Читать книгу Nie am Ziel. Helmuth Lohner - Eva Maria Klinger - Страница 8
Das Spiel beginnt
1933 bis 1965
ОглавлениеÜberschattet vom Zweiten Weltkrieg verläuft seine Kindheit. Im fatalen Jahr 1933 geboren, wächst Helmuth Lohner in den grauen Hinterhöfen des Arbeiterbezirkes Wien-Ottakring auf. Die Volksschule in der Wiesberggasse und die Hauptschule in der Lorenz-Mandl-Gasse kann nur unregelmäßig besucht werden. Ein Schock, als ein amerikanisches Kriegsflugzeug über ihm und seinen mit ihm im Liebhartstal streunenden Freunden abgeschossen wird. Todesangst. Einen Luftschutzkeller wollen sie trotzdem nicht aufsuchen.
Nach Kriegsende spielen die Kinder auf den Schutthalden der zerbombten Häuser und im Staub der Straßen um den Stillfriedplatz. Armut. Lebensmittelrationierung. Er stiehlt von der russischen Besatzung ein paar Zigaretten, die die Mutter für einen Laib Brot und ein Ei eintauschen kann. Er entwendet Handgranaten, die er mit seinen Freunden im Donaukanal ins Wasser wirft, damit sie nach der Explosion ein paar tote Fische fangen können.
Einmal kann die Mutter mit großer Mühe ein paar Groschen erübrigen, um dem Sohn Butter auf das trockene Brot zu streichen. Er legt das Butterbrot einem ebenfalls hungernden Freund in den Briefkasten. Als die Mutter draufkommt, schlägt sie ihren Sohn.
Der erste Kuss in der Kälte. Ein Mädchen küsst ihn überfallsartig, wild, intensiv, der 15-Jährige will sich aus der Umklammerung lösen, aber sie flüstert: »Bleib noch ein bissl.«
Der Vater war Mechaniker, er musste sich in der Wirtschaftskrise der 1920er- und 1930er-Jahre mal als Schlosser, mal als Schuster durchschlagen. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrt er, von Krankheit gezeichnet, nach langer Kriegsgefangenschaft heim und stirbt 1957 an den Folgen.
Die Mutter, eine einfache, tatkräftige Frau, bringt den Sohn als Arbeiterin in einer Zuckerfabrik durch, heiratet ein zweites Mal. Helmuth absolviert eine Lehre als Grafiker, holt die Matura in einer Arbeiter-Bildungsinstitution nach. Er besitzt drei Reclam-Hefte, eines davon, Goethes Faust, kann er mit 16 Jahren auswendig. Er nimmt nebenbei privaten Schauspielunterricht bei Zdenko Kestranek. Ein paar Monate nur. Er ist ein Naturtalent.
»Ich glaube, er war von Anfang an Schauspieler, so wie ich, das hat uns verbunden«, sagt Otto Schenk. »Noch bevor man es weiß, dass man es ist, ist man schon Schauspieler. Wir sind auch beide vom Opernliebhaber zum Theaterliebhaber geworden. Er hat Mozart geliebt und ich Wagner. Ich hab Mozart ganz gern, ich lasse ihn mir gefallen, aber Wagner ist für mich der große Mann. Bei Verdi haben wir uns getroffen. Aber wenn er mir manchmal von Mozart so vorgeschwärmt hat, war ich plötzlich für kurze Zeit auch Mozartfan.«
Früh wurde Lohners außerordentliches Talent erkannt. Eine Saison singt und tanzt er im Chor des Stadttheaters Baden bei Wien für 380 Schilling Monatsgage. Die Mutter weiß nichts davon. Er leidet immer noch Hunger. Danach spielt er 14 Rollen in einer Saison als Operettensänger und jugendlicher Held im Stadttheater Klagenfurt. Den Faust-Text braucht er vorerst nicht.
»Meine Anfänge als Schauspieler, Chorsänger, Tänzer, Operettenbuffo sind zwar skurril und eventuell lustig, allerdings erst im Nachhinein. Wir hatten alle zwei Wochen eine Premiere, mussten überall mitspielen, allerdings der Gehaltssprung von Baden nach Klagenfurt war so hoch wie nie mehr in meinem Leben. Die Gage hat sich verdreifacht!«, erzählte Lohner später launig. Allerdings war auch die höhere Gage sehr wenig Geld. »Ich weiß nicht, wie ich mit 1100 Schilling ausgekommen bin, aber ich habe nicht mehr Hunger gelitten.«
Er ist erst 19 Jahre alt und wird sofort in der lokalen Presse wahrgenommen, als »talentiert« und »angenehm auffallend« beschrieben. Von einem Einakter-Abend mit Tschechows Heiratsantrag liest man in der Klagenfurter Volkszeitung: »Der hochbegabte Lohner ist ein von seinem Recht besessener, in allen nervösen Zuckungen, fahrigen Grimassen und originellen Nuancen unübertrefflicher und urkomischer Lomow.«
Und in Gogols Komödie Der Revisor bekommt er die Hauptrolle, den leichtsinnigen, charmanten Hochstapler Chlestakow: »Helmut Lohner spielt ihn mit jugendlicher Unbekümmertheit. Charmant und auch ein bisserl ›langhaxet‹ in der Bewegung, fürchtete er die Obrigkeit, gewann aber dann Oberwasser und behauptete in anmutiger Unverfrorenheit den angemaßten Grad in doppeltem Sinne. Er bestach auch, wenn er bestochen wurde, und stand sogar noch in der Übertreibung der Liebeserklärung immer in und nicht außerhalb der Komödie.« (Klagenfurter Volkszeitung).
Der Klagenfurter Intendant Theo Knapp hatte offenbar einen untrüglichen Blick für herausragende junge, noch völlig unbekannte Talente, denn der Nachfolger von Helmuth Lohner als jugendlicher Bonvivant wurde der um drei Jahre ältere Peter Weck. 25 Jahre später haben die beiden dann nicht hintereinander, sondern miteinander gespielt, als die Schnitzler-Herren Anatol und Max, mit Christiane Hörbiger als Gabriele in den Weihnachtseinkäufen, 1977 im Corso, das damals als Ausweichquartier des im Umbau befindlichen Zürcher Schauspielhauses diente. Und 1980 bei den Wiener Festwochen waren sie, bis heute unübertroffen in ihren Rollen, Optimist und Nörgler in der ebenfalls unübertroffenen Inszenierung Hans Hollmanns von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit im Wiener Konzerthaus. Unnötig zu erwähnen, wem welche Rolle zufiel. Peter Weck war längst festgelegt als unwiderstehlicher Sonnyboy und Helmuth Lohner als tiefschürfender Zweifler und komödiantischer Verzweifler.
Vor dem letzten Zusammenspiel, der Reminiszenz an Max und Anatol als alte Herren, im Theater in der Josefstadt für Dezember 2015 geplant, trat der Tod dazwischen.
Sofort nach Ende der Klagenfurter Saison, am 25. Juli 1953, hat Lohner bereits die erste Premiere im Theater in der Josefstadt. »Es war wie ein päpstlicher Segen, wie ein Wunder, als mir der damalige Josefstadt-Direktor Rudolf Steinboeck mitteilte, er will mich an die Josefstadt engagieren«, erzählte mir Helmuth Lohner bei einem unserer vielen Gespräche. »Das Stück hieß Südfrüchte, der zweite Debütant war der Qualtinger.« Der andere Helmut, ohne h am Ende. Die Schreibweise »Helmuth« hat sich bei Lohner erst in den 1970er-Jahren etabliert, bis dahin war auch sein Vorname »h«-los.
Südfrüchte, Theater in der Josefstadt, 1953 (André Birabeau) mit Peter Czeike, Hilde Jaeger, Christl Erber
Die anderen, später berühmten »Jungen« an diesem Theater waren Senta Berger, Nicole Heesters, Michael Heltau, Erni Mangold, Otto Schenk. Lohner wusste noch Jahrzehnte später alle Details, Stücktitel und Besetzung. Ganze Monologe, sofern sie von Shakespeare oder zumindest Nestroy stammen, konnte er lebenslang auswendig. Er hatte beim Textlernen ein fotografisches Gedächtnis.
»Die Thimig, die Degischer, die Almassy haben uns unter ihre Fittiche genommen, waren hilfreich und kollegial. Sogar die für ihre spitze Zunge verschriene Adrienne Gessner hat uns wie Kinder behandelt. An der Josefstadt war alles ganz anders als in dem Dreispartentheater in Klagenfurt. Es waren ganz andere, großartige Schauspieler, und ich war von der Ernsthaftigkeit, mit der hier vier Wochen lang geprobt wurde, überrascht.«
Er kam immer noch auf acht Rollen pro Saison.
In der Josefstadt spielte man in den 1950er-Jahren die Stücke in der vom Autor gemeinten Zeit, man öffnete peu à peu den Spielplan für französische und englische Gegenwartsstücke. Es herrschte der sogenannte Josefstädter Ton, den Otto Schenk immer als das spielerische Beherrschen von Zwischentönen beschreibt.
Helmuth Lohner hingegen bestritt dies immer: »Ich habe den Josefstädter Stil nie recht feststellen können. Natürlich wird der Ton auf der Bühne vom Haus geprägt, auch von der Art der Stücke, die dort gespielt werden. Aufgefallen hingegen ist mir der familiäre Umgang. Man ist in den engen Garderoben, bevor man auf die Bühne ging, zusammengesessen und hat sich unterhalten. Nur eine winzige Veränderung ergab sich durch das Kostüm, und man hat die Unterhaltung mit dem Text des Stückes auf der Bühne fortgesetzt – das ist vielleicht das Geheimnis der Josefstädter Familie. Jeder hat jeden gut gekannt, geliebt, gemocht – oder auch weniger gemocht. Es war eine ungeheure Beziehung. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemals einer über eine zu kleine Rolle beschwert hätte. Ich war ohnehin mit meinen Rollen immer zufrieden.«
Bereits nach dem ersten halben Jahr an der Josefstadt wird Lohner trotz kleiner Rollen von der Kritik wahrgenommen. In Christopher Frys damals viel gespieltem Konversationsstück Die Dame ist nicht fürs Feuer fällt dem allseits hofierten Schriftsteller und Rezensenten Friedrich Torberg der Schauspieler Helmuth Lohner als »eine neue bemerkenswerte Begabung« auf.
Er war 20, und »er war so wahnsinnig schön, beneidenswert schön, deshalb kam er auch gleich zum Film, das hat uns auseinandergerissen, in die Diaspora getrieben. Jeder hat sofort gewusst, dass der Helmuth ein besonderer Schauspieler ist«, schwärmt Otto Schenk, der ein Jahr nach Lohner vom Volkstheater zum Josefstädter Ensemble gestoßen ist. »Ich hab ihn in der Josefstadt zum ersten Mal in so einem japanischen Stück gesehen, Das kleine Teehaus, da hat er japanisch gesprochen, und ich hab gedacht: Wieso verstehe ich das Wienerische nicht. Er hat so japanisch gesprochen, wie wenn ein Wiener eine japanische Zeitung vorlesen würde. Er hat mich verzaubert. In zwei schrecklichen Inszenierungen (Meuterei auf der Caine und Don Camillo und Peppone) haben wir dann kleine Rollen gespielt, wir haben uns nur zugezwinkert und uns gleich verstanden. Wir waren wie Partisanen im Theater. Also ich, Helmuth war ja gleich reüssiert.«
Die Partisanen werden eingeschworene Freunde, Otti wird auch von Helmuths Mutter aufgenommen: »Ich war in seiner Familie amalgamiert, seine Mutter war, wie meine, eine einfache Frau mit großem Talent für Krautfleckerl.« Die Mutter hat nach dem Tod von Helmuth Lohners Vater den Zuckerbäcker Franz Rauch geheiratet. Er war zwar Zuckerbäcker, aber »etwas Höheres«, wie der Stiefsohn schmunzelnd anmerkte, eine Art Innungs-Inspektor über die Konditormeister in einem bestimmten Rayon. »Alle Zuckerbäcker zwischen Hernals und Breitensee haben vor ihm gezittert«, zitierte Lohner gerne mit schelmischem Grinsen seine Mutter. Sie wollte wohl dem Sohn die Bedeutung des Stiefvaters klarmachen und gleichzeitig erklären, warum sie ein zweites Mal geheiratet hat, eben eher aus Gründen der Versorgung.
Die Mutter war vom überragenden Talent ihres Sohnes von Anfang an überzeugt: »Der Helmuth gehört ans Burgtheater!«, verkündete sie schon damals. Und als es ihr nicht schnell genug ging, stand sie eines Tages am Wiener Rudolfsplatz, wo die Schenks bis heute wohnen, und hat Renee Schenk gegenüber noch einmal eindringlich dieses Statement wiederholt: »Der Helmuth g’hört ans Burgtheater!«
1967 erfüllt ihr Otto Schenk den Wunsch. Der mittlerweile sehr gefragte Regisseur überredet seinen mittlerweile sehr gefragten Freund, unter seiner Regie in Georg Büchners Dantons Tod am Burgtheater den St. Just zu spielen. Lohner lebt zu der Zeit längst in der Schweiz, ist zum zweiten Mal verheiratet, jettet zwischen Zürich, München, Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Er wird die Rolle annehmen, aber aus Wien wieder lieber abreisen als ankommen. »Ich glaube, er wollte sein Leben lang Ottakring entfliehen«, mutmaßt der Otti.
Zurück zu Lohners erster Josefstädter Zeit. 1956 schreibt Torberg eine Hymne über eine offenbar insgesamt geglückte Aufführung von Anton Wildgans’ Familiendrama Armut: »Helmuth Lohner sprach die Verse, die Gottfried am Sterbebett seines Vaters zu sprechen hat, mit so blutvoll durchpulster Intensität und zugleich mit so klar aufgegliedertem Verstand, dass man wahrhaftig den Atem anhielt, um nur ja nichts zu versäumen.«
Armut, Theater in der Josefstadt, 1956 (Gottfried)
Ein halbes Jahr später folgt eine Vernichtung. Lohner gibt in der Regie des späteren Burgtheater-Direktors Paul Hoffmann Armand Duval, den jungen Liebhaber der fast zu erfahrenen Kameliendame Hilde Krahl. Es regnet für alle veritable Verrisse. »Mit zwei ihrer wichtigsten Gegenspieler, Sohn und Vater Duval, hatte sie noch größeres Pech als Dumas es vorschreibt. Doch mag dem jungen Helmuth Lohner die Art, wie er mit seinem Armand nicht fertigwurde, sehr wohl zu fruchtbarer Gebarung gedeihen. Er gab die Nöte einer Pubertätsliebe zwischen zwei Gleichaltrigen, nicht die leidenschaftliche Eifersucht eines jungen Herrn der Gesellschaft, der an eine große Kokotte geraten ist. Er gab Wedekind, nicht Dumas. Und das spricht zwar nicht gegen ihn, sprach aber gegen die Rolle.« (Friedrich Torberg) Paul Blaha spricht im Kurier von einer eklatanten Fehlbesetzung: »Lohner warf sich mit viel Eifer, viel Pathos, viel jugendlicher Romantik und viel echter Gestaltungskraft einer Rolle entgegen, die ganz einfach nicht die seine war.«
Solche Einbrüche mögen ihn in seiner Entscheidung bestätigt haben, schmachtenden Liebhaberrollen aus dem Weg zu gehen und Wien hinter sich zu lassen. Als 1958 seine endgültige Abwanderung aus Wien drohte, schrieb Hans Weigel am Schluss der Rezension über eine missglückte Dramatisierung des Romans Schau heimwärts, Engel von Thomas Wolfe: »Jedoch Gewinn, Glanz und erschütterndes Ereignis des Abends: Helmuth Lohner! Da blüht aus den Niederungen der Dramatisierung Thomas Wolfe empor, da ist Ahnung der leidvollen Größe eines Poeten von Gnaden darstellerischer Vollendung besonderer Art. Da möchte man über die beschwörende Magie Wolfes verfügen, um den gelegentlichen Gast heimzuholen und auf dem Theater sich selbst entdecken zu lassen – schau heimwärts Lohner.«
Er schaut noch drei Mal heimwärts, einmal für Die Spur der Leidenschaft in der Regie von Leonard Steckel, ein zweites Mal für Carlo Goldonis Der Lügner. Dabei hinterlässt er beim jungen Hans Hollmann einen unauslöschlichen Eindruck. Der österreichische Regisseur, später einer der führenden im deutschsprachigen Raum, hatte an der Josefstadt 1961 seine erste Regieassistentenstelle und erinnert sich heute noch genau: »Da stand, nein, da vibrierte ein junger Schauspieler auf einer Bühne, nahm den Text auseinander, aus Wörtern wurde Theater, der junge Mann stand keine Sekunde still, der wirbelte durch die Dekoration, kletterte glatt an ihr hoch, schwerelos schien er zu sein, jede Bewegung erzählte etwas, jeder Blick teilte mit. Der wusste, was er wollte, zeigte, was er konnte, und mit Charme und in seiner unwiderlegbaren wienerischen Rhetorik diskutierte er mit Arno Assmann, dem deutschen Regisseur, der ihm bald verfallen war. Ich war erstaunt. So konnte Theater also auch aussehen? Nein, so etwas hatten wir im Reinhardt Seminar nicht gehabt. Mir war eine Tür aufgestoßen worden. Für diese Türe bin ich Helmuth Lohner immer dankbar geblieben.«
Schau heimwärts, Engel, Theater in der Josefstadt, 1958 (Eugene Gant) mit Maria Emo (links); Die Spur der Leidenschaft, Theater in der Josefstadt, 1961 (Tony Burgess) mit Hans Unterkircher, Ernst Stankovski, Kurt Heintel (Mitte); Die Spur der Leidenschaft, Theater in der Josefstadt, 1961 (Tony Burgess) (rechts)
Leocadia, Theater in der Josefstadt, 1963 (der Prinz) mit Johanna von Koczian und Carl Bosse
Das allerletzte Mal zieht es Helmuth Lohner 1963 heimwärts an die Josefstadt, als Prinz in Jean Anouilhs Léocadia mit Reinhardts Witwe Helene Thimig und Johanna von Koczian, weil der Regie führende Otto Schenk es sich gewünscht hat: »Ich war so glücklich, dass ich ihn für die Rolle bekommen hab.«
So spielt Lohner erstmals in der Regie seines Lebensfreundes und verlässt endgültig die Heimat. Seine Adresse lautet bereits Riehen bei Basel, er wird 38 Jahre seinen Wohnsitz in der Schweiz haben.
Schon 1954 hat Oscar Fritz Schuh den hochtalentierten Newcomer zeitweise von der Josefstadt abgeworben und nach Berlin an die Freie Volksbühne ins Theater am Kurfürstendamm geholt, das unter Schuhs fünfjähriger Intendanz vom Feuilleton als wichtigste Bühne im Westen der Stadt gefeiert wurde.
Der 1904 in München geborene Regisseur war einer der bedeutendsten Theatermänner des 20. Jahrhunderts, der unter anderem in den 1940er-Jahren an der Wiener Staatsoper und nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Salzburger Festspielen gemeinsam mit dem Dirigenten Karl Böhm und dem Ausstatter Caspar Neher den sogenannten Mozart-Stil geprägt hat, er schaffte den seltenen Sprung vom Opern- zum Schauspielregisseur, war nach der Berliner Zeit Intendant in Köln und leitete ab 1963 in der Nachfolge Gründgens’ das Hamburger Schauspielhaus. Er hat den Dramatiker Eugene O’Neill für den deutschen Sprachraum entdeckt und Attila Hörbigers Durchbruch vom guten zum großen Schauspieler in der Deutschen Erstaufführung von O’Neills Fast ein Poet am 15. April 1958 an der Berliner Freien Volksbühne ermöglicht, »wo für jede Vorstellung die Leute ab vier Uhr morgens an der Kasse Schlange standen«, schreibt Oscar Fritz Schuh in seinen Erinnerungen So war es – war es so?.
Von diesem Mann geschätzt zu werden, spricht für Lohners Rang im Alter von nur 21 Jahren.
Auch der Berliner Kritikerpapst Friedrich Luft erkennt in einer allgemein und rundum gelobten Aufführung von Thornton Wilders Die Heiratsvermittlerin, einer Adaption von Johann Nestroys Einen Jux will er sich machen, einem mit »ungezählten Vorhängen bedankten poetischen Feuerwerk« neben der gefeierten, aus der Emigration heimgekehrten Grete Mosheim, den wertvollen Neuzugang: den »besonders begabten Helmuth Lohner«. Die Welt attestiert dem in Berlin Unbekannten »umwerfende Komik«. Er weckt vom ersten Augenblick an Interesse. In der Heiratsvermittlerin begegnet er zum ersten Mal Jane Tilden. Er wird sie wiedertreffen.
Die Heiratsvermittlerin, Freie Volksbühne im Theater am Kurfürstendamm, 1955 (Barnaby Tucker) mit Jane Tilden (hinten rechts) und Grete Mosheim (vorne rechts)
Helmuth Lohner ist hingerissen, wie in Berlin Theater gespielt wird, ganz anders als in Wien am Burgtheater und in der Josefstadt. Der für seine ätzenden Bonmots bekannte Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner erklärte diesen Unterschied pointiert: »Es wird heute überall miserabel Theater gespielt. Nur in Wien an der berühmten Purpurschmiere Burgtheater ist man auch noch stolz darauf.«
Lohner, der später auch mit Kortner zusammenarbeiten wird, erzählte mir einmal begeistert von seinen frühen Berlin-Eindrücken: »Abgesehen davon, dass ich dort für den Film entdeckt wurde, Hotel Adlon und Urlaub auf Ehrenwort waren die ersten (er hatte tatsächlich nach 50 Jahren die Filmtitel parat!), war es für mich eine aufregende, neue Welt. Der Wiederaufbau, die Menschen mit ihrem Humor, die großen Berliner Kollegen, die Theater waren voll. Es wurde richtig Hochdeutsch gesprochen, in der Josefstadt klang ja doch alles wie eine Privatunterhaltung. Als ich das erste Mal Don Carlos am Schillertheater, modern expressiv inszeniert von Gustav Rudolf Sellner mit Anneliese Römer als Eboli und Erich Schellow als Posa und anderen damaligen Größen gesehen habe, klang es in meinen Ohren wie eine unglaublich schöne Fremdsprache.«
Hotel Adlon, 1955 (Erzherzog Karl)
Erich Schellow wird, wenn Lohner 1990 seinen ersten Salzburger Jedermann spielt, hinter ihm als Tod die Szene beherrsehen, und Lohner wird den Regisseur Gernot Friedel bitten, auf Schellow einzuwirken, dass dieser ihn nicht mit seiner gewaltigen Stimme zudeckt. Den direkten Weg, Schellow diese Bitte persönlich vorzutragen, umgeht er lieber.
Anneliese Römer hat später unter Claus Peymann in Wien gespielt: ab 4. November 1988 in der Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz den 1.-Akt-Monolog der Haushälterin Frau Zittel. 1966 hat sie privat spektakuläre Schlagzeilen gemacht. Um ihren Ehemann Harry Meyen Romy Schneider zu überlassen, verlangte sie für die Freigabe 200 000 Mark (100 000 Euro) »Lösegeld«. Romy Schneider bezahlte die Summe für ihr kurzes privates Glück. Böse Zungen behaupteten damals, der als »krankhaft geizig« verschriene Regisseur Meyen hätte so viel Geld niemals für seine Scheidung bezahlt.
Neben Anneliese Römer trat in den Nachkriegsjahren die gesamte Elite deutschsprachiger Schauspieler während der jahrzehntelangen Intendanz des legendären Theatermannes Boleslaw Barlog am Berliner Schiller- und Schlossparktheater auf: Albert Bassermann, Horst Caspar, Ernst Deutsch, Käthe Dorsch, Martin Held, Marianne Hoppe, Hildegard Knef, Hilde Krahl, Werner Krauß, Carl Raddatz – und die namhaftesten Regisseure inszenierten. Das Berliner Feuilleton war allerdings Oscar Fritz Schuh in der Freien Volksbühne im Theater am Kurfürstendamm weitaus gewogener als Boleslaw Barlog am »Staatstheater« Schillertheater.
Oscar Fritz Schuh schreibt in seinen Lebenserinnerungen: »Die bedeutenden Regisseure der letzten 70 Jahre sind ausschließlich in Berlin durchgesetzt worden. Und was ist das Unverwechselbare des Berliner Urteils? Keiner wird dort gemessen an den Leistungen anderer. Kein Berliner würde die Vergangenheit beschwören, wenn er die Gegenwart zu beurteilen hat. Ich habe noch nie in einer Berliner Kritik gelesen: ›Ganz gut, sehr interessant, aber gegen den Schatten von Reinhardt oder Fehling kommt er nicht an.‹ In Berlin gilt nur die Gegenwart. Damals, in den Goldenen 1950er-Jahren, griff Berlin, das Dritte Reich gewissermaßen überspringend, auf seinen eigenen Mythos aus den 1920er-Jahren zurück. Bertolt Brecht, Jürgen Fehling, Gustaf Gründgens, Lothar Müthel, Berthold Viertel, Erwin Piscator – alles prominente Namen aus den 1920er-Jahren. Und alle waren sie wieder da. In Berlin, der Theaterhauptstadt der Welt … Das Theater war ein Sprachrohr des Publikums, gemeinsam mit ihm entdeckte es Neuland. So konnte großes Theater entstehen … Die Lebendigkeit der Theater in Berlin war nicht zuletzt der Kritik zu danken. In anderen Städten können Verrisse einem Theater oder einer Aufführung schaden, andererseits haben positive Kritiken nicht den geringsten Einfluss. Das trifft auf München wie Hamburg und auf andere Städte zu. In Berlin sicherte eine positive Kritik auch den Kassenerfolg … Das Feuilleton war für das Ansehen einer Zeitung wichtig, wichtiger als ihr politischer Teil. Ich glaube, das Ereignis der 1950er-Jahre war nicht nur das Wirtschaftswunder, es war auch die Tatsache, dass im Gegensatz zu 1918 das besiegte Deutschland ohne Hass auf die Alliierten reagierte. Die Deutschen waren froh, das Naziregime los zu sein. Sie blickten optimistisch in die Zukunft. … Den oft zitierten Kalten Krieg habe ich eigentlich nicht empfunden. Er begann – für unsere Theaterwelt – damit, dass beispielsweise wichtige Schauspieler des Brecht-Ensembles wie Therese Giehse oder Leonard Steckel dem Osten den Rücken kehrten und in den Westen übersiedelten.«
Lohners persönliche Eindrücke bestätigen das aufregende Berliner Theaterleben der 1950er-Jahre: »Es stand noch keine Mauer, ich konnte in die Komische Oper und ins Brecht-Theater am Schiffbauer Damm gehen, Schwierigkeiten beim Sektorenübergang nach Ost-Berlin gab es kaum, man wurde nur ordnungsgemäß von einem Volkspolizisten kontrolliert. Brecht lebte gerade noch, ich war von der ganz anderen Spielweise fasziniert und konnte immer weniger verstehen, warum Torberg und Weigel in Wien auf einem Brecht-Boykott bestanden.« Dem lag in erster Linie der politische Vorwurf gegen den freiwillig in der DDR lebenden Bürger zu Grunde. Brechts unschönes Tricksen um die österreichische Staatsbürgerschaft hat 1951 die antikommunistische Kampagne gegen ihn weiter angeheizt.
Verständlich, dass Lohner »eigentlich in Berlin bleiben wollte, aber dann kamen Angebote vom Münchner Residenztheater, und in Wien hatte ich auch noch den Vertrag zu erfüllen.«
So wird er die nächsten 40 Jahre ein rastlos getriebener, vazierender Schauspieler, der kein einziges festes Engagement annimmt. »Ich hatte immer Angst, dass einen die Leute nach zwei oder drei großen Rollen in einer Stadt kennen. Ich wollte kein Einrichtungsgegenstand werden.« (Die Zeit, 3. August 1990) Selbst aus Zürich, wo er später wohnt, flüchtet er immer wieder, übernimmt im Jahr durchschnittlich nur zwei Rollen am Zürcher Schauspielhaus, und den Rest der Zeit verbringt er auf Tourneen, Filmsets und in anderen Theaterstädten. Kein Wunder, dass an dieser Lebensform drei Ehen zerbrechen.
Gleich nach dem ersten Berliner Engagement spielt er in München 1955 am Residenztheater seine erste Nestroy-Rolle, den Zwirn in Lumpazivagabundus mit Bruno Hübner als Knieriem, der überdies Regie führt. Eine ähnliche Erfahrung wird er genau 40 Jahre später wieder machen. Dann ist Otto Schenk Knieriem und versteht sich auch als Regisseur, obwohl Helmuth Lohner mit diesem Nestroy seine erste Josefstadt-Regie abliefern sollte.
»Der Otti hat immer von der Bühne aus alles dirigiert«, erinnert sich Erwin Steinhauer, der in dieser Schenk/Lohner-Inszenierung der Zwirn war. »Der Helmuth hat geduldig zugehört und im Regiebuch mitgeschrieben. Wir haben vermutet, er schreibt auf, was der Otti ansagt, damit alles für die nächsten Proben festgelegt ist. Nach etwa einer Woche, es haben alle in der Rauch- und Kaffeepause den Zuschauerraum verlassen, hab ich mich zum Regietisch geschlichen und blätterte im Regiebuch. Ich hab keine einzige Anmerkung gefunden. Nur wunderschön gezeichnete Blumentöpfe und Blumen.« Lohner wusste damals, wenn sein Freund Schenk eine Rolle spielt, eine Hauptrolle versteht sich, dann inszeniert er auch, weitgehend. Einer Konfrontation ist er in allen Lebenslagen gerne ausgewichen.
Lumpazivagabundus, Residenztheater München, 1955 (Zwirn)
Während Lohner also in München ab 31. Dezember 1955 den Zwirn spielt, Fritz Kortner sitzt übrigens, für Lohner unvergesslich, in der Silvester-Premiere in der ersten Reihe, wohnt das frischverheiratete Ehepaar Schenk zufällig gleich neben Lohners Appartement. Schenk erinnert sich schmunzelnd: »Die Wohnung vom Helmuth hat eher der Jane Tilden gehört, mit der ihn damals ein Rosenkavalier-Verhältnis, eine Art Octavian-Marschallin-Beziehung verband. Wir haben alle die Tilden sehr gemocht. Sie war meine liebste Trafikantin in den Geschichten aus dem Wiener Wald mit dem Helmuth. Sie hat einen guten Einfluss auf ihn gehabt, und er hat sie unerhört verehrt. Es war eine schöne Liebe. Und wie die Tilden 90 wurde (im Jahr 2000) hab ich zum Helmuth gesagt: Wenn einmal die Katzen 90 werden, dann ist man selbst auch nicht mehr der Jüngste! In München hat die Renee, meine Frau, eigentlich den Helmuth erst richtig kennen- und auch gleich lieben gelernt, er hat uns als erster Gratulant zur Eheschließung ein Babyhauberl geschenkt und uns mit dem größten Vergnügen eingeredet, dass wir sofort ein Kind kriegen müssen, was wir aber überhaupt noch nicht vorgehabt haben. Wir haben einfach wie immer furchtbar viel geblödelt.«
Helmuth Lohner kann in Wien, Berlin, Basel, Zürich und München kaum seine Koffer auspacken. Er soll nur ein einziges Mal übersehen haben, dass er in München und Zürich gleichzeitig Vorstellung hatte … Neben all seinen Theaterverpflichtungen dreht er auch noch jedes Jahr mindestens drei Filme im Genre der Wirtschaftswunderzeit. Später wird er in einem Interview mit der Zeit (3. August 1990) reuig bekennen: »Ich habe damals meinen Beruf geschwänzt und viel wichtiges Theater versäumt. Keinen einzigen dieser Filme hätte ich machen dürfen.« Immerhin ist Die schöne Lügnerin mit Romy Schneider darunter, die sich Ende der 1950er-Jahre eigentlich schon nach Frankreich zu Alain Delon abgesetzt hatte und nur noch ein paar Verträge in der ungeliebten platten Filmindustrie der jungen Bundesrepublik erfüllte.
Die schöne Lügnerin, 1959 (Martin Graf Waldau) mit Romy Schneider
Im Frühjahr 1961 lernt Lohner bei den Dreharbeiten zu dem Film Blond muß man sein auf Capri, der kostensparend nicht in Süditalien, sondern an einem Berliner See gedreht wird, die hübsche, blonde Karin Baal kennen. Die erste Begegnung schildert sie in ihren 2012 erschienenen Memoiren Ungezähmt: »Ich muss mich, mit klebriger Schminke eingecremt, auf eine Decke legen und auf meinen Filmpartner warten, der meinen Verlobten Hannes spielt. Ich träume ein wenig vor mich hin, als der Kerl auf einmal ankommt, sich auf mich legt und sagt: ›Gestatten, Lohner.‹ ›Baal‹, antworte ich atemlos. Dann müssen wir uns küssen … Ich habe das Gefühl, dass wir verkleben, zusammengehalten von einem starken Leim, und nie wieder zu trennen sind.«
Mit Susanne Cramer, 1957
Bevor sie verkleben, müssen noch Klebebänder an anderen Stellen gelöst werden. Karin Baal hat erst vor einem Jahr, im Januar 1960, nach zwei Abtreibungen zum dritten Mal schwanger, den Rock ’n’ Roll-Profitänzer Karlheinz »Kalle« Gaffkus geheiratet und ist jetzt Mutter eines Sohnes. Helmuth Lohner hat ein privates Höllen-Chaos noch nicht ganz überstanden. Er war mit der damals von der Boulevardpresse gehegten blonden Glamour-Schauspielerin Susanne Cramer zwei Mal verheiratet und innerhalb weniger Monate auch zwei Mal geschieden. Dazwischen wurde Tochter Konstanze Lohner geboren. Zehn Filme hat die 21-jährige Schöne während der kurzen Ehe inclusive Schwangerschaft gedreht, Filmtitel wie Schwarze Nylons, heiße Nächte sagen einiges über den künstlerischen Wert der Produkte aus. Anfang der 1960er-Jahre, nach der endgültigen Trennung von Lohner, bricht sie die Zelte ab und übersiedelt nach Hollywood.
Das bewegte Berufsleben der Susanne Cramer wurde von ihrem bewegten Privatleben noch übertroffen. Eine Ehe vor Lohner, eine danach, öffentlich bekannte Affären mit Schauspielern, Suizidversuche. Was Helmuth Lohner in diesen hohen Seegang getrieben hat, verriet er nie. Mit »Ach, das war eine Jugendtorheit!«, erstickte er weitere Fragen. Susanne Cramer starb mit nur 32 Jahren in Kalifornien, Tochter Konstanze wurde von ihren Tanten aufgezogen, das Verhältnis zum Vater war vergiftet. Er bezahlte ihr später eine Ausbildung als Pädagogin und fand sie finanziell ab.
Karin Baals junge Jahre waren auch nicht unflott verlaufen. Mit 15 wird die Berlinerin bei einem Casting für den nachmaligen Kultfilm Die Halbstarken mit Horst Buchholz entdeckt und über Nacht ein Filmstar. Die Gala-Premiere muss um ein paar Tage verschoben werden, damit die weibliche Hauptdarstellerin den 16. Geburtstag hinter sich hat, denn als Minderjährige hätte sie dem nicht jugendfreien Film fernbleiben müssen. Es folgen unbedeutende Rollen in unbedeutenden Filmen, sie hat viel Spaß mit der Crew und beteiligt sich gerne an Trinkgelagen. »Oft bechern wir so lange, bis ich auf mein Zimmer getragen werden muss, weil ich nicht mehr laufen kann«, bekennt sie freimütig in ihren Memoiren. Ähnliche Situationen schildert sie immer wieder.
Die erste Begegnung mit Helmuth Lohner am Filmset von Blond muß man sein auf Capri schlägt ein. »Mich faszinierte seine ruhige, charmante Art und sein Wiener Schmäh. Er war so gebildet, so belesen, so vornehm in den Umgangsformen.« Gleich nach dem Capri-Film stehen sie wieder gemeinsam vor der Kamera. Das letzte Kapitel wird in Norwegen gedreht, diesmal authentisch, das Drehbuch beruht auf einem Roman des norwegischen Nobelpreisträgers Knut Hamsun. Der vorgesehene Regisseur stirbt vor Beginn der Dreharbeiten. Es wäre Gustav Ucicky gewesen, der nach seinem Tod mehrfach im Gespräch bleibt: als gut beschäftigter Filmregisseur im Dritten Reich, der den Propagandafilm Heimkehr mit Paula Wessely zu verantworten hat, und als Besitzer einer ansehnlichen Klimt-Sammlung verschleierter Provenienz. Seine wesentlich jüngere Witwe gibt 40 Jahre nach Ucickys Tod dem öffentlichen Druck nach und beginnt, die Raubkunst den Nachkommen der jüdischen Vorbesitzer zurückzuerstatten.
Blond muss man sein auf Capri, 1961 (Hannes Niklas) mit Karin Baal
Die Regie für Das letzte Kapitel übernimmt der in der Nazi-Zeit ebenfalls gut beschäftigt gewesene Regisseur Wolfgang Liebeneiner, ab 1944 Ehemann der Schauspielerin Hilde Krahl. Diese Biografien zeigen das Dilemma dieser Generation, vor der Wahl gestanden zu haben, entweder in einem Verbrecher-Regime mitzulaufen oder durch Gegnerschaft die Existenz zu verlieren. Aber sie hatten immerhin eine Wahl, der jüdische Teil der Bevölkerung hatte keine.
Das letzte Kapitel, 1961 (Oliver Fleming) mit Karin Baal
Während der mehrwöchigen Dreharbeiten zu Das letzte Kapitel beginnt ein neues privates Kapitel: Karin Baal und Helmuth Lohner werden ein Paar. Karin Baals grundvernünftiger Vergleich zwischen ihrem Ehemann und dem neuen Liebhaber fällt eindeutig für den blonden Wiener mit den blauen Augen aus: »Helmuth las Bücher, Kalle hörte Rock ’n’ Roll. Helmuth wollte mich in feine Restaurants ausführen, Kalle hielt Koteletts schon für Haute Cuisine. Helmuth respektierte meine Arbeit, Kalle sagte immer: Was du da machst, dett kann ick ooch. Helmuth bedeutete Perspektive, Kalle Stillstand.«
Sie flüchten vor der Presse heimlich nach Wien, »mit einem knallroten Auto« (Karin Baal in ihren Memoiren), einem VW, den er von der ersten Filmgage im Autohaus Eduard Winter am Kurfürstendamm erworben hatte, leben vorübergehend mit Karins Sohn Thomas in einer kleinen Pension.
Lohner erhält ein Angebot von der Komödie Basel. Er erbittet Bedenkzeit, schließlich ist Basel zwar eine traditionsreiche Theaterstadt, aber nicht gerade der Theater-Hotspot. »Er ist kein Mann schneller Entscheidungen«, kommentiert Karin Baal. Er sagt schließlich zu und spielt dort seinen ersten »sehr modernen, verquälten, scharfkantigen Hamlet« (Die Zeit, 22. Dezember 1961).
In der drittgrößten Schweizer Stadt, im Dreiländereck zu Deutschland und Frankreich gelegen, herrschen allerdings strenge Sitten. Um in Basel gemeinsam eine Wohnung mieten zu können, heiraten Karin Baal und Helmuth Lohner 1962, sie in einem schwarzen Hochzeitskleid. Der einzige Gast ist Helmuths Scheidungsanwalt. Ein makabrer Auftakt zum zweiten Eheversuch. Das Ehepaar zieht nach Riehen bei Basel, Karin Baal richtet die Wohnung ein, sie nimmt auf Betreiben ihres Mannes Gesangs- und Schauspielunterricht, lernt Englisch, Fechten und Reiten, liest Bücher, die er ihr empfiehlt, besucht mit ihm Museen, Theater und Oper.
Seine Leidenschaft für Museumsbesuche mussten alle Begleiterinnen teilen. Sowohl seine Tochter Therese als auch seine dritte Ehefrau Ricarda Reinisch erzählen übereinstimmend, dass sie in ihrem Leben nie so viele Museen besucht haben, wie wenn sie Lohner auf einer Tournee begleiteten oder ihn in einer Stadt besuchten. Die Kinder Therese und Thomas bekamen später aus jeder Stadt eine Karte aus einem Museum, und mit 15 die Thomas Mann Gesamtausgabe.
Ein Traumspiel, Freie Volksbühne im Theater am Kurfürstendamm, 1963 (Der Dichter) mit Joana Maria Gorvin
Auch Karin Baal berichtet, dass sie im ersten Jahr ihrer Liebe während gemeinsamer Dreharbeiten für Film an Bord bei einer Stippvisite in New York zuerst das neu errichtete Guggenheim-Museum besuchten, dann auch das UNO-Hauptquartier und einen Boxkampf. Da hat er mit Basel als Wohnsitz die goldrichtige Wahl getroffen, denn die malerisch am Rheinknie gelegene 2000 Jahre alte Stadt besitzt 30 Museen! Von jedem Museumsbesuch auf der ganzen Welt nimmt er ein Souvenir mit, Tassen, kleine Skulpturen, Kunstkarten, Kataloge, fein säuberlich aufgestellt in seinen Wohnungen und zuletzt in seiner Bibliothek im Haus von Elisabeth Gürtler.
Baal und Lohner sind ein glückliches, prominentes Ehepaar. Sie bekommt einen Bambi, den Preis der deutschen Filmkritik und 1967 die Goldene Kamera.
Lohner ist rast- und ruhelos unterwegs. Nach seinem aufsehenerregenden Hamlet in Basel folgt ein letzter Abstecher zu Léocadia nach Wien an die Josefstadt, und in Hamburg spielt er den Dichter in Strindbergs »Traumspiel« in der Regie seines Mentors Oscar Fritz Schuh, der ihn mit der Übernahme des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg auch dorthin verpflichtet.
1964, rund um den schon beschriebenen Grazer Hamlet, spielt er fünf große Rollen, darunter die Titelrolle in Roger Vitracs Victor oder die Kinder an der Macht, in der Regie von Veit Relin – der kurz danach Maria Schell heiraten wird – und mit Judith Melles – der Mutter seiner späteren Buhlschaft. Er spielt auch den jungen Trotta in dem Film Radetzkymarsch nach Joseph Roth. Dass der Schwarz-Weiß-Film bis heute seine Faszination nicht verloren hat, verdankt man neben dem famosen Darstellerstab auch dem österreichischen Theater- und Filmregisseur Michael Kehlmann, dem Vater des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Und Lohner verdankt ihm überdies die wichtige erste Verpflichtung an das Schauspielhaus Zürich. Denn Kehlmann senior verlangt für die Hauptrolle in Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald Helmuth Lohner als Alfred, eine schillernde Rolle, wie für ihn geschaffen. Er ist nicht nur ein charmanter, gewissenloser Filou, an dem die Frauen kleben, er hat auch, wie Michael Heltau es nennt: etwas Engelhaftes. Er blickt, von sich selbst überrascht, auf das Unglück, das er verursacht.
Zwei Jahre später wird er den Siegeszug mit seiner Leibrolle an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Otto Schenk mit sensationellem Erfolg fortsetzen, »als Strizzi mit keinerlei Hemmungen, aber einer heillosen Anziehungskraft auf Frauen ausgestattet«. (Wolfgang Petzet, Theater – Die Münchner Kammerspiele 1911–1972).
Ein Triumph auch für Otto Schenk. »Nichts von den kleinen Spannungen, den versteckten Pointen ging verloren, es war dank Otto Schenks praller, wohlgewürzter Inszenierung bis zuletzt, trotz der gefährlichen Länge, ein ungemein lebendiger, spannender und bewegender Theaterabend.« (Süddeutsche Zeitung, 5. Dezember 1966) Schenk entschuldigt sich fast für den Erfolg: »Damals herrschte noch keine Interpretier- und Veränderungssucht. Wir haben Horváth vom Blatt gespielt, ganz direkt, wir haben das Bayerisch-Österreichische verteidigt. Horváth war damals kaum gespielt, heute würden uns die überbildeten und sich wissend fühlenden Kritiker diese Direktheit nicht abkaufen. Der Helmuth hatte den Zauber, er konnte ganz ekelhaft handeln, und man war ihm nicht böse. Der Alfred ist nur ein Schwächling, aber er war auch ein bissl dämonisch. Fleurs du Mal würde es Baudelaire nennen.« Die Süddeutsche Zeitung: »Helmuth Lohner, natürlich, spielt ganz mühelos, was den schmierigen Vorstadtgockel charakterisiert, der doch ›eigentlich‹ gar kein schlechter Mensch ist, nur eben bei aller Gerissenheit etwas zu dumm, um es je auf einen grünen Zweig zu bringen: Er spielt lässig penetranten Charme aus, nasalen Zynismus dazu, darin mitunter zu selbstsicher. Dann glaubt man nicht mehr, dass er es auch ernst meint, auch leidet, auch verzweifelt ist. Es scheint dann, er passe tatsächlich besser zu Valerie, der reifen Tabaktrafikantin, zu der er nach dem Marianne-Fiasko reumütig zurückfindet.«
Und Torberg lakonisch: »Man wird die Darstellung solcher zwielichtiger Horváth-Helden in Hinkunft an Helmuth Lohner messen.«
Gertrud Kückelmann ist die berührende Marianne, »mit einer Gefühlsskala von mädchenhaftem Übermut bis zur äußersten Empörung und Verzweiflung«. (Petzet) Es gelingt ihr, das Schwierigste, »glaubhaft zu machen, dass Mariannes Leidenschaft und Verzweiflung echt und groß sind, auch wenn sie das nur hilflos in Kitschroman-Sentimentalitäten zu äußern vermag … und in zehn Jahren wird man nicht vergessen haben: Adrienne Gessner, das liebe Großmutterl, wie sie im milden Abendlicht vor einem Donaupanorama sitzt und Zither spielt, versonnen, mit gespitztem Mündchen, selbstvergnügt, und dabei heiter herausplaudert, wie sie Mariannes Kind sanft und entschlossen ins Jenseits befördert hat. Das sind Theateraugenblicke, wo man vor Entzücken schmunzelt, obwohl’s einen graust.« (Süddeutsche Zeitung) Jane Tilden, die über Jahre konkurrenzlose Darstellerin der Trafikantin Valerie, hat bei aller lasziver Mannstollheit und fröhlicher Leichtlebigkeit so viel Herz, dass ihr die Sympathien sicher sind.
Geschichten aus dem Wiener Wald, Kammerspiele München, 1966 (Alfred) mit Jane Tilden
Zu wenig Zeit erübrigt Helmuth Lohner für seine Ehefrau, wie sie beklagt. Immerhin wird sie 1964 schwanger, am 30. Mai 1965 kommt Tochter Therese zur Welt, da spielt Lohner gerade an den Münchner Kammerspielen in der berühmten Kortner-Regie den Ferdinand in Schillers Kabale und Liebe mit Christiane Hörbiger als Luise.
Zum Glück gibt es ein unschätzbares Fernsehdokument von dieser genialen, fast quälend minutiösen Probenarbeit. Kortner eilt ständig auf die Bühne, spielt Körperhaltungen, Betonungen vor, verlangt von Christiane Hörbiger mit bestimmten Fingern die Gifttasse zu halten, er brüllt Lohner mehrmals »Mörrrrder« vor, weil er Empörung und Anklage gegen den Vater schärfer heraushören möchte. Dokumentiert ist auch eine Kuss-Szene, in der Lohner schüchtern seine Lippen auf Christiane Hörbigers Mund drückt und Kortners schnarrende Stimme aus dem Zuschauerraum ruft: »Lääänger küssen.« Worauf Lohner sich elegant mit einem Handkuss bei Christiane Hörbiger entschuldigt, entweder für seine geringe Ausdauer oder für kommende Heftigkeit oder für beides.
Kortner hat in der vierstündigen, wie manche fanden, zerdehnten Aufführung alle Figuren gegen den Strich gebürstet: »Ferdinand ist ein Wirrkopf, leidenschaftlich und eifersüchtig, ein Jüngling, ein Unfertiger auf dem Weg zum Mann« liest man in der Welt. »Er hat die schönste Mitte, das Stückchen Pathos der ersten Szene fällt wieder ab, er ist hinreißend in seinen Ausbrüchen, hinreißend – und glaubhaft in seiner Verzweiflung an der Leiche Luisens.«
Christiane Hörbiger erinnert sich an die anstrengenden Proben und an die letzte Szene im 5. Akt, in der Ferdinand seine getötete Luise auf den Armen trägt und seinem Vater, dem Präsidenten in Gestalt Paul Verhoevens, wortreich droht: »Eine Gestalt wie diese ziehe den Vorhang vor deinem Bette, wenn du schläfst, und gebe dir ihre eiskalte Hand – Eine Gestalt wie diese stehe vor deiner Seele, wenn du stirbst, und dränge dein letztes Gebet weg – Eine Gestalt wie diese stehe auf deinem Grabe, wenn du auferstehst – und neben Gott, wenn er dich richtet.« »Kortner ließ sie diese Sätze gnadenlos mehrmals wiederholen, bis der Helmuth ihn wütend genug dem Verhoeven entgegen geschleudert hat und dazwischen hat er mich flüsternd angefleht: ›Plocher, bitte nimm ab, du bist zu schwer.‹ Er hat damals ›Plocher‹ zu mir gesagt, wahrscheinlich in Anspielung an die Erzherzog-Johann-Geliebte Anna Plochl.«
Lohners Ferdinand rennt mit kämpferischem Aufbegehren gegen das väterliche System an, »er brauchte kein tumber, nichts als liebender Jüngling mehr zu sein, konnte sich – wie er es ist – als Vorform des Don Carlos mit sozialen Sturm- und Dranggedanken befassen« (Petzet).
Den Don Carlos hat er leider nie gespielt. Vielleicht hat man ihm zwar den Kampfgeist gegen den Vater, die feurige Begeisterung für Posa, die brüske Zurückweisung der Eboli, aber nicht, was auch Teil der Rolle ist, die schwärmerische, zärtlich besinnungslose Liebe zur Königin zugetraut. 2012 wird er in einem Profil-Interview bekennen: »Ich konnte mit klassischen Liebesszenen nie etwas anfangen. Diese heißen Liebesgefühle waren mir immer peinlich. Deshalb hat mich auch der Romeo, dieser Inbegriff des Liebhabers, nie interessiert. Heute wüsste ich zwar, wie ich ihn spielen könnte, aber jetzt ist es ja einigermaßen zu spät.«
Kabale und Liebe, Kammerspiele München, 1965 (Ferdinand) mit Christiane Hörbiger (Seite 53, links oben); mit Fritz Kortner (Seite 53, rechts oben); mit Christiane Hörbiger und Paul Verhoeven (Seite 53, unten)
Kortners eherne, ätzend formulierte Schauspielerregeln bleiben für immer in Lohners Bewusstsein: »Erstens: ›Text lesen, Text genau lesen!‹ Zweitens: ›Denken Sie bei jedem Satz daran, was Sie sagen. Sie verlieren deshalb nicht die österreichische Staatsbürgerschaft!‹«
Auch Christiane Hörbiger war bemüht, alle Anweisungen zu befolgen: »Ich habe ja alles aufgeschrieben, was der Kortner von mir verlangte, damit ich es bei der nächsten Probe wieder richtig mache, ich war hündisch, voll Angst, wie unter einer Hypnose und habe Kortner viel zu sehr nachgemacht. Der Helmuth hat das Wichtigste, was der Kortner ihm vorgespielt hat, für sich genommen und auf seine eigene Art verarbeitet. Aber ein Kollege hat mir gesagt: ›Alles, was du jetzt nachmachst, wirst du in späteren Arbeiten ohne Kortner einbringen können und es wird wieder natürlich wirken.‹ Fritz Kortner war ja in den Helmuth verliebt. Er sah in ihm ein Alter Ego, glaub ich, und fand eigentlich alles ganz wunderbar. Noch dazu ein Wiener, das hat ihn an seine Kindheit erinnert. Ich glaube, er hat Österreich geliebt, auch wenn er immer geschimpft hat. Und ich war in den Kortner verliebt, richtig verknallt in den alten Herrn, bin ihm nach Berlin nachgeflogen, wie er dort gearbeitet hat. Leider ist die Luise unsere einzige Zusammenarbeit geblieben. Er wollte mich als Ophelia haben, aber da war ich schon fest in Zürich beim Lindtberg und konnte nicht mehr weg.«
Fritz Kortner, 1892 als Fritz Nathan Kohn in Wien geboren und zum Schauspieler ausgebildet, war in den 1920er-Jahren ein in Wien und besonders in Berlin anerkannter Schauspieler, der die großen klassischen Rollen in der Nachfolge von Josef Kainz verkörperte. Sein Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig wirkt bis heute nach. Bereits im Frühjahr 1932 flüchtete er, die hereinbrechende Katastrophe ahnend, in die Schweiz. Zwei Jahre später emigrierte er nach Großbritannien, wo er Englisch lernte, und ab 1937 versuchte er in Amerika als Drehbuchautor seine ihm nachgefolgte Frau und die beiden Kinder durchzubringen. 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und wirkte vorwiegend an den Münchner Kammerspielen und dem Berliner Schillertheater, jetzt als begehrter und bewunderter Regisseur.
Kabale und Liebe blieb für Hörbiger und Lohner die einzige Zusammenarbeit mit Kortner, aber in Zürich werden die beiden »Exil-Österreicher« noch oft gemeinsam auf der Bühne stehen. Wie für die Hörbiger blieb auch für Lohner der damals 73-jährige Kortner ein Leitbild fürs Leben, ein Gott, dessen Gebote nie verhallten. Seine Mahnung: »Wenn Sie so weiter spielen, kopieren Sie nur sich selbst« gilt für Helmuth Lohner als ein lebenslänglich beachtetes und oft zitiertes Gesetz. Niemals in Routine verfallen, sich niemals wiederholen, das hat ihn zeitlebens vor Mittelmaß und Plattheit bewahrt. Die Angst vor dem Gespenst namens Durchschnittlichkeit verließ ihn freilich nie.
Im Frühsommer muss Helmut Lohner während der Spielserie von Kabale und Liebe nach Basel zur Taufe seiner Tochter. Nach einer Vorstellung fährt er gemeinsam mit Christiane Hörbiger »in einem kleinen weißen MG«, wie sie sich erinnert. »Aber die Beifahrertür klemmte und ich musste die ganze Strecke von München nach Basel das Bandl, mit dem man damals die Tür des Sportwagens geöffnet hat, fest zu mir ziehen. Das war mindestens so anstrengend wie die ›Plocher‹ auf den Armen zu tragen!«