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Der griechische Jüngling

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„So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“ Kommissar Schwarzer schüttelte den Kopf.

Lilli, seine junge Kollegin, die ihm erst an diesem Morgen zugeteilt worden war, konnte nicht antworten, denn sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, sobald sie den Mund aufmachte.

„Auf jeden Fall ist es der Vermisste.“ Er betrachtete noch einmal das Foto.

Sie nickte schwach.

„Was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?“, sinnierte Schwarzer.

Lilli zuckte hilflos mit den Schultern.

***

Pia kannte Adonis, seit sie denken konnte. Er stand im Wohnzimmer in einer Ecke. Sie mochte ihn, besonders sein Gesicht, obwohl er keine richtigen Augen hatte, sondern nur flache, leere Augenhöhlen.

Als kleines Mädchen versuchte sie oft, mit ihm zu spielen. „Fang!“, rief sie und warf ihm einen Ball zu. Doch Adonis rührte sich nicht.

Ihr Bruder Justus lachte sie aus. „Das ist bloß eine Statue.“

„Adonis ist lebendig“, widersprach Pia. „Guck doch! Er freut sich, dass ich mit ihm spiele.“

„Er ist aus Gips.“

Pia wurde so wütend, dass sie anfing zu weinen.

Und Adonis lächelte weiter sein feines, geheimnisvolles Lächeln.

***

Als sie ungefähr acht Jahre alt war, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass er nichts anhatte. Sie bemerkte ebenfalls, dass er unten nicht so aussah wie sie und auch ein bisschen anders als Justus. Immer wieder lief sie hin und betrachtete diesen Unterschied. Aber nur, wenn es niemand sah.

Eines Tages fragte sie: „Warum ist Adonis nackt?“

Ihre Mutter lachte. „Statuen frieren nicht.“

„Schämt er sich nicht? Jeder kann doch sein Ding sehen.“

„Das macht ihm nichts aus.“

Aber Pia machte es etwas aus.

***

Die meisten Kisten waren gepackt, die Zimmer fast leer.

Nachdenklich betrachtete die Mutter den griechischen Jüngling. „Ob wir die Figur überhaupt mitnehmen sollen?“, überlegte sie. „Eigentlich hat sie mir nie so richtig gefallen.“

„Mir auch nicht“, stimmte der Vater zu. „Sie ist gar nicht unser Stil. Ob wir sie den Hillers schenken? Die waren doch immer so begeistert davon.“

Pia wurde eiskalt vor Schreck. „Bitte, Mama! Wir dürfen Adonis nicht einfach weggeben. Wir stellen ihn in mein Zimmer.“

Die Mutter runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Eine griechische Statue passt nicht in das Zimmer einer Zehnjährigen.“

Pia schluchzte. „Er soll nicht zu fremden Leuten kommen.“

Der Vater legte den Arm um sie. „Meinetwegen“, sagte er. „Wenn dir so viel daran liegt!“

Pia lächelte unter Tränen.

***

Adonis stand in einer Ecke ihres Zimmers, das Gesicht dem Bett zugewandt. Manchmal lief Pia zu ihm hin, um ihn zu umarmen und an sich zu drücken.

Seit sich die ersten Ansätze eines Busens zeigten, drehte sie ihm immer den Rücken zu, wenn sie sich auszog. Er hingegen war ihren Blicken Tag und Nacht ausgesetzt.

Er tat Pia leid. Kurz bevor sie vierzehn wurde, besorgte sie sich ein Betttuch und drapierte es um seine rechte Schulter. Mit Sicherheitsnadeln und einem Gürtel wurde das Gewand zusammengehalten. Bewundernd stand Pia davor. Richtig vornehm sah Adonis jetzt aus.

Mit dem Zeigefinger strich sie über die muskulösen Arme, berührte seine Wangen und die edel geschnittene Nase.

Noch nie hatte sie Adonis’ Mund so deutlich wahrgenommen. Wie schmal, wie schön geschwungen er war und gleichzeitig so männlich! Sie zögerte. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen hastigen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen.

Später kam Justus herein. Er brach in Gelächter aus, als er den weiß gekleideten Adonis sah. „In Pias Zimmer steht ein Gespenst herum!“, schrie er durch das ganze Haus.

Kopfschüttelnd schaute sich die Mutter Adonis an. „Statt in deinem Zimmer zu hocken und dich mit dieser Statue zu beschäftigen, solltest du dir lieber ein paar Freunde suchen“, meinte sie.

„Ich brauche keine Freunde“, antwortete Pia.

***

Die Erinnerung an den Kuss ließ sie nicht los. Nachts starrte sie in die Dunkelheit und dachte an nichts anderes.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie sprang aus dem Bett, rannte zu Adonis, warf ihm die Arme um den Hals und presste ihre Lippen auf seinen kühlen Mund. Sie drängte sich an ihn, küsste ihn wieder und wieder, bis sie plötzlich an ihrem Unterleib etwas Hartes fühlte. Sie zuckte zurück. Einen Augenblick war ihr schwindlig. Sie keuchte und klammerte sich an seiner Schulter fest, ehe sie zurück ins Bett taumelte.

Danach fand sie keine Ruhe mehr. Während alle im Haus schon schliefen, wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und versuchte, die Gedanken an das Harte unter dem weißen Gewand zu verdrängen. Dieses Harte, das sie schon so lange nicht mehr betrachtet hatte. Ganz verschwommen war ihre Erinnerung daran.

Eines Abends konnte sie nicht mehr widerstehen. Sie richtete den Strahl ihrer Nachttischlampe auf die Stelle zwischen seinen Oberschenkeln, tappte auf unsicheren Beinen zu Adonis hinüber und schob mit bebenden Fingern das Gewand auseinander.

Oh, er war schön! Sie legte die Hand auf die Wölbung, fühlte, wie sich sein Glied in ihre Handfläche schmiegte. Elektrische Ströme schossen durch ihren Arm, Gänsehaut lief in Wellen über ihren Körper.

Sie kniete sich vor ihn hin und liebkoste ihn mit den Lippen, während sie sich selbst berührte. Tief in ihrem Leib zog sich etwas zusammen. Sie zuckte am ganzen Körper, warf sich auf den Rücken, schob ihr Nachthemd hoch und bot sich ihm dar.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Justus stürmte herein.

Er erstarrte. „Was machst du da?“

Pia sprang auf. „Verschwinde!“, stieß sie heiser hervor.

Von da an schloss sie ihre Zimmertür stets ab.

***

Sobald Pia von der Schule nach Hause kam, lief sie zu Adonis.

Auch an diesem Tag hatte sie wieder Lust, mit ihm allein zu sein. Schon auf der Treppe begann sie ihre Bluse aufzuknöpfen.

Plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl. Diese Stille im Haus war anders als sonst. Sie verharrte einen Augenblick vor ihrer Zimmertür, bevor sie die Klinke hinunterdrückte.

Das Bild, das sich ihr bot, war so entsetzlich, dass sie mit einem wimmernden Laut im Türrahmen stehen blieb. Adonis starrte sie aus toten Augen an. Jemand hatte seinen Mund und seine Nase mit Paketband zugeklebt. Sein weißes Gewand war mit mörderischen roten Flecken übersät. Zu seinen Füßen lag ein langes Küchenmesser.

Ein unterdrücktes Geräusch ließ sie zusammenfahren. Der Vorhang bewegte sich.

Pia schrie.

Justus sprang hervor. Er krümmte sich vor Lachen.

Pia stürzte sich auf ihn. „Du hast ihn umgebracht!“, kreischte sie. Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen seine Brust. Er versuchte sie abzuwehren, sie trat, kratzte, schlug um sich. „Ich hasse dich.“

„Pia, hör auf!“ Er umklammerte ihre Handgelenke. „Das war doch nur ein Spaß.“

Sie versuchte ihn abzuschütteln. „Du Mörder!“

„Es ist bloß eine Statue!“

„Ich liebe ihn. Und du hast ihn getötet!“

Justus ließ sie los. Blitzschnell sprang er hinter den griechischen Jüngling und stieß ihn mit aller Kraft um.

Mit dem Hals schlug Adonis gegen die Tischkante. Sein Kopf rollte über den Boden und blieb vor dem Fenster liegen. Justus packte den Gipskopf und warf ihn hinunter auf die Terrasse, wo er auf den Fliesen zerbarst.

Später, als sie zusammengekauert in ihrem Zimmer hockte, schafften ihr Vater und ein totenbleicher Justus Adonis’ Körper fort. Pia fragte nie, wohin sie ihn gebracht hatten.

Die großen und kleinen Brocken auf der Terrasse sammelte sie auf, jedes einzelne Stück, und begrub alles am Ende des Gartens unter einer Tanne.

***

„Wer weiß, ob der vermisste junge Griechen je wieder aufgetaucht wäre, wenn der Institutsleiter nicht das Verschwinden einer Leiche gemeldet hätte“, sagte Kommissar Schwarzer.

Seine junge Kollegin fühlte sich etwas besser, seit sie wieder im Büro waren. „Wie hat sie ihn eigentlich getötet?“, erkundigte sie sich.

„Im Schlaf. Mit einer langen, feinen Nadel. Der Stich ging direkt ins Herz.“

„Wie ist sie überhaupt an ihn geraten?“

„Sie hat ihn aus Griechenland mitgebracht, wo sie jedes Jahr ihren Urlaub verbringt. Er war ein armer Olivenbauer, der glaubte, er würde in Deutschland sein Glück finden. Sie nahm ihn bei sich auf. Eines Abends machte sie ihn betrunken und ließ ihn dies unterschreiben.“ Der Kommissar kramte in einer Akte und reichte Lilli ein Blatt.

„‚Hiermit stelle ich der Wissenschaft meinen Körper nach meinem Tode zur Verfügung.’ Datum, Unterschrift. Und das reicht?“

„Offenbar ja. Mit diesem Wisch hat sie den Toten der Universität zugeführt und dort fachgerecht plastiniert. Später hat sie die Leiche bei einer Nacht- und Nebelaktion – wie soll ich mich ausdrücken? – entführt.“

„Was ...“, seine Kollegin schluckte ein paar Mal heftig, „was macht eine Pathologin mit einem toten jungen Mann?“

„Ich vermute einen sexuellen Hintergrund“, erklärte Kommissar Schwarzer. „Immerhin stand der Leichnam nur mit einem Laken bekleidet an ihrem Bett.“

„Nicht zu vergessen der erigierte Penis“, fügte Lilli hinzu und schüttelte sich. „Krank!“, sagte sie. „Warum hat sie nicht einfach eine nackte Statue in ihrem Schlafzimmer aufgestellt?“

Blumen des Grauens

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