Читать книгу Im Wartestand - Evelyn Marschall - Gebhard - Страница 4
ОглавлениеDas Mädchen mit den verlorenen Geldstücken
Als ich an diesem Morgen beim Wartehäuschen ankomme, sitzt bereits ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit langen roten Haaren am Boden auf dem metallenen, länglichen Abflussgitter, welches das Schutzhäuschen bei Regen vor Überschwemmung bewahren soll. Sie kramt in ihrem Geldbeutel herum, zählt ihre kleinteiligen Münzen wieder und wieder, und spricht dabei unentwegt halblaut vor sich hin.
Auf meine Frage, ob sie ein Problem habe, antwortet sie, es sei ihr eine Münze durch das Abflussgitter gefallen, und nun habe sie zu wenig Geld für den Bus, der sie an ihrem Ankunftsort irgendwohin bringen soll.
Auf meine Frage, wie viel ihr denn nun fehle, antwortet sie „20 Cent“ und ich stelle fest, dass ich gerade noch so viel Kleingeld in meinem Geldbeutel habe. Ich gebe ihr die Münze, ermahne sie aber aufzupassen, damit nicht noch mal eine Münze in die Abflussrinne fällt. Sie bleibt aber dennoch auf ihrem riskanten Platz über dem Gitter sitzen, und beim wiederholten Nachzählen, ob ihr das Geld denn nun wirklich reiche, fällt tatsächlich erneut ein Geldstück durch das Gitter. Das Ganze wird, wie schon beim ersten Mal, von gedämpftem Selbstgespräch begleitet. Das Mädchen macht auf mich einen konfusen Eindruck, sie scheint auf sich selbst angewiesen und einigermaßen überfordert zu sein. Oder sie ist möglicherweise eines von den „schwierigen“ Kindern – warum auch immer.
Da ich über keine weitere Münze mehr verfüge, verweise ich sie an einen inzwischen am Automaten hantierenden jungen Mann, der ihr das fehlende Geld auch tatsächlich ersetzt.
Schnell packt sie murmelnd alles zusammen und erwischt gerade noch den ankommenden Zug, der aber nicht in meine, sondern in die Gegenrichtung nach Lindau fährt.