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Von der Dunkelheit ins Licht

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Es war dunkel. Es war immer dunkel um ihn. Wie viele Jahre irrte er nun schon in dieser völligen Finsternis herum? Er wusste es nicht, hatte er doch keine Möglichkeit die Tage und Wochen, Monate und Jahre zu zählen, die er nun schon auf der Straße lebte und bettelte.

Manchmal, aber nur sehr selten, kamen ihm schwache Erinnerungen an Licht, an Farben und Formen. Also war er nicht immer blind gewesen, doch er konnte sich nicht mehr an sein Leben zuvor erinnern. Er konnte sich auch nicht an seine Familie erinnern, nicht an Wärme und Geborgenheit, nur das raue Leben eines Ausgestoßenen kannte er.

Wieder streckte Bartimäus den vorbeigehenden Menschen seine dünnen, ausgezehrten Hände hin, um Almosen flehend. So viele gingen einfach vorbei, ohne ihn wahrzunehmen. Manche blieben für einen Moment stehen um ihm ein kleines Geldstück zuzuwerfen, aber kaum einer redete ihn an.

Dennoch wusste er genau, was um ihn vorging, denn er hörte alles, was sich die Leute erzählten. Er wusste, was sich in der Politik zutrug, sowohl im eigenen Lande, als auch im sonstigen römischen Reich. Er kannte alle hohen Persönlichkeiten seiner Stadt mit Namen und wusste, welche Parteiungen mit welchen im Streit lagen. Alle Gerüchte und jeden Klatsch schnappte er auf, wie er so tagein, tagaus an einer Hausmauer hockte.

Im Grunde hatte er einen guten Platz ergattert, denn der Markt war nicht weit entfernt und jeder, der die Stadt in Richtung Jerusalem verlassen wollte, musste seine Straße passieren.

Bartimäus‘ Gedanken wurden zurück in die Gegenwart gerufen, als eine kleine Münze vor seinen Knien im Straßenstaub landete. Sofort rief der Bettler der Person „Schalom – Friede sei mit dir!“ nach, dann steckte er das As, eine kleine römische Münze, in die Tasche seines Gewandes. Er konnte alle Geldstücke der verbreitetsten Währungen an deren Größe, Gewicht und Prägung unterscheiden, gleich ob römische, griechische, jüdische, tyrische oder ägyptische Münzen.

Wenn es sehr heiß wurde und Bartimäus glaubte, dass der Mittag gekommen war, suchte er seinen Weg zu einem Marktstand mit Brot oder Gemüse. Oft wurde er unterwegs angerempelt oder zur Seite geschoben. An den Stimmen allein konnte er sich orientieren und den Stand mit den Lebensmitteln finden, den er suchte.

Nach dieser kleinen, aber beschwerlichen Reise, hockte er sich wieder an seinen Platz um das wenige, das er gekauft hatte, zu verzehren. Es gab keine Abwechslung in seinem Tagesablauf, nur den harten Kampf ums Überleben.

Wenn er über sein Leben nachdachte, wurde seine Traurigkeit oft zur Verzweiflung. Was war überhaupt der Sinn seines Daseins? Er wäre nur allzu gerne einmal mit nach Jerusalem hinauf gezogen, um im Tempel dem Herrn zu begegnen, aber das war eine unmögliche Vorstellung. Doch jedes Mal, wenn er Reisende bemerkte, die nach Jerusalem pilgerten, wurde sein Verlangen größer.

An diesem Nachmittag wurde es plötzlich unruhig auf den Straßen. Neugierig versuchte Bartimäus herauszufinden, was vor sich ging. Viele Leute liefen an ihm vorbei, rufend: „Er kommt!“ Doch wer es war, der Jericho in einen derartigen Aufruhr versetzte, konnte er zuerst nicht verstehen.

Auf einmal rief eine Frau neben ihm laut: „Jesus? DER Jesus aus Nazareth kommt?“ Sie lief aufgeregt weiter und auch Bartimäus versetzte diese Aussage in freudige Erwartung. Wie viel hatte er doch schon gehört, über diesen Wunderheiler aus Galiläa. Die Predigten des Mannes wurden von der ärmeren Bevölkerung begeistert aufgenommen, während sie von den oberen Schichten und den Gelehrten abgelehnt, ja sogar verachtet wurden. Doch was der Mann auch immer sagte, es wurde unterstrichen von dessen bescheidenen und vorbildlichen Lebensstil. Nie sagte dieser Jesus etwas, das er nicht auch selbst tat, und das machte ihn glaubhaft. Seine Wunder sprachen ebenfalls für sich. Wie viele Aussätzige, Gelähmte, Blinde und von Dämonen Besessene hatte er schon geheilt.

All das war Bartimäus bereits schon zu Ohren gekommen, von Männern ebenso wie von Frauen, von Alten und von Jungen. Wie so viele Menschen fragte auch er sich, ob dieser Jesus der versprochene Retter sein sollte, der Messias. Er solle ja von König David abstammen und soviel Bartimäus aus der Schrift wusste, würde der Messias eben diese Wunder tun, die Jesus aus Nazareth nun vollbrachte.

Aber Bartimäus war nur ein armer Bettler und kein Gelehrter, so konnte er nur hoffen, dass Jesus der erwartete Erlöser war. Denn wer sonst könnte ihm helfen, als der Herr allein.

Mit zitternden Knien stand Bartimäus auf und hielt sich an der Hausmauer fest. Jesus musste hier vorbei kommen. Aber würde er ihn bemerken? Würde er ihn heilen?

Der Trubel wurde immer lauter und die Straße immer voller, da alle gerne diesen Jesus sehen wollten, der überall soviel Aufsehen erregte. Bartimäus fürchtete, dass er in der Menge untergehen würde und begann zu rufen, so laut er konnte.

„Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“

Erboste Stimmen rund um ihn versuchten ihn zum Schweigen zu bringen. Ein Bettler sollte den großen Wanderprediger nicht belästigen, meinten sie. Aber davon ließ sich Bartimäus nicht einschüchtern, immer wieder rief er laut: „Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“

Immer verzweifelter klang seine Stimme, denn es schien, als hörte Jesus ihn gar nicht. Vielleicht war er zu unwürdig, um geheilt zu werden. Er, ein Nichts und Niemand, verachtet und ungesehen.

Doch er täuschte sich, denn sobald Jesus seine Stimme aus der Menge hörte, sagte er zu seinen Begleitern: „Sagt ihm, er soll herkommen.“ Zwei seiner Jünger gehorchten sofort und suchten den verzweifelten Bettler.

Bartimäus hörte plötzlich die Stimmen zweier junger Männer neben ihm und spürte Hände an seinen Ellenbogen. „Komm, er ruft dich.“ Sie führten ihn vorsichtig durch die Menschenmenge, die zurückwich. Als die beiden Jünger den Mann vor Jesus gebracht hatten, fiel dieser auf seine Knie nieder.

Jesus sah ihn mitfühlend an und fragte ihn: „Was soll ich für dich tun?“

Bartimäus Herz klopfte ihm bis zum Hals als er die warme, freundliche Stimme hörte. Noch niemals hatte jemand so mit ihm gesprochen. Als er Jesus ansprach, war er heiser vor Ehrfurcht: „Rabbuni, lieber Meister, ich möchte sehen können.“

Ängstlich wartete er auf die Antwort. Würde er angehört oder abgewiesen werden? Doch vertraute er fest darauf, dass Jesus ihn heilen konnte.

Als Jesus wieder sprach, war seine Antwort voller Freude: „Geh nur! Dein Glaube hat dich geheilt.“

Erstaunt hob Bartimäus seinen gesenkten Kopf und in diesem Moment wurde sein Blick klar. Überwältigt von dem grellen Licht, das er nicht gewöhnt war, schloss er schnell wieder die Augen. Da spürte er eine sanfte Hand auf seiner Schulter. Erneut die Augen öffnend, blickte Bartimäus direkt in das Gesicht von Jesus.

In seinem ganzen Leben würde er dieses Gesicht nicht mehr vergessen, voll Liebe blickte es ihn an und strahlte von innen heraus. Jesus hob ihn auf und fragte dann mit einem Lächeln: „Möchtest du mit uns nach Jerusalem gehen, Bartimäus?“

Es erstaunte ihn kaum, dass Jesus seinen Namen kannte. Dieser Mann war der Messias, Gottes Mensch gewordener Sohn, das war er sich nun sicher. Bartimäus konnte seine Augen nicht mehr von ihm abwenden.

„Herr, ich will dir folgen, wohin du auch gehst“, versprach er atemlos. Die Möglichkeit nach Jerusalem zu reisen, verblasste vor der Aussicht, immer in der Nähe von Jesus zu bleiben.

Das Lächeln Jesu vertiefte sich und er nickte.

Anmerkung:

Nacherzählt von Markus 10,46-52.

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