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Einsame Seufzer

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Professor Happenduckdickdanzer ließ seine neue Penthouse-Wohnung per Eilauftrag von den dienstbaren Fachleuten eines großen Möbelhauses einrichten. Er war nicht wählerisch, lediglich der Schreibtisch sollte das Prunkstück der Bibliothek werden, deren sämtliche Wände von unten bis oben hinter Bücherregalen verschwanden. Die Bücher hatten den Professor stets in Kisten auf seinen Reisen begleitet und die ersten drei Wochen war er vor allem damit beschäftigt, die Bücher in die Regale einzuordnen. Der Bibliothekraum sollte Bruno-Kunos Arbeitszimmer werden. Hier wollte er selber viele bedeutende Bücher an dem riesigen, schönen Schreibtisch schreiben.

Nebenan hatte er sich ein Wohnzimmer einrichten lassen, außerdem ein Schlafzimmer, obwohl es auch in seinem Arbeitszimmer ein breites, gut gepolstertes Liegesofa für Mittagsnickerchen gab. Was er mit dem vierten Zimmer anfangen sollte, wußte er noch nicht. Wenn er hinein blickte, sah er die ovalen und rechteckigen hellen großen Flecken, die Spiritons zahlreiche Spiegel hinterlassen hatten. Diese Spiegel gingen ihm nicht aus dem Kopf. Als er noch in den Hotels gehockt und ekelhafterweise mit allerlei angeblichen und echten Verwandten telefoniert hatte, war einige Male auch von einem jungen Künstler namens Valentin Happenduckdickdanzer die Rede gewesen. Da dessen selbstgepinselte Gemälde ihm kaum etwas einbrachten, hieß es, schlage er sich mit allerlei Nebenjobs durch, schnitze beispielsweise auch kunstvolle Bilder- und Spiegelrahmen für Leute, die großherzig oder reich genug waren, für Handgearbeitetes noch leidlich zu zahlen …

Jedesmal, wenn dem Professor solche Gedanken durch den Kopf gingen, ahnte er, daß sie samt und sonders genau wußten, wo er sein neues und endgültiges Zuhause gefunden hatte. Und er fürchtete, daß sie das Hochhaus umschlichen. Er wußte nicht wie sie aussahen. Sie aber würden es schnell heraus haben, sobald er das Haus verließ.

Doch als die Wochen vergingen, als Weihnachten und Neujahr und Karneval vorüber waren, als er Tag für Tag ins nächste Restaurant zum Essen, in die Großmarkthalle zum Einkaufen, in die Hochschulbibliothek zum Studieren gegangen war und niemand ihn auffällig angeglotzt oder gar angesprochen hatte, da beruhigte er sich langsam. Und er machte sich keine Sorgen mehr, wenn sein Blick zufällig auf eine helle Stelle an der Wand fiel, die verriet, daß hier einst geradezu blödsinnig viele Spiegel gehangen hatten. Der alte Bruno-Kuno brauchte nur einen einzigen zum Rasieren, und der hing im Badezimmer.

Bis Ende Februar endlich fühlte er sich einsam und in Frieden gelassen genug, um damit zu beginnen, sein erstes wissenschaftliches Buch zu schreiben. Um den Aberglauben zu erforschen, war er ja jahrelang soviel gereist. Er fand, daß Aberglauben aller Art ein ebenso lächerliches wie trauriges Kapitel in der Menschheitsgeschichte war, und das wollte er mit seinen geplanten Schriften beweisen. Sein erstes Buch sollte heißen: »Über die Dummheit, an Dämonen, Gespenster, Zauberwesen und ähnliche Ausgeburten von Phantasie und Träumen zu glauben.«

Ein hoher Stapel Papierbogen lag auf dem prachtvollen Schreibtisch bereit. Der Professor stellte seine flache, altgediente Reiseschreibmaschine daneben, setzte sich davor auf den höhenverstellbaren Rollsessel, spannte den ersten Papierbogen in die Maschine und tippte mit spitzen Fingern den langen Buchtitel auf das Blatt. Als nächstes tippte der Professor ganz oben auf einen zweiten, noch völlig leeren Briefbogen: »Erstes Kapitel …« Er lehnte sich zurück. Jetzt mußte also ein Anfang gefunden werden, ein erster Satz, ein zündender Satz … In diesem entscheidenden Augenblick hörte Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer zum erstenmal in seiner einsamen, stillen Wohnung einen Laut, der nicht von ihm stammte. Der Laut drang unüberhörbar aus einem der übrigen, jetzt im Dunkel liegenden Räume, denn es war Abend. Da seufzte jemand. Kein Zweifel. Aufgeregt und regungslos saß der Professor an seinem Schreibtisch und lauschte. Und wieder seufzte es – von woher? Nord? Ost? Süd? West? Nein, das kam nicht von draußen. Und noch einmal ein erkältetes, tiefes, schnarchendes, dumpfes Seufzen, wie aus einem hohlen Körper. Der Professor gewann seine Fassung zurück. Was konnte das schon sein? Ein Einbrecher, dem bei seiner halsbrecherischen Tour bis ins sechsundzwanzigste Stockwerk etwas zugestoßen sein mußte, der um Hilfe rufen wollte und nicht mehr konnte. Etwas anderes fiel einem wie dem alten Bruno-Kuno jedenfalls nicht ein. Ruhig stand er auf, gelangte, auf Zehenspitzen hüpfend, kaum hörbar an die Tür zum Wohnzimmer, riß sie auf und schaltete zugleich die große Deckenleuchte an. Seine Blicke flitzten über die Möbelstücke, von Fenster zu Fenster – nichts. Da hörte er es wieder, noch schmerzlicher und gräßlicher als vorher, ein Seufzen, das ihm durch Mark und Bein ging. Hatte sich der Gangster etwa im Schlafzimmer auf sein Bett geschleppt, um es mit seinem schurkischen Blut zu besudeln? Ein Angsthase war Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer gewiß nicht. Noch immer unbewaffnet gelangte er mit drei, vier Sätzen an seine Schlafzimmertür, riß sie auf, schaltete das grelle Deckenlicht ein und schleuderte seine Blicke rundum und wieder zurück. Auch hier nichts Auffälliges. Sein Bett sah unberührt und makellos aus, wie er es vormittags selbst nach der Lüftung frisch hergerichtet hatte. Als eingefleischter Junggeselle beherrschte er sämtliche Hausarbeiten. Er knipste das Licht wieder aus und wollte durch das Wohnzimmer zurück in seinen Arbeitsraum gehen, da hörte er das Seufzen zum fünftenmal, laut, nah, leidend und nervtötend. Herr Bruno-Kuno nahm jetzt keine Rücksicht mehr. Er stürmte in seine Küche. Nichts. Er sprang durch die Diele ins Bad, ins WC und schließlich in den noch ungenutzten Raum. Dort hatte sich inzwischen etwas Gerümpel angesammelt, leere Schachteln und Kisten, die Terrassenmöbel, die Spiritons ihm zurückgelassen und die er hier zum Überwintern untergestellt hatte. Weder dort noch hier das geringste Anzeichen von einem Lebewesen. Sämtliche Fenster und Türen nach draußen auf die Dachterrasse und zum Liftflur fand er fest verschlossen vor. Kopfschüttelnd wanderte der Professor durch seine Wohnung, sinnend nahm er wieder einmal die hellen Flecken an den Wänden wahr. Spiegel hatten da gehangen. Der Professor schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirne und lachte laut auf. Er zuckte zusammen vor seinem eigenen, einsamen Gelächter. Seit er hier wohnte, hatte er in diesen Räumen noch nie eine menschliche Stimme gehört. Er führte ja keine Selbstgespräche. Sein eigenes Lachen klang schauriger als vorhin das entsetzliche Seufzen. Weshalb lachte er eigentlich?

Ach ja, die Spiegel der Spiritons waren ihm wieder eingefallen. Er als Erforscher von Aberglauben wußte selbstverständlich, was es bedeuten konnte, wenn Menschen sich wie zwanghaft zwischen zahllosen Spiegeln verschanzten. Spiegel galten bei abergläubischen Menschen als Abwehrzauber gegen Dämonen, Hexen, Gespenster und dergleichen Unfug. Die armen alten Spiritons mußten abergläubisch gewesen sein?

Offenbar kamen in dieser reizenden Wohnung seltsame Geräusche vor, wie etwa vorhin das Seufzen. Vielleicht zog es bei bestimmten Wetterlagen aus unerfindlichen Gründen durch eine Fenster- oder Wandverstrebung, durch eine Türritze oder irgendwelche Leitungen oder Schächte. Auch Vögel konnten sich hier oben einfinden, Möwen vom nahen Fluß, warum nicht gar eine Eule? Spiritons jedoch, als abergläubische Hinterwäldler vom Lande, hatten an Spuk geglaubt. Und darum hatten sie sich mit Spiegeln als Abwehrzauber umgeben. Kindische alte Leutchen.

Der Professor mußte schmunzeln. Laut zu lachen, wagte er kein zweites Mal. Er knipste sämtliche Lichter in den verschiedenen Räumen aus und kehrte zurück in sein Arbeitszimmer, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, warf einen Blick auf das in die Schreibmaschine gespannte Blatt Papier, auf das er vorhin getippt hatte: »Erstes kapitel …« – und was er jetzt dort sah, erschien ihm so sauber hingetippt, daß im ersten Moment seine Reflexe nicht mehr richtig funktionierten. Lediglich ungläubig beugte er sich vor und las halblaut vor sich hin, was dort, wie von Geisterhand als erster Satz geschrieben stand: »Wer nicht mag unter Menschen hausen, dem sollte es vor Geistern grausen!«

Der Professor schnellte von seinem Stuhl hoch, als hätte er sich nackt auf einen Wespenschwarm gesetzt. Beide Hände streckte er vor, mit gespreizten, zitternden Fingern. Seine Augen, weit aufgerissen, konnten sich nicht von dem Papier in der Schreibmaschine lösen. Ihn durchschüttelte etwas, das er bisher nicht gekannt hatte: Entsetzen. Er entfernte sich rückwärtsgehend von seinem riesigen, prachtvollen Schreibtisch, auf dem etwas geschehen war, was Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer nicht begreifen konnte. Zum erstenmal konnte er etwas nicht begreifen! Etwas Unglaubliches war geschehen, war ausgerechnet ihm zugestoßen, als einsame, unerklärliche Seufzer ihn von seiner Arbeit fortgelockt hatten.

Fast brach der Professor vor Schreck in die Knie, als er beim schaudernden Rückwärtsgehen mit dem Rücken gegen die Zimmertür stieß. Seine Rettung! Mit flatternden Händen riß er sie auf, stolperte durch das Wohnzimmer in die Diele, dachte nur eins: Raus hier! Raus! Raus!

Spuk im Hochhaus

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