke. Sie wollte und wollte nicht wachsen, es war Sonjas großer Kummer, dabei hatte sie schon alles mögliche versucht.

»Das kommt gar nicht in Frage. Kleine Mädchen sitzen auf dem Rücksitz.«

Das kleine Gesichtchen verzog sich voll Trotz. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich köstlich über sie amüsiert. Wenn seine kleine Tochter wütend war, wurde ihr Gesicht krebsrot. Die Augen, sonst von einem leuchtenden Blau wie ein Sommerhimmel, wurden schwarz, und die kecke Stupsnase reckte sich kriegerisch in den Himmel.

Sonja stampfte wütend mit dem Fuß auf, etwas, das ihr Vater nicht ausstehen konnte.

»Immer sagst du, ich bin noch zu klein. Das geht mir langsam auf den Wecker. Ich werde bald sechs Jahre. Das kannst du doch nicht vergessen haben.«

»Wie könnte ich. Wir haben ja erst vor einer Woche deinen Geburtstag gefeiert. Vor einer Woche also bist du fünf Jahre geworden, da ist es bis zu deinem nächsten Geburtstag noch ein weiter Weg. Du weißt doch, daß kleine Kinder nicht auf dem Beifahrersitz hocken dürfen. Das habe ich dir doch schon oft genug erzählt.«

»Ja, ja«, rief Sonja mürrisch. »Ich weiß Bescheid. Weil der Beifahrersitz gefährlich ist. Ich bin doch nicht blöde und vergesse alles.«

»Eine Ausdrucksweise hast du!« Er schüttelte den Kopf und fuhr mit allen zehn Fingern durch sein Haar, das leider an den Schläfen schon grau wurde. »Es wird wirklich höchste Zeit, daß sich jemand intensiv um dich kümmert.«

Sie lenkte ihn rasch von dem gefährlichen Thema ab. Bis vor einem halben Jahr hatte Sonja sich mit einem Kindermädchen herumärgern müssen. Ja, ein Kindermädchen! Kein Wunder, daß sie von ihren Freunden und Freundinnen gehänselt wurde. Aber schuld daran war Gott, das stand nun mal fest. Er hatte ihre Mutter sterben lassen. Was sollte denn ein Vater machen, der immer arbeiten mußte und keine Zeit hatte? Da kam eben das Kindermädchen, das soweit ja ganz nett gewesen war, aber eben früher, als sie noch kleiner war und ein Kindermädchen brauchte.

»Ich kümmere mich ganz gut allein um mich, Papa«, beruhigte sie ihn. »Außerdem ist ja auch Helene da, die kocht ja nicht den ganzen Tag, die kümmert sich mehr um mich, als ich haben will.«

Er mußte lachen, dabei war ihm gar nicht zum Lachen zumute. Er mußte seinem verwöhnten Töchterchen nämlich etwas beibringen, dabei fühlte er sich gar nicht wohl in seiner Haut.

»Du bist wirklich ein verwöhnter Fratz, Sonja. Hör einmal zu.« Er zog sie nahe an sich heran und stellte sie zwischen seine Knie. Er hatte auf ihrem Kindertisch Platz genommen, die Eisenbahn dabei achtlos zur Seite geschoben. Sonja sah es natürlich, aber sie sagte nichts, was ihr schwer genug fiel. Schließlich hatte sie sich endlos geplagt, vor den Schienen eine Stadt aufzubauen.

Dabei hätte sie ihren Vater wirklich gut gebrauchen können. Es war gar nicht leicht gewesen.

»Ist ja schon gut, Papa«, beruhigte sie ihn. »Setz’ ich mich eben hinten hin. Muß ich eben noch ein Jahr warten. Aber komm nur nicht auf die Idee, mich in den ollen Kindersitz zu stopfen.« Sie amüsierte sich offensichtlich über die Idee, ihre Augen funkelten vor Vergnügen, sie zog die Nase kraus, auf der ein Tintenfleck prangte. Die Zungespitze fuhr dabei über ihre Lippen. »Dann kommt eben meine Puppe Gerda auf den gefährlichen Sitz. Der passiert schon nichts, es gibt nämlich keinen Vater, der besser Auto fährt als du.«

»Kleine Schmeichelkatze.« Er hielt ihre Hände, umklammerte sie. Schmal und zerbrechlich fühlten sie sich an. Ein Strom von Zärtlichkeit für dieses kleine Geschöpf floß über sein Herz. Sie war für ihn das Kostbarste, das Wichtigste auf der Welt. Sie würde es auch dann noch sein, wenn aus Isabella Monstein Frau Zimmermann geworden war. Leopold hatte nicht für möglich gehalten, daß sich sein Herz noch einmal einer Frau zuwenden könnte. Er hatte geglaubt, daß es nach Margots Tod für ihn keine Liebe mehr gab. Arbeit und Verantwortung und die Fürsorge für seine Tochter würden sein Leben ausfüllen, damit hatte er sich abgefunden.

Ja, bis er Isabella traf. Es war, als hätte er einen Bazillus geschluckt, von einem Tag auf den anderen änderte sich sein Leben. Er liebte und wurde wiedergeliebt. Es war, als hätte ihm Isabella ein neues Leben eingehaucht.

Alles könnte wundervoll, vollkommen sein.

Aber da war dieses kleine, kapriziöse, verwöhnte Geschöpf, das Isabella deutlich ihre Ablehnung zeigte. Es war schrecklich, aber Sonja ließ sich weder durch Geschenke noch durch Aufmerksamkeit von ihrer Ablehnung abbringen. Sie mochte die Freundin ihres Vaters nicht. Basta.

Wieviel Mühe hatte Leopold sich schon gegeben, sein Töchterchen umzustimmen.

»Sie hat schreckliche Augen«, hatte Sonja ihm einmal weinend erklärt. »Hinter den Augen sitzt Böses, ganz bestimmt, Papa, du siehst es nur nicht.«

»Warum guckst du mich so an, Papa?« Sie atmete tief, wie immer, wenn sie ängstlich wurde. »Ich hab’ doch nichts gemacht.« Von der Vase, die sie am Morgen zerbrochen hatte, konnte er unmöglich wissen, Helene hatte doch versprochen, es ihm nicht zu sagen. »Ist mein Gesicht schon wieder dreckig? Ich hab’ mich heute morgen gründlich geduscht, das kannst du glauben. Aber eben hab’ ich mit Tinte geschrieben. Nicht richtig geschrieben, nur die Buchstaben aus meinem Bilderbuch habe ich gemalt.«

»Ich muß dir etwas sagen, Liebes. Ich will, daß du mir jetzt zuhörst. Du weißt, wie lieb ich dich habe.«

»Aber das weiß ich doch, Papa.« Sie zappelte an seinen Händen, sie spürte genau, daß etwas auf sie zukam, das ihr Glück wie eine Seifenblase platzen ließ. Sie wollte nichts hören.

»Ich sollte jetzt anfangen, meine Sachen zu packen, Papa. Ich will doch nicht, daß Helene alles machen muß. Die hat doch Arbeit genug.«

»Manchmal kannst du wirklich vernünftig sein, Kleines. Ich hoffe, du bist es auch jetzt. Wir beide werden nicht allein fahren. Auf dem Beifahrersitz kann also deine Puppe nicht Platz nehmen, da wird Isabella sitzen.«

Es war schrecklich, wie das eben noch so glückliche Kindergesicht sich veränderte. Sogar das Blut schien daraus gewichen zu sein. Kalkweiß war sie, die Augen starrten ihn entsetzt an, als wäre er im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Sie öffnete den Mund, schloß ihn wieder.

Mit einer fremden, verzweifelten Stimme stammelte sie dann: »Das kannst du doch nicht tun, Papa Das darfst du nicht! Ich will mit dir allein fahren. Das hast du mir versprochen.«

»Sonja. Warum machst du es mir nur so schwer? Isabella liebt dich, sie mag dich.«

»Gar nicht wahr. Sie mag dich. Zu mir ist sie nur nett, weil ich deine Tochter bin. Du willst das nur nicht begreifen. Sie mag Kinder überhaupt nicht, das spürt man doch. Und mich schon gar nicht. Ich bin ihr viel zu wild. Du siehst das einfach nicht, wie sie die Augenbrauen hebt oder die Augen verdreht, wenn ich Blödsinn mache oder zu laut bin. Das siehst du einfach nicht.«

»Du bist eifersüchtig.« Er begann, die Geduld zu verlieren. »Du bist ein egoistisches Kind, du willst mich für dich allein haben, du hast Angst, mich teilen zu müssen. Alles Quatsch. Ich stelle es mir herrlich vor, wenn wir wieder eine richtige Familie sind. Vater, Mutter, Kind. Vielleicht bekommst du dann sogar ein Brüderchen, das wünschst du dir doch so.

Sonja, bitte, sieh mich nicht so an. Ich freue mich so auf die Ferien. Wir wohnen in einem tollen Hotel, mit Schwimmbad natürlich. Dort werden viele Kinder sein. Du bekommst ein Zimmer direkt neben meinem Zimmer.«

Er schwieg. Sie sah ihn an, als wäre sie plötzlich erwachsen geworden. Ein Kribbeln lief über seinen Rücken, und er fühlte sich so unbehaglich, als wäre er wieder ein Kind, das etwas ausgefressen hatte.

»Glaub’ mir doch.« Er hörte selbst, wie lahm seine Stimme klang. »Wir drei werden viel Spaß miteinander haben.«

»Du vielleicht. Ich nicht. Wenn du willst, kannst du mit ihr allein fahren. Ich bleibe gern bei Helene. Dann brauchst du mir auch keine Ski zu kaufen und Schuhe auch nicht. Ich will gar nicht verreisen…« Sie war schon an der Tür. Er hörte die Tränen in ihrer Stimme. »Wenn sie mitfährt.«

Sie öffnete die Tür, schloß sie. Sie knallte sie nicht etwa zu, wie sie es tat, wenn sie wütend war.

Sie ging so leise davon, als wäre sie ein wohlerzogenes kleines Mädchen, an dem jeder seine Freude hatte.

*

Die Fahrt war herrlich gewesen. Wie ein Bilderbuch war die verschneite Landschaft vorbeigeflogen. In Mariannes Bewunderung hatte sich auch Dankbarkeit gemischt. Ja, man mußte doch dankbar sein, wenn man so Wunderbares sehen durfte.

Aber jetzt, als sie in der Hotelhalle stand, kam die Unsicherheit zurück, ihr Herz klopfte, als wollte es ihre Brust sprengen. Marianne war wütend auf sich selbst, aber das half nichts. Sie hatte einfach das lähmende Gefühl, nicht hierherzugehören.

Verstohlen sah sie sich um. Die Hotelhalle mit ihrer kunstvoll getäfelten Decke, den bequemen Sesseln auf kostbaren Teppichen vermittelte trotz der Eleganz Gemütlichkeit. Im blaugekachelten Kamin brannte ein lustiges Feuer und verströmte Wärme und Behagen.

Der Page, der sie und andere Gäste schon am Bahnhof in Empfang genommen hatte, stellte ihren Koffer neben sie. Marianne reichte ihm ein Trinkgeld. An seinem strahlenden Gesicht sah sie, daß es vermutlich zu reichlich ausgefallen war.

Um ihre Unsicherheit zu verbergen, studierte Marianne ein Plakat, das zwischen alten Stichen hing, dabei sah sie verstohlen zur Rezeption hinüber. Die Gäste, die mit ihr angekommen waren, hatten endlich ihre Schlüssel in Empfang genommen und wurden vom Pagen zum Aufzug geführt.

Nur noch eine junge Dame stand an der Rezeption und studierte den Ständer mit den Ansichtskarten. Es war eine sehr elegante, sehr auffällig gekleidete junge Dame, die schon jetzt, am frühen Nachmittag, mit Schmuck behängt war.

Vornehm war diese Dame in Mariannes Augen nicht. Einen Moment dachte sie an ihre Mutter, die ganz sicher mit ihr einer Meinung gewesen wäre.

Aber was ging sie diese Dame an? Sie sah, daß der Portier zu ihr hinüberblickte, er räusperte sich sogar. Marianne gab sich einen energischen Ruck.

So selbstbewußt, wie sie sich keineswegs fühlte, ging sie zur Rezeption und lächelte zurückhaltend.

»Guten Tag, gnädige Frau.« Der alte Herr musterte sie wohlwollend. »Ich hoffe, Sie haben ein Zimmer bestellt, wir sind nämlich völlig ausgebucht.«

Sie spürte, daß die rothaarige Dame zu ihnen herübersah. »Doch, wir sprachen noch gestern am Telefon miteinander, Herr Kaiser. Ich bin Marianne Ziegler. Und mit einem Anflug von Trotz fügte sie hinzu: »Ich habe im Preisausschreiben gewonnen.«

»Aber natürlich erinnere ich mich. Herzlich willkommen im Martinshof. Wir haben Sie schon erwartet.«

Warum Marianne zur Seite blickte, hätte sie nicht zu sagen gewußt, aber sie spürte die Augen der anderen. Und sie sah genau das spöttische Lächeln, das um den Mund der Schönen lief.

»Hatten Sie eine angenehme Reise, gnädige Frau?«

Der Mann spürte offensichtlich Mariannes Unsicherheit, und vermutlich hatte auch er den Blick von Isabella Monstein gesehen. Marianne lächelte dankbar, die genossene Freude stand sogar in ihren Augen.

»Die Fahrt war wunderbar. Ich war sehr froh, als es endlich Morgen war und ich die Landschaft bewundern konnte.«

»Ich nehme diese beiden Karten«, unterbrach eine Stimme ihre Unterhaltung. Die Stimme war Marianne genauso unangenehm wie die ganze Person. Hoffentlich waren nicht alle Gäste so eingebildet wie diese Dame.

»Sehr wohl, gnädige Frau. Soll ich sie auf die Rechnung schreiben?«

»Auf die von Herrn Zimmermann natürlich.«

Ein hoheitsvolles Kopfnicken, und sie rauschte davon. Einen Moment sahen ihr beide nach.

Das Gesicht des Mannes blieb unbeweglich, er war viel zu gut erzogen, um seine Gedanken zu zeigen.

»Wir haben Ihnen ein sehr hübsches Zimmer reserviert, Frau Ziegler, es hat einen Südbalkon. Vom Eckfenster aus können Sie die ganze Piste übersehen.«

Es war gar nicht seine Art, von sich aus ein Gespräch mit einem Gast zu führen, aber etwas an diesem jungen Mädchen rührte ihn. Er wußte genau, daß er sie unter seine Fittiche nehmen würde.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

Marianne nickte dem Portier liebenswürdig zu, drehte sich um und wollte zum Fahrstuhl gehen, als etwas zwischen ihre Beine sauste. Um ein Haar wäre sie gestolpert.

Im gleichen Moment stürmte ein Blondkopf in die Halle, die Fernsteuerung des Autos in der Hand.

»Aber Sonja«, tadelte der Portier, »ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, du sollst das Auto nicht in der Halle fahren lassen.«

»Sie haben es schon tausendmal gesagt«, nickte das kleine Geschöpf und verzog das Gesicht reumütig. Aber die Reue war ebenso gespielt wie Kerrn Kaisers Ärger. »Aber die Halle ist so herrlich groß. Haben Sie sich erschrocken?«

Große blaue Augen beherrschten das kleine Gesicht. Wieso und warum sich dieses Geschöpf auf der Stelle in Mariannes Herz schlich, hätten wohl beide nicht zu sagen gewußt. Mit einem Satz war das Kind in Mariannes Herz hineingesprungen und hatte es sich darin bequem gemacht.

»Nur ein wenig«, beruhigte Marianne die Kleine und wußte wohl gar nicht, wie zärtlich ihr Lächeln war. »Aber vermutlich hat Herr Kaiser mit seiner Bitte recht. Das Auto könnte eine alte Dame leicht ins Stolpern bringen.«

Die Kleine nickte eifrig. »Einen alten Mann auch. Es gibt hier massenhaft alte Männer. Sie meckern aber nicht so viel wie die alten Frauen. Gestern hat sogar ein Mann, er heißt Baron, sich erklären lassen, wie das Auto funktioniert. Stell dir mal vor, das wußte der gar nicht.«

»Er heißt nicht Baron, er ist ein Baron, Sonja. Aber jetzt solltest du Fräulein Ziegler nicht aufhalten, sie wird müde von der Reise sein.«

Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht.

»Du wohnst hier? Das finde ich super, echt stark. Nicht, Herr Kaiser, das findest du doch auch? Soll ich dir beim Auspacken helfen, Fräulein Ziegler? Ich heiße Sonja, und wie heißt du?«

Befriedigt stellte Herr Kaiser fest, daß er sich nicht getäuscht hatte. Diese junge Dame hatte Herz.

»Ich heiße Marianne. Wenn du Lust hast, kannst du gern mit mir kommen, aber ich fürchte, es ist langweilig für dich.«

Das Kind bückte sich, hob das Auto hoch und klemmte es unter den Arm. Während eine Hand

die Fernsteuerung umklammerte, schob sie die andere Hand vertrauensvoll zwischen Mariannes Finger.

Unternehmungslustig erklärte sie: »Gehen wir, Marianne, ich find’ dich richtig nett. Wirklich. Da langweile ich mich doch nicht. Du mußt nämlich wissen, im Hotel sind nur zwei Kinder. Ich und noch ein Junge. Aber der ist ehrlich doof, das mußt du doch zugeben, Herr Kaiser. Der macht immer ein Gesicht, als könnte er nicht bis drei zählen, und immer hängt er am Rockzipfel seiner Mutter.«

»Du bist wirklich ein Fräulein Naseweis«, tadelte Herr Kaiser das Kind, aber Marianne sah genau, daß die Kleine ihn amüsierte. Und noch etwas konnte Marianne in seinen Augen lesen, nur hatte sie im Augenblick keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Kleine zog sie energisch zum Fahrstuhl hinüber, wo Franz schon in der geöffneten Tür auf sie wartete.

»Franz ist prima«, erzählte Sonja fröhlich. »Mit dem bin ich mal an einem Abend zum Eisplatz gegangen. Toll war das.«

Franz nickte grimmig. »Das machst du aber nicht noch mal mit mir, meine Liebe.« Er hob den Kopf, sein frisches Jungengesicht war voll Entrüstung. »Mir hat Sonja gesagt, daß ihr Vater mich bittet, mit Sonja bei Flutlicht Schittschuh zu fahren. Ich Dummkopf hab’ das natürlich geglaubt. Als wir ins Hotel zurückkamen, war Herr Zimmermann in heller Aufregung, weil seine Tochter nicht da war, wo sie sein sollte.«

»Nämlich im Bett«, lachte Sonja vergnügt. »Bist du immer noch sauer, Franz? Mensch, bist du aber nachtragend. In Zukunft brauche ich dich gar nicht mehr. Jetzt ist ja Marianne da.«

Der Fahrstuhl hielt, Franz sah den beiden kopfschüttelnd nach.

Sie gehörte zu den Kindern, denen jeder Wunsch erfüllt wurde. So lange er zurückdenken konnte, hatte Franz die reichen Kinder beneidet.

Aber jetzt dachte er an den Satz, den Herr Kaiser gemurmelt hatte, als Sonja in der Halle spielte: armes reiches Mädchen.

Nun, wenn er an die Rothaarige dachte, die ihre Mutter werden sollte, mochte das stimmen. Natürlich würde Franz es niemandem sagen, aber er hatte Angst vor dieser Frau, und er ging ihr tunlichst aus dem Weg.

*

»Das ist Annemarie.« Sonja zeigte auf das Stubenmädchen, das gerade Mariannes Koffer auf den Schrank hob. »Sie hat zu Hause noch sieben Geschwister. Kannst du dir das vorstellen, Marianne?«

Die lachte. »Sehr gut sogar. Es muß herrlich sein, so viele Geschwister zu haben. Ich danke Ihnen, Fräulein Annemarie, daß Sie mir die Arbeit abgenommen haben.«

Diese Freundlichkeit war echt, das spürte Annemarie natürlich auch. »Bitte sagen Sie Annemarie zu mir. Das Auspacken der Koffer gehört zu meinen Aufgaben. Wenn Sie einen Wunsch haben, wenn etwas aufgebügelt werden soll oder etwas zur Reinigung gebracht werden muß, dann sagen Sie es mir bitte.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Auch Annemarie bekam Trinkgeld, viel mehr, als Marianne sich eigentlich leisten konnte. In Zukunft muß ich etwas sparsamer sein, dachte Marianne, während sie sich im Zimmer umsah.

»Schön«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. In diesem Augenblick nahm Marianne sich ganz fest vor, den Aufenthalt hier zu genießen. Jede Stunde, jeden Tag. Sie wollte nicht daran denken, daß sie noch immer keine Stelle hatte, sie wollte die Zeit nur einfach bewußt genießen.

Ja, und noch etwas nahm sie sich vor. Sie hatte gar keinen Grund, unsicher oder verlegen zu sein. Schließlich und endlich hatten ihre Eltern sich mit ihrer Erziehung genug Mühe gegeben, es würde ihr keine Schwierigkeiten machen, sich in diesem Rahmen zu bewegen. Und wenn die anderen Gäste reicher und vornehmer waren als sie, hatte das mit ihr selbst nichts zu tun.

Ich bin ich.

»Warum siehst du so… so

energisch aus, Marianne?«

Die Kleine musterte sie ängstlich. »Ich hab’ mal so ein Gesicht gemacht, als ich mir selbst eine Ohrfeige gegeben habe.«

Marianne lachte hellauf. »Wie hast du denn dein Gesicht sehen können?« Sie kniete auf dem Boden, damit sie mit den Augen des Kindes auf einer Höhe war.

»Im Spiegel natürlich.«

»Du kannst aber gut beobachten, Sonja. Vor dir muß man sich in acht nehmen.«

»Du willst mich auf den Arm nehmen, aber bei dir stört mich das nicht. Eigentlich kann ich das nämlich überhaupt nicht leiden, wenn man über mich lacht.«

Marianne strich der Kleinen eine Locke aus der Stirn. Sehr lieb sagte sie: »Ich würde nie über ein Kind lachen, Sonja. Das ist sehr häßlich. Ich lache gern mit einem anderen, aber nicht über ihn.«

Die Kleine rückte an sie, daß Marianne beinahe den Halt verlor, so ungestüm geschah es.

»Es macht mich wütend, ja, verrückt, wenn Isabella über mich lacht. ›Oh, diese Kleine‹, sie legte den Kopf zur Seite und ahmte die Stimme nach, ›du bist wirklich ein unmögliches Kind.‹ Aber wenn mein Vater dabei ist, dann ist sie ganz anders. Dann ist sie… noch widerlicher. Dann spricht sie mit so einer süßen Stimme, seufzt, daß ich ihre Zärtlichkeit nicht erwidere. Weißt du, was sie meinem Vater ins Ohr tutet, daß sie sich mit mir so schrecklich viel Mühe gibt. Dabei lügt sie wie gedruckt. Wenn Papa nicht da ist, kümmert sie sich überhaupt nicht um mich. Zum Glück nicht.«

Das eben noch so glückliche Gesichtchen war kummervoll verzogen, und die Augen sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick überlaufen. Marianne wurde es sehr unbehaglich zumute.

Sie strich noch einmal über das kleine Gesichtchen und lächelte mit all der Zärtlichkeit, die sie für das fremde Wesen spürte. Dabei hatte Marianne bis jetzt gar nicht gewußt, daß sie sich etwas aus Kindern machte.

»Manchmal versteht man als Kind die Erwachsenen nicht«, murmelte sie unbehaglich.

»Aber die Erwachsenen die Kinder auch nicht«, trompetete Sonja und hatte ihre Traurigkeit offensichtlich schon wieder vergessen. Sie zog Marianne zum Fenster.

»Von meinem Fenster gucke ich auch auf den Hang. Das ist zum Totlachen, wenn einige den Hang runterpurzeln. Und erst wenn du die Skischulen beobachtest, dann kommst du aus dem Lachen überhaupt nicht heraus. Guck mal, guck mal, da kommt mein Vater. Den erkenne ich unter Millionen. Der da, der den gelben Anorak trägt. Fährt der nicht doll? Wenn ich groß bin, will ich auch so fahren können. Dann fahren wir immer zusammen, er und ich. Aber nur über schwarze Pisten. Die fährt er nämlich am liebsten, sagt er.«

Es war ein hochgewachsener Mann, der den Hang hinunterwedelte, als wäre er aus einem Lehrbuch gehüpft.

Sonja stürzte zur Tür und riß sie auf.

»Ich muß sausen, Marianne. Ich will eher bei Papi sein als sie. Ich muß ihm doch erzählen, daß endlich ein nettes Mädchen im Hotel wohnt.«

Fort war sie. Marianne sah noch einmal hinaus und suchte mit den Augen den Mann. Er löste sich aus dem Gewirr der Skifahrer, mit dem Stock drückte er auf die Bindung und löste die Ski. Er war schneller als die anderen, und doch wirkten seine Bewegungen nicht hastig. Jetzt schulterte er die Bretter und ging mit großen Schritten über die Straße. Und entschwand ihrem Blick.

*

Herr Kaiser nahm einem Gast den Schlüssel ab, lächelte verbindlich und betrachtete gleichzeitig sehr zufrieden das junge Mädchen, das leichtfüßig die Treppe hinunterkam.

Mariannes Natürlichkeit war wohltuend und stach sehr von dem Benehmen einiger Damen ab. Sie lächelte ihm zu, keineswegs vertraulich und auch nicht distanziert, und er gab das Lächeln in der gleichen Weise zurück.

Natürlich hatte Marianne ein wenig Herzklopfen. Es fiel ihr immer schwer, einen Saal zu betreten, wenn sie allein war. Sogar in der Mensa hatte sie Herzklopfen gehabt.

Daß es gerade ihre mädchenhafte Schüchternheit war, die so anziehend wirkte, wußte Marianne natürlich nicht. Sie wäre auch keineswegs glücklich darüber gewesen, wollte sie doch so gern kühl und selbstbewußt wirken.

Starrten nicht alle Gäste sie an? War nicht sogar das Stimmengewirr leiser geworden?

Sie war erleichtert, als ein befrackter Kellner sie bemerkte und sofort auf sie zukam.

»Zimmer 14, Fräulein Ziegler«, lächelte er mit einer leichten Verbeugung und brachte sie zu ihrem Tisch.

Es war ein kleiner Tisch, der nahe am Fenster stand, eine hochgewachsene Palme verdeckte sie sogar ein wenig vor allzu neugierigen Blicken. Erleichtert ließ Marianne sich auf den Stuhl fallen, den der Kellner ihr zurechtrückte.

Er reichte ihr die Speisekarte. »Möchten Sie etwas trinken?«

Ob er ihre Unsicherheit bemerkte? Er beriet sie mit distanzierter Freundlichkeit, und als sie einen Blick in die reichhaltige Speisekarte warf, bat er:

»Darf ich Sie beraten, gnädiges Fräulein? Der Rehrücken mit Preißelbeeren, Birnen und Spätzle ist heuer ausgezeichnet.«

Sie nickte dankbar. »Ja. Das nehme ich.«

Entspannt lehnte sie sich zurück und warf einen Blick durch das Fenster auf die hellerleuchtete Terrasse. Sie wünschte sich einen Augenblick verzweifelt einen Menschen, der ihr gegenübersaß und die Schönheit mit ihr teilte. Dort draußen war eine geheimnisvolle, märchenhaft schöne Winterwelt. Das Licht der altmodischen Laternen glitzerte auf dem Schnee, die hohen Bäume warfen Schatten darauf, die aussahen wie Riesen. Sterne glitzerten und wetteiferten mit dem Flimmern und Blitzen auf dem Schnee.

»Da sitzt sie, Papa, da sitzt Marianne. Komm, ich muß sie dir unbedingt zeigen.«

Bei der hellen Kinderstimme zuckte Marianne zusammen und merkte zu ihrem Ärger, daß sie brandrot wurde, spürte sie doch genau die neugierigen, amüsierten Blicke der Gäste.

Sonja umklammerte die Hand eines hochgewachsenen Mannes, der einen eleganten, dunklen Anzug trug. Aber ihn sah Marianne nur verschwommen, so verlegen war sie.

»Das ist Marianne.«

Sonja baute sich vor Mariannes Tisch auf und strahlte über das ganze Gesicht. Die Hand ihres Vaters hielt sie noch immer.

»Aber du sprachst von einem Mädchen, Sonja.« Sie spürte die Augen des Mannes und hob den Kopf. Sonja hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Das markante Gesicht wirkte trotz der grauen Schläfen sehr jung, er war braungebrannt und sah aus wie ein Mann, der sich den ganzen Tag im Freien aufhielt.

»Sie ist doch ein Mädchen«, rief Sonja entrüstet. »Was denkst du denn, Papi? Hast du denn keine Augen im Kopf?«

»Sei nicht so vorlaut und nicht so laut«, wies er seine Tochter zurecht, aber er lacht dabei, daß seine weißen Zähne nur so blitzten. Der Mann konnte in jedem Modemagazin Reklame machen. Für Männer hatte Marianne wenig übrig und für schöne Männer schon gar nichts.

»Sie spach immer von einem Mädchen, den ganzen Abend hat sie mir damit in den Ohren gelegen.« Er amüsierte sich offensichtlich und musterte sie ungeniert. »Ich habe natürlich ein Kind erwartet und freute mich schon für Sonja. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.«

»Das brauchst du auch nicht, Papi. Ist doch klar, daß du mein Vater bist und auch Zimmermann heißt, genau wie ich. Das ist doch super, daß Marianne kein Kind ist, verstehst du das denn nicht? Jetzt kann ich auch mal abends aufbleiben, und tagsüber brauchst du dich auch nicht mehr um mich zu kümmern.«

»Wollt ihr nicht endlich zu Tisch kommen?« ließ sich eine tadelnde Stimme vernehmen. Sonjas Kopf fuhr herum und das Gesicht verzog sich erschreckend. Offensichtlich hatte sie einen Augenblick die Freundin ihres Vaters vergessen.

»Ach, da ist ja das junge Fräulein, das im Preisausschreiben gewonnen hat.« Die Stimme mußte im ganzen Saal zu hören sein. Marianne hätte sich ohrfeigen mögen, als sie spürte, daß die Röte von ihrem Hals aufstieg und über ihr Gesicht glitt.

»Wenn du Glück hast, Sonja, hat das Fräulein vielleicht Lust, sich ein wenig Geld zu verdienen und willigt ein, dich zu beaufsichtigen.« Mit einem Lachen fügte sie hinzu: »Wenn sie auch nicht immer darum zu beneiden ist.«

Mami Classic 39 – Familienroman

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