Читать книгу Und über uns die Ewigkeit - F. John-Ferrer - Страница 4

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Herbst 1940. Über dem deutschen Flugfeld in der Normandie hängt Nebel, grau wie eine Waschküche, und legt den Flugbetrieb lahm – seit Tagen schon. Unentwegt treibt der Nordwest Regenböen heran, die über die Startbahn peitschen. Am Rande des Flugfeldes stehen die Kampfmaschinen in ihren Tarnbunkern. Verdrossen und unter den umgehangenen Zeltbahnen fröstelnd patrouillieren die Posten um den Platz.

Drüben in der Werfthalle wird fieberhaft gearbeitet, denn nach jedem Einsatz gibt es eine Menge zu tun. Indessen rasten die Besatzungen, schlafen sich aus oder dreschen in den Unterkünften einen Dauerskat.

Werkmeister Brenner, im Berufsleben Maschinen-bau-Diplom-Ingenieur, nun aber der Leiter der Flugwerft, wartete gespannt, bis die eben mit einem Austauschmotor versehene Ju 88 aus der Halle geschoben wird. Dann klettert er durch den Einstieg in die Maschine, klemmt sich in den Führersitz und wartet, bis der elektrische Anlasser die linke Luftschraube durchdreht. Knatternd springt der Motor an, beginnt zu rasen, zu jaulen, zu brüllen. Mit vorgeschobenem Kopf horcht Brenner auf das Dröhnen, nickt zufrieden, reguliert die Drehzahl, kontrolliert die Messinstrumente, nickt abermals. Das wäre also wieder mal in Ordnung.

Ein Beben zuckt durch den Leib der Ju. Wie ein Rennpferd, das zu lange im Stall gestanden hat, zittert der große Vogel. Das ist Musik für Fliegerohren, die schönste, die es gibt!

Das Orgeln der probelaufenden Maschine weckt Leutnant Hanke aus dem Schlaf. Erst hebt er den Kopf, dann stützt er sich auf die Ellenbogen und horcht. Schließlich begreift er, dass er nicht in der Ju sitzt, sondern tief und fest und lange geschlafen hat.

Der Leutnant rappelt sich auf, kratzt sich im Haar, dann im Nacken, gähnt, fischt nach den Zigaretten und zündet sich eine an. Er ist von kleiner, fast knabenhafter Gestalt, hat ein schmales, scharfgeschnittenes Gesicht und viele Fältchen um die grauen Augen herum.

Die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen, die Barackenwand im Nacken und am Hinterkopf, die Beine weit von sich gestreckt, denkt Horst Hanke über seinen letzten Flug nach, den 67.

Wäre wieder mal um ein Haar schiefgegangen! Beim Rückflug hängte sich eine Hurricane an und verschoss sich, zerhämmerte aber noch den rechten Motor der Ju, und man kam auf dem letzten Pfiff daheim an. Glück muss der Mensch haben, zumal wenn er ein Flieger ist!

Natürlich sind Kameraden da, die mehr Erfolge aufzuweisen haben. Vor sechs Wochen hängte man Oberleutnant Greiner das Ritterkreuz um den Hals, weil er drüben eine wichtige Raffinerie zu Klumpen bombte und noch etliches mehr.

Nicht jeder Feindflug bringt besondere Schwierigkeiten oder große Kämpfe mit sich. Es gibt Besatzungen, die zu ihrem Leidwesen planmäßig ihre Routinen abspulen und nur gelegentlich zu außergewöhnlichen Kampferlebnissen kommen. Daneben stehen die, die sich ständig mit dem Tommy in den Haaren haben.

Hanke gehört zu diesen, er und seine Besatzung. Jeder einzelne steht seinen Mann, egal ob es der Bordmechaniker oder der Funker ist. Neben jedem sitzt der Tod, wenn die Motoren donnern und tief unten die Flak zu schießen beginnt.

Alles ist anders gekommen, als Hanke es sich einstmals ausgedacht hatte. Bei der Lufthansa wollte er fliegen, lange Strecken, mal dahin, mal dorthin, durch die ganze Welt. Nun muss er einen der gefürchteten Bomber fliegen, nun setzt er täglich sein Leben aufs Spiel, rauft sich mit dem Feind herum, zerstört ihm wichtige Basen, lässt Fabriken und Hafenanlagen in Qualm und Trümmer aufgehen oder visiert auch nur einen einsamen Frachter an.

Manchmal, so wie jetzt, fragt Hanke sich, wann er dran ist. Morgen schon? Oder übermorgen? Viele bleiben am Feind. Auf der schwarzen Tafel drüben in der Flugleitung stehen eine Menge Namen: Kameraden, die nicht mehr zurückkamen. Wann bin ich fällig? Oder gehöre ich zu jenen, die immer wieder Glück haben? Oder wird man eines Tages doch verheizt? Abwarten! Weitermachen und nicht dran denken! Denken macht Gedanken, und Gedanken können lästiger sein als eine angriffslustige Hurricane.

Hanke lässt sich zur Seite fallen, zieht die Beine auf das Bett, nimmt die Zigarette aus dem Mund, drückt sie auf dem Fußboden aus und dreht sich der Barackenwand zu.

Schlafen! Schlaf ist gut, viel besser, als drüben im Kasino zu sitzen und Kognak zu gurgeln oder von den Mademoiselles zu erzählen, aus denen Hanke sich gar nichts macht. Dafür hat er seinen guten Grund, einen Grund, über den der knabenhaft schlanke Leutnant nicht nachdenken, geschweige denn reden will.

Hanke kommt nicht mehr zum Schlafen. Im Barackenflur ertönen Schritte. Jemand flüstert, dann geht, leise knarrend, die Tür auf.

Hanke drehte sich um. Ein großer, breitschultriger, gutaussehender junger Mann steht auf der Schwelle, schaut grinsend auf Hanke hinunter, legt die Hand an den Mützenschirm und sagt lachend:

»Leutnant Brechtmann meldet gehorsamst seine Versetzung zur sechsten Jagdstaffel und gibt sich die Ehre, Herrn Leutnant Hanke …«

»Mensch!«, unterbricht Hanke ihn und springt auf, »Rudolf! Mich haut’s um!«

Lärmende Begrüßung, Umarmung, Schulterklopfen, Durcheinander. Zwei Freunde haben sich wiedergetroffen. Rudolf und Horst kennen sich von Berlin her. Seit Jahren schon. Rudolf Brechtmann ist der Sohn eines reichen Hotelbesitzers, kann – oder besser gesagt –, konnte sich vieles mehr leisten als Horst, der sich sein technisches Studium selbst verdienen musste. Immer aber hockten die beiden beisammen, trafen sich fast täglich, erlebten heitere und ernste Stunden. Dann brach der Krieg aus, und man verlor sich aus den Augen.

»Junge, Junge, das ist eine Überraschung!« Hanke mustert ohne Neid den Freund und stellt fest, dass Rudolf in der Uniform noch schneidiger aussieht, noch auffallender als in Zivil. Er ist der Typ, dem die Mädchen hinterherseufzen, um dann in verliebte Träumereien zu geraten. Hanke weiß einiges davon, weiß von Liebesgeschichten, über die er manchmal den Kopf geschüttelt hat.

»Mach den Spind auf«, lacht Rudolf. »Oder hast du keinen Kognak? Dann segeln wir ins Kasino rüber.«

Hanke hat Kognak. Eine halbe Flasche voll. Er schenkt zwei Zahnputzbecher ein, und dann zeigt es sich, dass der kleine Leutnant auch ein großes Glas Kognak inhalieren kann.

»Prost, Casanova!«

»Prost, Jockey!« Auch Rudolf nennt den Freund mit dem Spitznamen aus vergangenen Tagen, was sich dieser gern gefallen lässt, obwohl er noch nie auf einem Gaul gesessen hat.

»Erzähl! Erzähl!«

»Bin zur Sechsten versetzt worden«, strahlt Rudolf.

»Ah! Wunderbar! Jäger also.«

»Ich bin der glücklichste Mensch, Horst. In Berlin war’s, was Freizeit anbelangt, ganz interessant, dienstlich aber stinklangweilig. Nichts los! Die Kollegen an der Waterkant haben uns die ganze Arbeit abgenommen. Schließlich bat ich an die dreimal, schriftlich und mündlich, um Versetzung an die Front. Der Alte wollte mich partout nicht gehen lassen. Weiß der Himmel, warum er dann endlich ja sagte. Und jetzt bin ich da!«

»Großartig!«

Sie schauen sich lachend an. Sie trinken wieder. Dann muss Hanke von seinen Erlebnissen erzählen. Darüber vergeht die Zeit.

»Man hat dich ganz hübsch dekoriert«, stellt Rudolf fest, als Hanke in die Uniformjacke schlüpft. »Bei mir ist noch alles leer.«

»Hier kommst du schnell zu was«, tröstet Hanke und klopft dem Freund auf die Schulter. »Hast du schon eine Maschine?«

»Prima Vögelchen! Klasse!« Rudolf küsst seine Fingerspitzen. »Fliegt wie eine Eins.«

»Hals- und Beinbruch damit!«

Arm in Arm gehen sie hinaus zur Werfthalle hinüber. Hanke zeigt Rudolf seine startklare Maschine, klettert mit ihm hinein, startet die Motoren, lässt sie aufbrüllen, schaltet sie wieder ab.

»Eigentlich schade, dass wir nicht in einer Formation fliegen«, bedauert Rudolf. »Aber wie ich hörte, fliegt die Sechste immer mit. Es wird also zu meiner schönsten Aufgabe zählen, dir den Tommy vom Hals zu halten.«

»Kriegst sicher reichlich Gelegenheit dazu«, lacht Hanke. Sie fachsimpeln eine Weile. Der Regen prasselt auf das Kanzelglas. Es ist finster in der Maschine.

Die beiden Leutnants sitzen noch immer nebeneinander. »Was ist eigentlich aus Doris geworden?«, fragt Rudolf den Freund.

Hankes Miene verändert sich. Er umklammert das Steuerhorn und starrt auf das Armaturenbrett. »Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Wir haben uns getrennt.«

»Nicht möglich!«

»Doch!«

»Wann denn?«

»Im Mai dieses Jahres, während meines Urlaubs.«

Kurzes Schweigen. Rudolf mustert den Freund. »Dann wird es dich ja nicht weiter berühren, wenn ich dir sage, dass ich Doris mit Heinz Berger gesehen habe.«

»Nein, das berührt mich nicht.«

Hankes Antworten haben so knapp und entschieden geklungen, als wäre er frei von allen Gefühlen.

»Und ich dachte immer, aus euch beiden wird was«, bemerkt Rudolf. »Ihr kanntet euch ja immerhin …«

»… zwei Jahre«, unterbricht Hanke ihn und nickt. »Dann aber brach der Krieg aus.«

»Ist das der Grund?«

Hanke lässt die Steuergriffe los und sagt: »Ja, das ist der Grund. Du weißt, ich habe niemanden, ich wollte auch niemanden um mich haben.« Hanke lehnt sich zurück und lächelt starr. »Man fliegt ein bisschen freier, wenn man keinen Anhang hat.«

»Komische Ansichten«, brummt Rudolf. »An so was habe ich noch nie gedacht …«

»Die meine wenigstens.« Hanke legt dem Freund die Hand auf die Schulter. »Reden wir nicht mehr darüber. Gehen wir ins Kasino und nehmen wir noch einen zur Brust.«

Als die beiden aus der Maschine klettern, kommt Feldwebel Semmler mit dem Funker heran, gleich darauf auch Emmes, der Bordmechaniker. Hanke stellt sie der Reihe nach vor, und Rudolf schüttelt den Kampffliegern die Hände.

»Prima Burschen«, sagt Hanke, als sie durch den Regen zum Kasino hinübergehen, das in einem alten Bauernhof untergebracht ist.

»Also bist du doch nicht ganz frei, wenn du fliegst«, meint Rudolf. »Du hast denen gegenüber die Verantwortung, sie heil heimzubringen.«

»Das ist etwas ganz anderes, Rudolf. Wir stehen schließlich alle unter einem Befehl und wissen genau, wohin wir fliegen.«

Es wird spät an diesem Abend. Rudolf fährt erst gegen Mitternacht zu seiner Einheit zurück.

Der nächste Tag bringt besseres Wetter. Früh am Morgen nehmen die Besatzungen die Einsatzbefehle entgegen. Minuten später starten die einzelnen Verbände.

Hankes Einsatzbefehl lautet: Einflug in die Themsemündung. Tiefangriffe auf feindliche Flugplätze.

Bis zur Küste fliegt Hanke im Verband der Kameraden. Dann scheren die Maschinen aus, um einzeln ihre Ziele zu suchen. Die Sicht ist hier noch gut, über England aber soll es bewölkt sein.

Gleichmäßig Brummen die Motoren. Hanke horcht gespannt auf ihren Klang, kontrolliert die Instrumente, bespricht sich durchs Kehlkopfmikrofon mit Feldwebel Semmler, der den Kurs anweist und im Auge behält. Da meldet sich der Gefreite Schöner: »Eigene Jagdverbände übernehmen Jagdschutz.«

Rudolf wird dabei sein, denkt Hanke und schmunzelt vor sich hin. Es ist ein schönes Gefühl, einen alten Kameraden in der Nähe zu wissen. Hoffentlich hat er Glück und holt einen oder zwei runter!

Lustig ist es gestern abend zugegangen. Man hatte ziemlich viel getrunken und kam aus der Fachsimpelei nicht mehr raus. Später, als Hanke Rudolf zum Wagen brachte, kam die Rede noch einmal auf Doris Brandorff. Hanke schwor Stein und Bein, dass er mit der Geschichte endgültig fertig sei. Rudolf aber wollte das nicht glauben. War Hanke wirklich fertig mit der Sache? Natürlich! Schon lange! Deshalb flog er ja so kaltschnäuzig. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Oder doch?

Der lange Feldwebel warf Hanke einen Blick zu. Hanke grinste aufmunternd. Und vorne in der Kanzel lag Emmes hinter dem MG, und hinten, fast Rücken an Rücken, hockt Schöller am Funkgerät, in Griffnähe das Heck-MG. Und der neue Motor singt so prächtig, und die Sonne scheint, und der Himmel ist mit einem Mal so blau und herrlich weit!

Diese Kameradschaft, diese brav dahinfliegende Maschine, der erhaltene Kampfauftrag und das Wissen, sich wieder einmal als Mann bewähren zu müssen, das alles bedeutet mehr als ein blondes Mädchen mit grünen Augen und einem Mund, der … Nicht dran denken!

Hanke schaut nach unten. Sie fliegen jetzt über dem Kanal. Weit vorn zeichnet sich ein heller Strich hinter dem Grau ab: England. Semmler gibt den neuen Kurs durch, und Hanke dreht nach Nordost ab.

Ein paar Minuten später nähern sich von links drei rasend schnell heranschießende dunkle Striche: Jagdmaschinen. Kameraden! Ist Rudolf dabei? Ja! Dort!

Hanke sieht die grüßende Hand hinter dem Plexiglas, sieht einen vermummten Kopf.

»Mach’s gut, Casanova«, murmelt Hanke. Semmler hört das mit und grinst.

Die drei Me 109 flitzen davon, fliegen einen weiten Bogen und verschwinden in einer hellen, lockeren Wolke. Gleich muss die feindliche Flak schießen. Man befindet sich bereits über England. Hier ist immer etwas los. Jeden Augenblick können feindliche Jäger auftauchen, und die Kurbelei beginnt. Um dies zu vermeiden, ist ja die sechste Jagdstaffel unterwegs. Wenn ein feindlicher Jagdverband gestartet ist, werden sie ihn stellen.

Und wieder flitzt eine Staffel quer an der Ju vorbei. Die Maschinen schimmern im Sonnenlicht, das Glas der Kabinendächer funkelt auf.

Es ist beruhigend, wenn man diese wendigen, wie Hornissen dahinjagenden Maschinen sieht. Bewährte Flieger sitzen an den Knüppeln. Fast jeder hat schon einen oder mehrere Gegner abgeschossen. Auch Rudolf wird heute zum Schuss kommen – Rudolf, der sich in Berlin so scheußlich gelangweilt und hartnäckig die Versetzung betrieben hat. Jetzt kann er beweisen, ob er fliegen kann, ob er eine ruhige Hand hat und eiserne Nerven!

Da! Flakbeschuss. Kleine, giftigfarbene Wölkchen, links voraus, wachsen plötzlich in der Luft. Der Feind wehrt sich. Und es wird noch schlimmer zugehen, je tiefer man ins Land einfliegt.

Die Ju brummt weiter. Die Spannung wächst mit jeder Minute. Dann und wann reißen die Wolken auf, und man kann hinabschauen. Tief unten rollt ein wunderlich grüner Teppich ab mit farbigen Punkten und quadratischen Mustern darauf. Jetzt verschwindet alles, und man fliegt über einen schweeweißen Lammfellteppich. Dann wieder ein Wolkenloch.

»In einer Minute müssen wir tiefer gehen«, lässt sich Semmler vernehmen.

Hanke nickt. Sie nähern sich dem Ziel: ein Flugplatz in der Nähe der Stadt Gravesend. Man vermutet dort ein großes Treibstofflager und eine Werft, in der beschädigte Maschinen überholt und repariert werden.

Das Spritlager ist das wichtigste. Wird man es finden? Gewöhnlich werden solche Lager gut getarnt und stark bewacht. Mal sehen!

Die Minute ist um. Hanke drückt die Maschine, und gleich darauf ist man in einer lichten Wolke. Augenblicke später ist sie durchstoßen, und tief unten rollt grünes Land vorbei. Dann sieht man eine Straße, die auf eine Stadt zuläuft, weit dahinter, in nördlicher Richtung, schimmert der breite Strom: die Themse. Alles schweigt, nur die Motoren dröhnen. Vorn in der Kanzel schwenkt Emmes angriffslustig das Bug-MG.

Hanke umklammert das Steuerhorn und wirft einen Blick auf die Silberscheibe rechts. Der neue Motor läuft perfekt, mit der gleichen Drehzahl wie der andere.

Ich muss Brenner noch eine Schachtel Zigaretten schenken, geht es Hanke durch den Kopf. Ich habe es ganz vergessen.

Feldwebel Semmler sagt eine Kurskorrektur durch. Hanke nickt, dreht die Ju in die neue Richtung und geht tiefer. In fünf Minuten muss das Ziel auftauchen. Nur im Tiefflug kann man den Feind überraschen. Man muss wie der Blitz auftauchen, das Erschrecken des Feindes ausnützen, das kurze Zögern, und dann zuschlagen. Wo ist das genaue Ziel?

Da! Flak schießt! Dort muss also was los sein!

Noch tiefer drückt Hanke die Maschine. Kaum fünfzig Meter über dem Boden jagt der riesige Bleistift auf die blitzenden Mündungsfeuer leichter Flak zu. Emmes schießt bereits, was das MG hergibt. Hanke späht durch das Visier und versucht, etwas auszumachen. Erst mal ein Anflug!

Wie tückische Kobolde zischen die Leuchtspurgeschosse heran, vorbei, links und rechts vorbei. Von allen Seiten wird jetzt geschossen. Hanke erkennt jetzt die getarnte Werfthalle und ein paar abgestellte Feindmaschinen. Etwas weiter dahinter wölbt sich etwas aus der Erde hoch. Von dorther schlägt ihm besonders wütendes Abwehrfeuer entgegen. Das muss also das Spritlager sein!

Hanke zieht die Ju hoch, kurvt nach links, steigt weiter. Dann jagt die Maschine in einem großen Bogen zurück und legt sich erneut in die Kurve.

»Achtung! Ich stürze!«, ruft Hanke der Besatzung zu.

Der entscheidende Moment. Der Boden rast auf die Maschine zu, unheimlich schnell wächst alles, wird überdimensional. Auf den Ohren der Flieger lastet ein dumpfer Druck. Man ist versucht, die Augen zu schließen, doch man reißt sie auf, man muss das Ziel im Auge behalten!

Hanke visiert die Werfthalle an. Menschen rennen davon. Von irgendwo spritzt und blitzt das Feuer der Flak. Die Bombe fällt.

Fast unmittelbar darauf rüttelt eine Riesenfaust an der steil hochziehenden Ju. Sie hinterlässt Tod und Vernichtung. Trümmer fliegen durcheinander, Rauch quillt hoch. Das Getöse der Bombenexplosion mischt sich mit dem Jaulen der davonjagenden Maschine.

»Treffer!«

Wie ein Teufel hockt Hanke hinter dem Steuer. Noch einmal legt er die Ju in eine Steilkurve, fliegt zum zweiten Mal an. In diesen Sekunden ist Hanke kein Mensch mehr, in diesen kurzen Augenblicken ist er ein Satan; der kleine, schmale Leutnant mit dem melancholischen Blick verwandelt sich in einen grinsenden Dämon.

Jetzt ist das Treibstofflager dran. Todesmutig feuert die auf einem Hügel postierte Flak. In den Tragflächen splittert es, platzen winzige Löcher auf. Doch die Ju fliegt, schießt im Sturzflug auf das Ziel zu. Die Bombe löst sich, heult hinab und detoniert mit höllischer Wucht, fetzt die Erde auseinander, durchschägt den Riesentank.

Im Hochziehen wirft Hanke einen Blick zur Seite hinab. Eine rußige, feurige Wolke spritzt empor. Ein ohrenbetäubender Krach, dann steigt eine lodernd brennende Wolke auf. Fetter, schwarzer Qualm wälzt sich gegen den Himmel. Das Spritlager brennt. Von irgendwoher speit noch eine Flak Feuer auf die höher und höher ziehende Ju, aber es erreicht sie nicht mehr.

Während tief unten die Vernichtung wütet, glänzen Schweißperlen auf Hankes Gesicht, und das starre Grinsen lockert sich.

»Hat hingehauen, was?«

»Ganz prima«, nickt Feldwebel Semmler.

Hanke zieht seine Maschine höher und höher, steuert in eine lichte Wolke hinein …

Das war eine Freude! Rudolf Brechtmann ist restlos glücklich. Die neuen Kameraden sind prima Kerle, vom Alten angefangen bis zum einfachen Flieger. Auch mit dem Bodenpersonal ist Rudolf gleich auf Tuchfühlung gegangen. Man mag den gutaussehenden Leutnant, der die Maschine des verwundeten Vorgängers fliegt.

»Der kann was«, sagte der Staffelkapitän anerkennend, als Rudolf seine ersten Runden drehte und unten alles nach oben schaute. »Äh, wie heißt er gleich?«

»Leutnant Rudolf Brechtmann«, erinnerte der Oberleutnant.

Das war vor drei Tagen gewesen. Gleich nach dem Probefliegen war Rudolf zum Kampfgeschwader gefahren, um mit Hanke zusammenzutreffen. Auch diese Stunden waren heiter gewesen. Zwei gute Freunde hatten sich wiedergetroffen. Das trug noch mehr dazu bei, sich wohl zu fühlen und in einen Taumel des Glücks zu geraten.

Heute also war Rudolf auf seinen ersten Feindflug gegangen, »auf die Reise«, wie der Kommodore zu sagen pflegte.

Der Tag hatte vielversprechend hell begonnen. Es war eine Lust, in der Sonne zu fliegen – für Rudolf wenigstens. Er flog im Verband, links und rechts die neuen Kameraden, mit denen man rasch eins geworden war.

Unter Fliegern geht das besonders schnell: Man schaut sich in die Augen, man reicht sich die Hand, man spürt an dem Druck, wen man vor sich hat, und man weiß es genau, wenn der »Neuling« seine fünf Minuten Probeflug hinter sich hat und aus der Kiste steigt.

Fast gleichzeitig mit dem Start des Bombergeschwaders waren die Jäger aufgestiegen. Zehn Minuten später war Rudolf an Hankes Ju 88 vorbeigesegelt, hatte gewinkt und sich genauso gefreut wie der Freund.

Befehle vom Staffelkapitän. Von Maschine zu Maschine. Dann brausen sie durch die Wolkendecke hindurch und halten nach Gegnern Ausschau.

Rudolfs Herz schlägt ruhig und hart. Eine Spannung liegt über dem Mann am Steuer der Me 109, eine ganz andere Spannung als damals, als er in Berlin flog, über die Stadt hinweg, ohne jemals jemanden zum Kampf stellen zu können. Rudolf spürte, dass die Stunde der Bewährung gekommen war. Er hatte sich nach ihr gesehnt, er wollte die Spannung loswerden. Wo ist der Tommy? Hier soll doch immer etwas los sein!

Die Flugzeit der Me 109 ist begrenzt. Man muss auch an den Heimweg denken. Das heißt also, dass man die Spritvorräte im Auge behalten muss!

Aha. Die Flak rührt sich. Der Beschuss gilt den hoch oben dahinziehenden Kameraden.

Auch hinter den dahinjagenden deutschen Jagdflugzeugen zerplatzen jetzt Sprengwolken. Bald müssen die feindlichen Jäger auftauchen.

»Achtung! Feindjäger!«

Da ist also schon der Alarmbefehl. Und jetzt geht alles unglaublich schnell. Ein ganzes Rudel Spitfires taucht plötzlich auf und zieht unterhalb der Kette vorbei. Wie kleine, schwarze Striche hängen die Feindmaschinen in der Luft.

»Drauf auf sie!«

Schon klemmt sich der Staffelführer hinter eine Spitfire und versucht sie ins Visier zu bekommen.

Rudolf schert aus. Auch er hat einen Gegner erkannt und stößt auf ihn zu. Jeder Nerv spannt sich. Rudolf beißt die Zähne zusammen. Die Maschine schießt auf den Engländer zu … ein paar kleine Korrekturen am Steuerknüppel, dann schwimmt die Spitfire ins Fadenkreuz hinein.

Die Bordwaffen rütteln an der Me. Rudolf hat den ersten Feuerstoß losgelassen. Der Engländer kippt ab, stürzt. Getroffen? Nein! Also ihm nach. Er täuscht nur. Er zieht schon wieder hoch und will Rudolf übersteigen. Eine tolle Kurbelei beginnt. Der Schnellere wird siegen. Die Me ist schneller, die Spitfire wendiger. Rudolf drückt den Knopf und schießt. Mitten in die dicht vor der Me hängende Spitfire zischen die Leuchtspurgarben.

Der Engländer bäumt sich auf, schießt hoch. Gleichzeitig bläst er eine dunkle Rauchwolke ab und zieht sie nach. Dann scheint die Feindmaschine eine Weile still in der Luft zu hängen. Flammen schießen aus ihr heraus. Dann stürzt sie, mit langer, lodernder Feuerfahne ab.

Der erste Abschuss. Der Engländer ist »abgestunken«. Rudolf kann es gar nicht glauben, dass alles schon vorbei ist. Geht das so schnell?

Ich bin ja gar nicht anders geflogen, als ich es gelernt hab, denkt er, während er die Me 109 hochzieht. Ich hab genau das gemacht, was man mir beim Schulfliegen eingedrillt hat. Und auf einmal hat man gesiegt.

Ein Blick nach unten überzeugt Rudolf, dass er über die Wolken hinausgeschossen ist. Also umkehren! Wieder hinein und hinunter! Weitermachen! Zwei … drei müssen noch zum »Abstinken« gebracht werden!

Als Rudolf dann durch die Wolkendecke stößt, sieht er, dass der Luftkampf weitergeht. Die Kameraden haben die Engländer aber von den Bombern abgelenkt. Im tollen Durcheinander weiß man erst gar nicht, was Feind und was Freund ist.

Da! Diesmal ist es eine Hurricane, die sich Rudolf vornehmen will. Die Kurbelei beginnt von Neuem. Aber der Engländer ist ein ausgekochter Bursche, der sich nicht packen lässt. Verbissen versuchen die beiden, hinter den Gegner und zum Schuss zu kommen.

Die Hurricane ist sehr wendig. Was der Engländer da an fliegerischem Können zeigt, will Rudolf bange machen. In engen Steilkurven geht die Jagd weiter. Dann reißen sie die Maschinen wieder hoch. Looping, Turn, alles kommt dran. Im Sturzflug geht es wieder tiefer. Auf einmal sieht Rudolf, dass unter ihm das Meer ist. Soeben rast der Engländer seitlich vorbei, stellt die Maschine auf die rechte Flügelspitze, kurvt ein und schießt auf Rudolf zu.

Zu spät merkt Rudolf, dass er der Hurricane direkt ins Schussfeld fliegt. Schon flitzen die schimmernden Perlenketten ran. Schon zersplittert das Panzerglas, wird milchig, bekommt winzige Löcher. Plötzlich greift eine höllische Hitze nach Rudolfs Beinen. Heißes Ol spritzt ihm ins Gesicht und macht die Brillengläser blind. Es hat ihn erwischt! Diesmal war der Engländer der Sieger!

Scheiße, verfluchte! Raus aus der Kiste! Kabinenhaube runter! Springen! Die Haube wird weggerissen. Eine jaulende Riesenfaust packt zu und zerrt Rudolf heraus. Dann beginnt der wahnwitzige Sturz in die Tiefe, dem grauen, schimmernden Wasser entgegen.

Etwa zweihundert Meter weiterab stürzt eine brennende Maschine in die Tiefe, schlägt auf das Wasser auf und verschwindet im Meer. Der Staffelkapitän hat sich den abfliegenden Engländer vorgenommen und abgeschossen. Dem Feind bleibt keine Möglichkeit mehr, auszusteigen. Er stürzt mit der brennenden Hurricane in den Tod.

Rudolf ist kopfüber und hin und her gepurzelt. Instinktiv hat er die Reißleine des Fallschirms gezogen. Der bringt ihn sogleich in Normallage. Rudolf pendelt aus. Eine sanfte Luftfahrt beginnt – nach unten, dem Meer zu. Weit drüben schimmert die rettende Küste … viel zu weit, um sie schwimmend zu erreichen.

Hanke ist aus den Wolken herausgestoßen und fliegt der Sonne entgegen, die jetzt im Süden steht. Die Besatzung der Ju hat den Luftkampf teilweise gesehen, hat die vier Abschüsse registriert und einander zugebrüllt, wenn einer abschmierte und eine Rauchfahne hinter sich herzog. Jetzt fliegt die Ju unter klarem Sonnenhimmel. Hoffentlich ist Rudolf gut abgekommen und hat einen abgeschossen, denkt Hanke. Da meldet Emmes, dass rechter Hand ein Fallschirm niedergeht.

Hanke schaut hinaus. Ja, dort pendelt einer runter! Ein Kamerad! Hanke fragt nach hinten, ob etwas los sei.

»Keine Feindmaschine zu sehen. Eigene Jagdstaffel entfernt sich Richtung Heimat.«

Die Me’s müssen heim. Der Sprit reicht nur noch bis zum Flugplatz. Hanke sieht, dass zwei Me 109 um den niederpendelnden Fallschirm kurven. Dann kommt ein Funkspruch, dass die Ju den abgeschossenen Flieger sichern soll.

»Wer ist es?«, fragt Hanke an.

»Leutnant Brechtmann«, lautet die Antwort im Sprechfunk.

Hanke beißt die Zähne zusammen. Armer Kerl, hast Pech gehabt, denkt er.

Dann drückt Hanke die Ju nach unten und fliegt der Stelle zu, an der eben der Fallschirm auf die graublaue Flut niedersinkt.

Hart klatscht Rudolf in die kalte See, taucht unter, rappelt sich hoch, fingert nach dem Fallschirmschloss und öffnet es. Endlich ist er frei. Die Schwimmweste trägt den Körper. Nur der Kopf schaut aus dem Wasser. Rudolf spuckt und hustet. Salzwasser schmeckt ekelhaft.

Da! Etwas donnert über Rudolf hinweg. Er schaut hinauf, drehte sich, sieht das Leitwerk einer Ju 88 und atmet auf. Er ist nicht allein. Gott sei Dank! Die Kameraden sind da! Ob es Horst Hanke ist?

Ja, er ist es!

Rudolf erkennt die Maschine, sieht die winkende Hand, als die Ju noch einmal vorbeifliegt und in eine weite Kehre geht.

Erst jetzt kommt es Rudolf zum Bewusstsein, dass er gesiegt und doch verloren hat. Ihm ist zum Heulen zumute. Die schöne Me 109 ist beim Teufel! Der erste Feindflug und schon abgeschossen! Was hilft’s, dass man einen runtergeholt hat! Wer weiß, ob der Abschuss anerkannt wird, ob ihn jemand beobachtet hat! Rudolf hängt schlaff in der Schwimmweste. Er hat keine Lust zu schwimmen. Er möchte am liebsten absaufen. Einfach die Schwimmweste runterreißen und sich sinken lassen! Aber er tut es nicht.

Die Ju ist plötzlich wieder da. Hanke winkt im Vorbeifliegen.

Er lacht mich sicher aus, denkt Rudolf. Ich spür’s direkt, dass er sich eins feixt.

Die Ju fliegt keine hundert Meter über dem Wasser. Weit und breit ist kein Schiff zu sehen. Die Küste liegt etwa zehn Meilen entfernt. Und Leutnant Rudolf Brechtmann klappert mit den Zähnen – nicht nur vor Kälte, auch vor Wut und Enttäuschung. Dann versucht er, sich durch Schwimmen warm zu machen.

Indessen funkt die Ju den Seenotdienst an: »Abgeschossener Flieger im Planquadrat 16a. Entsendet sofort Rettungsmaschine.«

Hanke wirft einen Blick auf die Treibstoffuhren. Noch etwa 15 Minuten kann er sich in der Nähe Rudolfs aufhalten, dann muss er heimfliegen.

»Emmes, pass auf, dass uns kein Tommy den Schwanz absägt!«

»Noch nischt zu sehen, Herr Leutnant.«

»Schöner, was hat die Seenotstelle geantwortet?«

»Maschine startet sofort.«

»Dann kann sie in frühestens fünfzehn Minuten da sein«, sagte Semmler und starrt aufs Wasser hinunter.

Weit drüben sieht man einen dunklen Punkt, einen Menschenkopf aus dem Wasser ragen.

Hanke fliegt noch einmal an Rudolf vorbei, streckt eine Hand durch das Schiebefenster und winkt.

»Na ja, ich kann nichts dafür«, grunzt Rudolf und hebt ebenfalls grüßend eine Hand aus dem Wasser. »Hauptsache, ich bin nicht hopsgegangen dabei …«

Nein, das ist er diesmal noch nicht. Er hat seinen ersten Luftsieg errungen. Jemand wird es bestimmt gesehen haben. Und dann … Was dann, denkt Rudolf, während er langsame Tempi macht, um das Blut zirkulieren zu lassen. Das passiert doch jedem Dritten mal, dass er eins draufgebrannt kriegt. Fürs EK II reicht’s bestimmt … Und hätte ich besser aufgepasst, hätte ich den Tommy auch noch erwischt … War ein tüchtiger Bursche! Schade, dass er doch noch runtergeholt wurde. Wäre mir beinahe auf den Kopf gefallen! … Hätte mir ebenso ergehen können. Was maule ich also? Hatte doch Glück! Riesenmassel, wie man so schön sagt!

Das sind die Gedanken, mit denen Rudolf im Wasser hängt und mit langsamen Armstößen schwimmt. Wie eine besorgte Glucke kurvt indessen die Ju um den in Seenot geratenen Flieger herum.

Hanke lässt keinen Blick von Rudolf, passt auf ihn auf, wünscht sich, Schwimmer anstelle eines Fahrgestells zu haben. Immerhin – Rudolf ist nicht draufgegangen! Dort drüben schwimmt er! Armer Kerl! Wenn man ihn herausfischt, wird er fluchen und mindestens vier Glas Glühwein oder Grog trinken.

Die fünfzehn Minuten sind um. Hanke schaut besorgt auf die Treibstoffuhren. Höchste Zeit, dass man den Heimflug antritt! Auch Feldwebel Semmler nickt, als er mit Hanke einen Blick tauscht.

Hanke fliegt eine letzte Runde.

»Flugzeug in Sicht!«, meldet Schöller von rückwärts. Der Himmel ist leergefegt von Wolken. Die Sonne scheint hell und klar.

Von der französischen Küste her nähert sich eine Maschine. Eine Heinkel He 59 ist es, ein Wasserflugzeug für den Seenot-Rettungsdienst. Sie hat schon etliche aus dem Kanal gefischt.

Die Ju kurvt noch in halber Höhe über dem schwimmenden Punkt und dreht etwas ab, als auch die Heinkel einfliegt und um Rudolf zu kreisen beginnt. Dann hat sie ihn ausgemacht.

Hanke wartet noch, bis die Seenotmaschine auf der leicht bewegten See aufgesetzt hat, sich an Rudolf heranschiebt und ihn aus dem Wasser holt.

»Hat wieder mal einer Schwein gehabt«, lässt sich Semmler vernehmen.

Hanke nickt. Dann zieht er die Ju hoch und braust Richtung Heimat ab. Tschüss, Casanova, denkt er. Wir sehen uns ja bald wieder.

Rudolf Brechtmann hockt unterdessen in der Rettungsmaschine und schnattert mit den Zähnen.

»Wir sind gleich da«, ruft ihm ein Unteroffizier zu. »Sind Sie verwundet?«

Rudolf schüttelt den Kopf.

Erst jetzt kommt es ihm zu Bewusstsein, dass er unverschämtes Glück hatte. Nicht jedem gelingt es, auszusteigen und anschließend von den eigenen Leuten aufgefischt zu werden. Denn auch die Engländer machten sich nur zu gerne erbötig, einen deutschen Flieger aufzufischen; Verhöre, Zigaretten und freundliche Fragen leiten dann die Gefangenschaft ein.

Pfui Deibl, denkt Rudolf, das hätte mir gerade noch gefehlt.

Eine Viertelstunde später landet die Heinkel in einem kleinen Hafen. Auf der Kimme des ansteigenden Ufers glaubt Rudolf, eine Küstenbatterie in Stellung zu erkennen. Im Hafen selbst liegen nur ein paar französische Fischerkähne und drei deutsche Schnellboote. Etwa hundert Schritt weiter rechts steht ein barackenähnliches Gebäude, mit Tarnanstrich versehen und mit einem Funkmast ausgestattet.

Rudolf bedankt sich bei der Heinkel-Besatzung. Dann geht er über einen wippenden Laufsteg an Land, gefolgt von dem Unteroffizier. Von den Schnellbooten herüber gucken ein paar Matrosen. Rudolf beeilt sich. Ihm ist nicht ganz wohl zumute; er schämt sich fast. Sieht ja auch nicht gerade heroisch aus, so mit quatschenden Filzstiefeln und triefender Kombination von einem Feindflug heimzukehren.

»Ich muss meine Staffel benachrichtigen«, erklärt er dem Unteroffizier. »Wo kann ich telefonieren?«

»Das machen wir schon«, lautet die Antwort. »Kommen Sie nur, Herr Leutnant, ich bringe Sie erst mal in eine warme Stube. Sie holen sich sonst eine Erkältung!«

Wie zur Bestätigung muss Rudolf heftig niesen, und er niest noch etliche Male, ehe er eine molligwarme Stube betritt, in der ein weiß überzogenes Bett, ein Nachttisch, ein Spind und ein Tisch mit zwei Hockern stehen.

Der Unteroffizier macht den Spind auf und holt einen Bademantel und eine Garnitur Unterwäsche heraus.

»Ihre Klamotten trocknen wir ganz schnell«, sagte er. »In drei Stunden kriegen Sie sie wieder zurück und können heimfahren.«

Rudolf schält sich aus der triefenden Bekleidung.

»Haben Sie schon viele rausgefischt?«

Der Unteroffizier reicht ihm ein großes Frottiertuch. »Eine Menge schon, Herr Leutnant. Allein in den letzten acht Tagen waren es sechse. Zwei Engländer und viere von uns.«

Rudolf frottiert sich ab. Inzwischen sammelt der Unteroffizier die nassen Klamotten auf und geht zur Tür. »Ruhen Sie sich erst mal aus, Herr Leutnant. Ich werde Ihnen gleich jemanden herschicken, der Ihnen was Warmes bringt. ’n Grog tut’s meistens.«

»Einen Grog, ja, den könnte ich gebrauchen! Eh, Unteroffizier, haben Sie ’ne Zigarette für mich?«

Der Unteroffizier lässt ihm eine Packung Juno und Streichhölzer da, dann geht er. Rudolf steckt sich einen Glimmstengel an, setzt sich im Bademantel auf die Bettkante und genießt den Tabak.

Ich kann wirklich froh sein, dass es noch so gut abgegangen ist, denkt er. Man stirbt eigentlich schnell den Heldentod.

Rauchend vergegenwärtigt er sich nochmals den Luftkampf. Aber so richtig froh ist er trotz des ersten Sieges nicht. Immer wieder muss Rudolf daran denken, was die Kameraden sagen werden, wenn er sich zurückmeldet. Na ja, gleich beim ersten Feindflug abgeschossen zu werden, ist bestimmt keine schöne Sache. Diesmal ist es noch gut gegangen. Und das nächste Mal?

Rudolf legt sich auf das Bett, schiebt die Arme unter den Nacken und schließt die Augen. Er ist müde. Ein bleiernes Schlafbedürfnis stellt sich ein. Es ist still und warm im Zimmer. Man ist in Sicherheit. Aber die Gedanken kreisen langsam weiter.

Mein erster Abschuss … er wird sicher anerkannt werden. EK II ist fällig. Die erste Auszeichnung. Mama und Paps … na, die werden sich freuen. Und erst wenn mir das EK I angehängt wird. Sicher. man braucht dazu nur ein bisschen Glück. Heute war Pech dabei, morgen kommt’s anders. Ich weiß jetzt, wie man’s machen muss. Noch ein paar Feindflüge, und ich bin genau so routiniert wie die alten Hasen … etwa wie der Greiner. … Der Engländer, hm … War ein verdammt guter Pilot. Ob er verheiratet war? … Wer jetzt wohl um ihn weint? … Schicksal! – Heute ich, morgen du … Man soll über dergleichen nicht nachdenken.

Mit der Zigarette im Mundwinkel schläft Leutnant Rudolf Brechtmann ein.

Plötzlich erwacht er. Jemand hat ihm die Zigarette aus dem Mund genommen. Eine Krankenschwester steht vor dem Bett. Sie ist schlank, trägt die waschblaue Tracht mit der weißen Schürze. Unter dem blauen Häubchen stiehlt sich eine blonde Haarsträhne hervor. Ein Paar grüne, mandelförmige Augen schauen aus einem auffallend blassen Gesicht.

Himmel, wo habe ich dieses Gesicht schon gesehen? schießt es Rudolf durch den Kopf.

Er richtet sich auf, stützt den Oberkörper auf die Ellenbogen, starrt die lächelnde Erscheinung an, die ein Tablett trägt, auf dem ein dampfendes Glas Grog steht.

»Na?«, fragt eine Mädchenstimme. »Wie geht’s?«

»Sie sind doch … Aber das ist doch wohl nicht möglich! Doris Brandorff?«

»Und Sie sind Rudolf Brechtmann, nicht wahr?«, fragt sie, während sie die Zigarette behutsam in den Aschenbecher legt.

»Doris!«, ruft Rudolf. Er ist jetzt völlig wach, richtet sich auf und reicht ihr die Hand. »Ich kann’s gar nicht glauben.«

Sie setzt erst das Tablett ab, reicht ihm dann die Hand und sagt: »Doch, doch, es ist schon so! Ich bin seit drei Wochen hier.«

»So ein Zufall, so ein Zufall«, murmelt Rudolf und lässt ihre Hand los.

»Kommen Sie«, sagt die Krankenschwester, »trinken Sie jetzt erst einmal den Grog, der wird Ihnen guttun.« Sie reicht ihm das Glas.

»Danke … danke … Also, ich bin noch immer ganz baff. Wie kommen Sie hierher, Doris? Setzen Sie sich, erzählen Sie! … Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Muss doch bald ein Jahr her sein, nicht wahr?«

Doris steht vor dem Bett. Sie lächelt auf den Mann hinunter. Auch sie war sehr erstaunt, als sie hereinkam und plötzlich einen Bekannten im Bett liegen sah … noch dazu einen, der mit Horst Hanke befreundet war, gut befreundet sogar. Welch ein merkwürdiger Zufall!

»Es war im Januar, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben«, entgegnet sie. »Bei Horst war es. Sie kamen mit einer Dame, die Sie uns als Marion vorgestellt haben.«

»Das kann stimmen«, grinst Rudolf und umschließt das heiße Grogglas mit beiden Händen. »Setzen Sie sich doch, Doris. Ich freue mich über diesen Zufall.«

Während Doris sich einen Stuhl heranholt, erinnert sie sich genau an jene Bekanntschaft, mit der sie heute wieder zusammengeführt wurde. Rudolf Brechtmann hat oft seine Damenbekanntschaften gewechselt. Horst hat ihn deswegen Casanova genannt, sonst aber haben sich die beiden immer gut versanden. Man hat sich nicht oft getroffen. Soweit Doris sich erinnern kann, ist das höchstens zwei- oder dreimal geschehen.

Sie stellt den Stuhl an das Bett und setzt sich. Rudolf mustert sie, grinst unablässig, freut sich wirklich und stellt insgeheim fest, dass Doris Brandorff hübscher geworden ist, reifer. Er hat sie als stilles, anlehnungsbedürftiges Mädchen in Erinnerung. Irgendwie hat sie zu Horst gepasst. Um so verwunderlicher, dass das Verhältnis damals auseinandergegangen ist. Ob man davon sprechen kann? Mal sehen …

»Wie kommen Sie hierher, Doris?«, fragte er.

Sie berichtet kurz, dass sie ihren Beruf als Sprechstundenhilfe aufgegeben, sich dann zu einem Krankenschwesternkursus gemeldet hat und anschließend auf ihr Ersuchen hin nach Frankreich versetzt worden ist. Es gebe hier nicht viel zu tun, erzählt sie weiter. Mit dem Oberarzt zusammen und einem Sanitätsdienstgrad versorge sie die Küstenstation.

Kein Wort von Horst, kein Wort von Heinz Berger, mit dem sie, wie Rudolf weiß, verlobt war.

Doris Brandorff ist mit ihrer Schilderung zu Ende gekommen. »Und Sie?«, fragt sie jetzt. »Sie haben ja großes Glück gehabt, wie ich hörte.«

Rudolf nickt nur, nimmt ein paar Schlucke aus dem Glas und stellt es dann auf den Nachttisch.

»Übrigens«, sagt er entschlossen, »ich habe hier noch einen Bekannten getroffen.«

Ein fragender Blick trifft ihn.

»Horst«, sagt Rudolf und wartet die Wirkung seiner Worte ab. Doris senkt den Kopf. Es sieht fast aus, als sei sie erschrocken.

Rudolf erzählt ihr jetzt, wie er mit Horst zusammengetroffen ist.

»Wie geht es ihm?«, fragt sie dann.

»Oh, gut. Vor einer Stunde waren wir auf einer Stippvisite in England. Leider bin ich gleich bei meinem ersten Feindflug abgeschossen worden, vorher habe ich aber noch einen runterholen können.«

Wieder huscht ein seltsamer Blick über Rudolf hinweg. Dann die leisen Worte: »Ich gratuliere Ihnen zum Erfolg und zu Ihrer Rettung, Herr Leutnant.«

»Unsinn, für Sie bin ich Rudolf, wie Sie für mich Doris sind.«

Sie nickt. »Es gibt seltsame Zufälle im Leben.«

»Da haben Sie recht«, sagt er. Dann erzählt er mit anschaulichen Worten von seinem Abschuss, trinkt dabei den Grog aus und fragt plötzlich: »Was ist übrigens aus Heinz Berger geworden, Doris?«

»Er ist tot.«

Rudolf stellt das leere Grogglas auf den Nachttisch. »Heinz – tot?«

»Ja. Ich erhielt Ende Mai die Nachricht, dass er bei einem Bombenangriff auf Emden ums Leben kam.«

Kurzes Schweigen. Draußen tutet ein Schiff. Im Flur gehen Schritte vorüber.

»Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie mit Heinz verlobt, nicht wahr?«, fragt Rudolf vorsichtig.

Sie nickt nur und steht auf. »Ich muss jetzt gehen, Rudolf.«

»Bitte bleiben Sie noch – nur fünf Minuten. Ich möchte noch so vieles fragen, Doris.«

Sie trägt den Stuhl zurück und fragt dabei: »Warum ich mich von Horst getrennt habe?«

»War Heinz Berger der Grund?«

»Ich habe mich mit Heinz erst verlobt, als Horst mir sagte, dass … Ach«, unterbricht sie sich, »lassen wir das. Ich werde mich jetzt um Ihre Kleider kümmern. Sie hängen bereits auf dem Trockenboden. Ich bügele sie dann und richte Ihnen alles wieder her.«

»Nett von Ihnen, Doris. Aber noch eine Frage!«

Sie blickt misstrauisch herüber.

»Soll ich Horst sagen, dass Sie hier sind?«

»Mir ist das gleichgültig. Man soll eine zerbrochene Vase nicht mehr kitten. Ich überlasse es Ihnen, Rudolf, ob Sie Horst etwas sagen wollen oder nicht.«

Sie geht. Rudolf sinkt zurück und blinzelt zur weiß getünchten Zimmerdecke empor.

Die Welt ist also doch ein Dorf, denkt er. Wenn ich es Horst erzähle, wird er aus allen Wolken fallen. Oder soll ich es ihm verschweigen? … Sie sieht reifer aus, sie ist ausgeglichener geworden. Wie alt ist sie jetzt? So um die Zwanzig herum, wenn ich mich recht erinnere … Hm … Sie hat sich in dem einen Jahr sehr zu ihrem Vorteil entwickelt. Dabei sah sie schon damals verdammt niedlich aus. Hätte ich damals nicht Marion gehabt, ich wäre Horst ins Gehege gekommen! … Mal sehen, wie sich’s weiter entwickelt.

Als Rudolf zu seiner Staffel zurückkommt, ruft auch schon Hanke an.

»Menschenskind, wie geht es dir?«, will er wissen.

»Prima«, sagt Rudolf. »Vielen Dank für die Behütung. Das Wasser hat leider keine Badetemperatur.«

Man lacht, man quatscht, dann fragt Hanke: »Ist dein Abschuss anerkannt worden?«

»Ist er, jawohl!«

»Gratuliere!«

»Danke!«

»Und wann sehen wir uns wieder?«, fragt Hanke. »Demnächst bei mir, wenn wir Schlechtwetter haben.«

»Bis dann also, Casanova.«

»Mach’s gut, Jockey.«

Kein Wort von Doris. Rudolf hat ihm das Zusammentreffen verschwiegen. Er weiß selbst nicht, warum. Vielleicht weil er Horst die Ruhe nicht rauben will, vielleicht auch, weil Doris einen nachhaltigen Eindruck auf ihn selbst gemacht hat. Als Rudolf sich von ihr verabschiedet und noch einmal gefragte hat, ob er Horst etwas sagen solle, hat sie weder ja noch nein gesagt, ihm nur lächelnd die Hand gereicht und »Leben Sie wohl« gerufen. Rudolf aber glaubt, in ihrem Blick das Gegenteil von »Lebewohl« gesehen zu haben. Er ist abgefahren in dem sicheren Bewusstsein, dass er mit Doris noch einmal zusammentreffen würde. Ganz sicher sogar.

Aber die nächsten Ereignisse verwischen die Episode. Pausenlose Einsätze folgen. Das Wetter ist sehr günstig. Einsatzbefehl auf Einsatzbefehl schickt Bomber- und Jägerstaffeln über den Kanal. Über London donnern Schwärme von deutschen Bombern. Ganze Straßenzüge werden in Schutt und Asche gelegt. Fabriken fliegen in die Luft. Industrieanlagen brennen. Das Kommuniqué von London muss zugeben, dass die deutschen Luftangriffe große Schäden und Verluste verursachen.

In der englischen Hauptstadt rennen Zivilisten um ihr Leben, drücken Mütter ihre Kinder an die Brust und wimmern in den Schutzkellern, hören die Bomben bersten und spüren die Erde beben. Der Krieg tobt in seiner ganzen Grausamkeit und Brutalität, zerstört, reißt Wunden, schafft Leid und Not – auf beiden Seiten.

Leutnant Rudolf Brechtmann hat bereits seinen vierten Abschuss zu verbuchen, malt vier weithin leuchtende Striche auf das Leitwerk seiner Me 109. Längst hängt das EK I an der linken Uniformseite. Bald soll die nächste Auszeichnung folgen.

Wie ein Fieber ist es über Rudolf gekommen. Er denkt weder an die blonde Krankenschwester noch an den Freund, mit dem er fast täglich Seite an Seite fliegt. Die beiden haben keine Zeit mehr, um sich zusammenzusetzen und die jahrelange Freundschaft mit einem ausgiebigen Umtrunk zu vertiefen. Im Rummel der Zeit hat man sich ein bisschen aus den Augen verloren, obwohl beider Einsatzflugfelder nur wenige Kilometer auseinanderliegen.

Der November geht zu Ende. Stürme lösen einander ab und peitschen Schnee und Regen über die vereinsamt daliegenden Flugplätze. Die abgestellten Maschinen ruhen unter den getarnten Überdachungen. Die Besatzungen vertreiben sich die Zeit in den Unterkünften oder Kameradschaftsräumen.

Bei der 6. Jagdstaffel ist der große Raum mit Tabakwolken verhangen. In den Ecken sitzen Offiziere und Mannschaftsdienstgrade beisammen, rauchen, trinken und vertreiben sich die Zeit mit Gesprächen, Spiel oder einem Buch aus der Feldbibliothek.

Vor dem offenen Kamin, in dem ein mächtiges Holzfeuer prasselt und einen Schwall Wärme in den großen, niedrigen Raum schickt, sitzt ein Leutnant und demonstriert seinen letzten Luftsieg.

»… ich ziehe hoch, kriege ihn von unten herauf ins Visier und … ratatata … Peng! Schon stinkt er ab und segelt runter.«

In einer andern Ecke sitzen ein Oberleutnant und ein Unteroffizier über den Schachtisch gebeugt. »Noch vier Züge, dann sind Sie matt, Herr Oberleutnant.«

Der Oberleutnant zerknautscht mit der aufgestützten Hand sein Kinn, murmelt: »Nicht so vorlaut, Schramm, immer schön langsam mit die Pferde. Jetzt sage ich erst mal – Schach!«

»Dann verlieren Sie die Dame, Herr Oberleutnant.« »Au Backe! Richtig! Damen zu verlieren schmerzt.« Drei Züge später muss sich der Oberleutnant geschlagen geben. Darüber herrscht kein Unmut.

»Los, noch ein Spielchen, Schramm.«

»Gern, Herr Oberleutnant.«

In der Nähe des Fensters, durch das man ein jämmerliches Schneetreiben sehen kann, sitzt Rudolf mit einem Oberfeldwebel. Der zeigt ihm Bilder von daheim. »Das ist meine Braut, hübsch, nicht wahr?«

»Hm, sehr hübsch, Strotmann. Wie alt?«

Der Oberfeldwebel grinst glücklich: »Neunzehn.«

»Sehr jung noch. Hoffentlich … ja ja, Sie wissen schon.«

»Da hab’ ich keine Bange, Herr Leutnant. Die Uschi ist nur an mich gewöhnt.«

Aus dem Billardzimmer blökt einer herüber: »Spielpartner gesucht!«

Der Oberfeldwebel erhebt sich und geht hinüber. Rudolf sitzt allein da und kaut auf seiner Zigarette herum, muss an das Bild denken, das ihm der Oberfeldwebel vor die Nase gehalten hat – das Mädchen.

19 Jahre – wunderschönes Alter, denkt Rudolf träge und etwas sehnsuchtsvoll. Schade, dass in dem Kaff hier weiter nichts los ist. Aber halt! Wie wär’s, wenn ich mich mal bei Doris in Erinnerung brächte? Horst, der Lümmel, lässt ja auch nichts von sich hören. Könnte getrost mal anklingeln. Übrigens – anklingeln.

Rudolf schwingt sich aus dem verschlissenen Plüschsessel hoch und geht hinaus. In der Schreibstube sitzt ein Gefreiter und springt auf.

»Sagen Sie mal, Schmidt, könnte ich von hier aus mit der Seenotdienst-Staffel telefonieren?«

»Det jeht schon, Herr Leutnant«, meint der Gefreite.

Ein paar Augenblicke später hat er die Verbindung hergestellt und reicht Rudolf den Hörer.

»Leutnant Brechtmann«, meldet er sich. »Ich möchte gerne mit Schwester Doris Brandorff sprechen. Ist das möglich?«

Die Stimme am anderen Ende sagt: »Ich verbinde Sie mit dem Krankenrevier. Augenblick, bitte.«

Eine flirrende Unruhe überkommt Rudolf. Sein Herz pumpt schneller. Gespannt lauscht er in den Hörer.

Jetzt! Eine helle Frauenstimme. Doris Brandorff ist am Apparat.

»Tag, Doris«, sagt Rudolf. »Wie geht’s?«

Hinter dem Schreibtisch grinst der Gefreite.

»Danke – den Umständen entsprechend«, kommt die Antwort.

»Ich mopse mich«, sagt Rudolf. »Und weil ich dachte, dass es Ihnen ebenso gehen könnte, hab ich mich an die Strippe gehängt.«

»Nett von Ihnen, Rudolf.«

Diese Antwort verleiht im Auftrieb und Schneid. »Wie wär’s, Doris – ich meine, was würden Sie sagen, wenn ich noch heute bei Ihnen antanzen würde?«

»Ich würde mich fragen, was das für einen Zweck haben sollte?«

Er lacht. »Zweck? Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten … ein Gläschen Wein trinken …«

»Dazu Musik und womöglich gedämpftes Licht«, scheidet sie ihm das Wort ab. »Tut mir leid, Rudolf. Außerdem habe ich heute Dienst.«

Er beißt sich auf die Lippen. Auf eine solche Antwort war er nicht gefasst. Am liebsten möchte er auflegen. Aber drüben am Schreibtisch grinst der Schreibstubenhengst so niederträchtig, dass Rudolf zu dem Entschluss kommt, seinen Willen durchzusetzen.

»Ich hab was zu bestellen, Doris«, sagt er rasch. »Horst hat mir etwas aufgetragen, das möchte ich natürlich persönlich wiedergeben. Ist doch klar, nicht wahr?«

Keine Antwort.

»Doris!«

Sie fällt ihm ins Wort: »Wie wollen Sie denn hierherkommen?«

»Erstens mit einem Wagen, zweitens auf schnellstem Wege.«

»Gut, ich erwarte Sie. Fahren Sie aber langsam, Rudolf. Die Wege sind miserabel.«

»Vielen Dank, ich werde Ihren Rat beherzigen. In zirka einer Stunde bin ich bei Ihnen.«

»Ich erwarte Sie in der Schreibstube des Krankenreviers.«

Rudolf legt auf und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.

Der Gefreite kommt und trägt den Apparat auf den Tisch zurück. Rudolf bedankt sich und geht.

Draußen kommen ihm plötzlich Bedenken. Was soll ich ihr sagen? Horst weiß doch von nichts. Wartet sie am Ende darauf, dass Horst sich ihr wieder nähert? – Ach was, ich werde das schon hinkriegen. Jetzt hab’ ich A gesagt, jetzt muss ich auch B sagen.

Rudolf sucht den Staffelkapitän auf: »Ich hätte ein Anliegen, Herr Hauptmann.«

»Schießen Sie los!«

»Ich möchte mir mal den Dienstwagen ausleihen, für einen Besuch.«

Der Hauptmann blinzelt ihn an. »Besuch? Wo denn?«

»Bei der Seenotdienststelle.«

Das hagere Gesicht des Vorgesetzten schmunzelt.

»Mädchen?«

»Jawohl.«

»Hübsch?«

»Jawohl.«

»Hiesige oder …?«

»Eine Bekannte aus Berlin. Sie ist Krankenschwester bei der Seenotstaffel.

»Nehmen Sie den Wagen.«

»Danke, Herr Hauptmann.«

»Und sehen Sie zu, dass Sie bis spätestens morgen früh wieder da sind.«

Rudolf schlägt die Hacken zusammen und geht. Ein paar Minuten später holpert der VW-Kübelwagen mühsam durch das matschige Schneetreiben und rollt der Küste zu.

Auch bei den Bombern ist Feierabend. In dem Gehöft, hinter dem das Flugfeld beginnt, muss man wegen der frühen Dunkelheit und des unentwegt peitschenden Regens die Lampen früher anschalten als sonst. In diesem Bau sind die Flugleitung untergebracht, das Kasino und die Küche. Weiter hinten, zwischen tarnenden Gärten, erstreckt sich die Unterkunftsbaracke, die man geschickt zwischen Bäume und Gemüsebeete gestellt hat.

Im Sommer grün und schattig, erscheint das Gartenstück nun eher unansehnlich: matschig, von den Bäumen trieft das Schneewasser und dort, wo noch vor wenigen Wochen das Gemüse für die Küche wuchs, ragen ein paar frierende Kohlstrünke aus dem schmutzig-weißen, dünnen Schneebelag.

Die Barackentür geht auf, und Hanke tritt heraus, das Schiffchen auf dem Kopf, in den Wintermantel gehüllt. Mit vorgeneigter Gestalt geht er auf das Kommandoanwesen zu und sucht den Staffelkapitän auf. Gleich darauf entspinnt sich ein ähnliches Gespräch wie ein paar Minuten zuvor drüben bei der 6., nur dass Hanke angibt, seinen Kameraden Leutnant Brechtmann besuchen zu wollen. Was soll man bei diesem Sauwetter auch sonst unternehmen? Man hat den Freund lange nicht mehr gesehen. Mal raus aus der Bude und ein paar andere Gesichter zu sehen, kann nichts schaden. Man weiß seit Wochen gar nichts voneinander. Nicht einmal für einen Anruf hatte man Zeit.

Hanke ackert mit dem Wagen einen fürchterlich aufgeweichten Weg entlang, vorbei am Flugfeld und den patroullierenden Posten, der Funkstation und dann dem kleinen Wäldchen zu, hinter dem die 6. Jagdstaffel stationiert ist. Kein Fahrzeug, keine Menschenseele zeigt sich. Grau und düster ist die Gegend, von einem bissigen Nordwest gepeitscht. Links kauern ein paar verlassene Gehöfte. Man ist hier völlig auf die Kameraden angewiesen, auf die Zusammengehörigkeit der Einheit. Die Gegend, die fremden Menschen hier geben einem nichts. Außerdem liegen die Einsatzhäfen auch weitab und vollkommen isoliert in irgendeinem Planquadrat der Normandie.

Nach ein paar Minuten ist Hanke auf dem Jägerhorst. Posten grüßen. Fahrzeuge stehen unter sturmgepeitschten Pappeln. Auch hier hält sich nur der im Freien auf, der dazu abkommandiert ist.

Hanke betritt den Gebäudeteil, in dem die Kameradschaftsräume sind. Eine Ordonnanz grüßt steif und will mit einem Tablett vorbei.

»Ich möchte Leutnant Brechtmann sprechen. Wo kann ich ihn antreffen?«

Die Ordonnanz weiß nicht, dass Rudolf Brechtmann vor einer halben Stunde zur Küste gefahren ist.

»Ich werde gleich mal nachschau’n, Herr Leutnant. Kommen Sie bitte rein, hier zieht’s.«

Hanke betritt den Raum, schaut sich um.

»Hallo, Hanke!« Ein Leutnant kommt auf ihn zu, schüttelt ihm die Hand. »Dass man Sie auch wieder mal sieht! Kommen Sie, setzen Sie sich.«

Es ist Leutnant Karner, den Hanke flüchtig kennt. »Ist Brechtmann nicht da?«, fragt Hanke.

»Vorhin war er noch da. Kann nicht weit sein.«

Die Ordonnanz taucht auf und meldet, dass Leutnant Brechtmann vor einer halben Stunde mit dem Auto weggefahren sei.

»Bei dem Sauwetter?«, fragt Hanke. »Dienstlich etwa?«

»Keine Ahnung, glaube aber nicht, dass er dienstlich weg musste. Können ja unseren Alten mal fragen!«

Die Begrüßung des Staffelkapitäns ist freundlich, Kameradenbesuch stets willkommen.

»Legen Sie ab, Hanke, setzen Sie sich zu uns. Kognak oder Wein?«

Und schon sitzt Hanke mit in der Runde, und die Unterhaltung beginnt. Natürlich geht es um die letzten Einsätze. Erst nach einer Weile kommt Hanke dazu, nach Rudolf zu fragen.

»Leutnant Brechtmann ist nach Fécamp gefahren«, sagt der Staffelkapitän. »Wohl dem, der das Glück hat, von einer Dame eingeladen worden zu sein.«

»Eine Dame?«, staunt Hanke.

»Krankenschwester beim Seenotdienst«, schmunzelt der Hauptmann.

»Ach so.« Auch Hanke grinst. Er hat keine Ahnung, dass der Freund gerade jetzt vor dem Gebäude der Seenotstaffel hält und Augenblicke später mit jenem Mädchen zusammentrifft, dessen Bild noch immer in Hankes Erinnerung herumgeistert.

Doris begrüßt Rudolf in einer hübschen Stube. Es ist ihr Dienstzimmer – ein Raum, bei dessen Betreten man sofort spürt, dass Frauenhände ihm das Gepräge verliehen haben: auf dem Tisch ein Buschen Kiefernzweige, bunte Gardinen an dem breiten Fenster, zwei Klubsessel um den Tisch, ein Sofa mit drei Zierkissen an der Wand, und quer in der Ecke ein Schreibtisch: das einzige Möbel, das dem Raum eine dienstliche Note verleiht.

»Hübsch haben Sie’s hier«, stellt Rudolf fest.

Sie nimmt ihm Mantel, Koppel und Schiffchen ab und trägt alles in ein Nebenzimmer, aus dem es nach Äther riecht: das Behandlungszimmer.

Rudolf wartet, bis Doris wiederkommt. Sie ist ganz in Weiß gekleidet und sieht aus wie ein Engel.

»Na, setzen Sie sich schon«, sagt sie und deutet auf einen der Sessel. »Wollen Sie Tee oder Kaffee?«

»Tee.« Rudolf setzt sich. »Freuen Sie sich?«

»Sehen Sie mir das nicht an?«, fragt sie und nimmt ihm gegenüber Platz.

»Ehrlich gesagt, Doris – ich weiß nicht recht. Sie machen mir so einen dienstlichen Eindruck.«

»Ich bin ja auch im Dienst. Sagte ich Ihnen das nicht am Telefon?«

»Doch, doch.« Was bei Rudolf sehr selten vorkommt, widerfährt ihm jetzt: Er hat Hemmungen. Doris’ kühler Blick irritiert ihn. Hat sie ihn nur kommen lassen, um etwas von Hanke zu erfahren? Fast bereut er sein Kommen.

»Scheußliches Wetter!«, beginnt er. »Aber hier ist’s gemütlich. Man kommt sich vor, als wäre man daheim.«

Doris schlägt ein Bein übers andere, stützt die Ellenbogen auf die Armpolster des Sessels, faltet die Hände flach zusammen und legt leicht das Kinn auf die Fingerspitzen. Ihr Blick ist ernst und forschend.

Rudolf muss jetzt von Horst sprechen. Der grüne, kühle Blick befiehlt es ihm.

»Äh …« beginnt Rudolf, »tja … Horst lässt grüßen.«

Doris nickt kaum merklich mit dem Kopf.

»Er war .. äh … er hat sich natürlich sehr gefreut, als ich ihm sagte, dass Sie ganz in der Nähe sind.«

»Warum ist er nicht mitgekommen?«

»Er kann dienstlich nicht weg.«

»Und was sollen Sie mir ausrichten?«

Rudolf gibt sich einen Ruck, beugt sich vor. »Nichts. Ich habe eine Unwahrheit gesagt, Doris. Horst weiß noch gar nicht, dass Sie hier sind. Ich hielt es für richtig, ihm nichts zu sagen. Ich wollte mit Ihnen zusammentreffen, Doris … ganz einfach Sie wiedersehen.«

Das Mädchen lässt die Hände sinken. Ärgerlich blickt sie zu ihm herüber. Dann aber stiehlt sich ein blasses, spöttisches Lächeln auf die Mienen.

»Wenigstens sind Sie ehrlich«, sagt sie. »Irgendwie hatte ich mir schon gedacht, dass es ein Trick ist.«

Rudolf atmet auf. Er ist froh, dass er das Kind beim Namen genannt hat, dass er sie nicht länger zu belügen braucht.

»Ich bin sehr froh, dass Sie es nur als Trick bezeichnen«, sagt er. »Ich musste Sie einfach wiedersehen!«

»Schön.« Sie erhebt sich. »Jetzt sind Sie einmal da und damit basta. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich will das Teewasser aufsetzen.«

Rudolf schaut ihr nach, als sie wieder im Nebenzimmer verschwindet. Ein Wasserhahn beginnt zu rauschen. Ein Topf wird aufgefüllt. Dann beginnt ein Benzinkocher zu fauchen.

Rudolf steckt sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern ein bisschen. Wie erlöst stößt er den Rauch durch die Zähne, lehnt sich weit zurück und schließt für einen Moment die Augen. Eine unerklärliche Spannung liegt über ihm. Alles in ihm vibriert, ist voller Erwartung. Dabei weiß er genau, dass er heute kein Abenteuer erleben wird. Die Frau in dem weißen Kittel macht einen unnahbaren Eindruck. Kühle strahlt sie aus, eine Überlegenheit, vor der Rudolf ganz klein wird. Und dann die Augen! Nicht länger als einen Herzschlag lang kann man in sie hineinschauen.

Doris Stimme ertönt: »Wenn Sie sein Freund sind, wird er Ihnen auch gesagt haben, warum wir auseinandergekommen sind. Oder wissen Sie das nicht?«

Doris legt zwei Gedecke auf.

»Doch«, sagt Rudolf, »er hat davon gesprochen: Er wollte frei sein, niemanden um sich haben, wenn er an die Front geht. Er meint, er könne freier fliegen, wenn er niemanden hat … Ich weiß nicht recht, Doris, diese Ansicht ist ein bisschen einseitig. Ich bin ganz sicher, dass Horst Sie sehr geliebt hat.«

Sie rückt an den Untertassen, geht vom Tisch und holt eine Kristallschale mit Kleingebäck heran. Erst jetzt, und während Rudolf jede ihrer Bewegungen verfolgt, gibt sie die Antwort:

»Ja, wir haben uns ausgezeichnet verstanden.« Doris setzt sich wieder. Tiefer Ernst liegt auf dem ungeschminkten Gesicht. »Warum sollen Sie nicht alles wissen? Ich hatte schon meine Aussteuer beisammen, als der Krieg ausbrach. Horst und ich waren fest entschlossen zu heiraten. Damals lag er noch in der Nähe von Straßburg. Mitte Mai kam er auf Urlaub nach Hause, und ich dachte, wir würden heiraten. Stattdessen haben wir uns getrennt. Ich war wie vor den Kopf gestoßen.«

Sie schweigt und schaut an Rudolf vorbei. Eine Regenbö peitscht ans Fenster. Der Wind, der vom Meer kommt, pfeift und jault ums Haus. Es herrscht ein trübes, graues Licht. Aus dem Dunkel schimmert Doris’ Gesicht, fast so weiß wie das Gewand, das sie trägt.

»Ist mir unbegreiflich«, murmelt Rudolf.

»Mir nicht mehr«, entgegnet sie gelassen. »Seit Heinz gefallen ist, verstehe ich erst, was Horst damals gemeint hat.«

»Sie hatten ihn doch sehr lieb, nicht wahr? Jedenfalls entnehme ich das Ihren Worten, Doris.«

»Ja, wir hatten uns sehr lieb. Sie werden jetzt wissen wollen, warum ich mich trotzdem mit Heinz Berger verlobt habe, nicht wahr?«, fragte sie dann.

Er nickt.

»Heinz’ Eltern und die meinen sind Nachbarn. Da war es selbstverständlich, dass die Kinder Garten an Garten groß wurden. Ich war schon immer Heinz’ Jugendliebe. Als ich sechs Jahre alt war, versprach ich ihm, seine Frau zu werden.« Doris lächelt an Rudolf vorbei und fährt halblaut fort: »Ich weiß, dass Heinz sehr traurig war, als ich mich mit Horst verlobte. Er meldete sich, obwohl er kaum zwanzig war, zur Flak und wurde als Freiwilliger eingezogen.«

»Ich erinnere mich«, wirft Rudolf ein, da Doris eine kleine Pause einlegt und aufhorcht, weil nebenan das Teewasser brodelt. Rasch steht sie auf und geht in das Behandlungszimmer. Wenig später kommt sie mit der Teekanne zurück und stellt sie auf den Tisch.

»Ich werde Licht machen.«

»Bitte nein!«, ruft er rasch. »Ich mag diese Stimmung gerne, sie erinnert mich an die Abende daheim.«

Doris setzt sich wieder.

»Er wurde also als Freiwilliger eingezogen«, erinnert Rudolf.

»Ja«, erwidert sie, »nach Emden kam er dann. Ich erfuhr es durch seine Eltern. Frau Berger machte mir Vorwürfe … wegen Heinz und … Ach«, unterbricht sie sich, »das interessiert Sie doch gar nicht. Reden wir von anderen Dingen. Trinken wir jetzt erst einmal Tee.«

Rudolf hebt abwehrend die Hand. »Ich möchte gerne wissen, wie es weitergeht, Doris. Horst ist immerhin mein Freund, und ich interessiere mich wirklich!«

»Geben Sie mir bitte eine Zigarette, Rudolf.«

Er beeilt sich, ihrem Wunsche nachzukommen, reicht ihr die Zigarettenpackung, dann Feuer.

Doris’ Hand zittert, als sie sich die Zigarette anzündet. Der schwache Lichtschimmer der Feuerzeugflamme huscht über ihr nervös zuckendes Gesicht.

»Danke«, murmelt Doris und lehnt sich in den Sessel zurück.

»Wie es weiterging?«, wiederholt sie ironisch. »Oh, eigentlich wenig dramatisch. Heinz beklagte sich in Briefen bei seiner Mutter über meinen Wortbruch. Frau Berger las sie mir vor, und ich musste mir sagen lassen, dass die Frau im Krieg eine größere Rolle spielt als sonst. Der Soldat, so sagte sie, brauche eine Frau, an die er denkt, an die er schreibt, an die er sich hängen kann, wenn ihm sonst nichts mehr bleibt.«

Rudolf nickt wie zustimmend.

»Na ja«, seufzt Doris, »das habe ich mir eben zu Herzen genommen. Bloß dass ich Frau Bergers Ermahnung auf Horst bezog. Ich war wirklich der Meinung, nun ganz schnell heiraten zu müssen, um Horst einen moralischen Rückhalt geben zu können. Horst aber hatte ganz andere Ansichten. Die sagte er mir so deutlich, dass wir uns trennten. Ich gebe zu, Rudolf, dass ich damals schrecklich geheult habe. Dann aber schrieb ich Heinz, und ein paar Wochen später habe ich mich mit ihm verlobt. Jetzt wissen Sie’s … So, und nun machen wir Licht und trinken unseren Tee, einverstanden?«

Doris steht auf, geht zum Fenster, zieht die Gardine zu und fragt über die Schulter zurück:

»Fliegeralarm wird es bei diesem Wetter wohl nicht geben, was?«

»Kaum.«

Doris schaltet eine hübsche Wandlampe ein. Der Raum füllt sich mit einem behaglichen Licht.

Der Tee plätschert in die Tassen. Doris fordert ihren Gast zum Zugreifen auf.

»Sie sind ein seltsames Mädchen«, murmelt Rudolf, mit einem achtungsvollen Blick zu ihr hinüber. »Ich muss Sie bewundern.«

»Ach, hören Sie auf, Rudolf«, wehrt sie ab. »Ich habe mich lächerlich gemacht. Befangene Gemüter sind sogar auf den Gedanken gekommen, ich sei heiratswütig.«

»Du lieber Himmel, was reden Sie da!«

»Schluss damit!«, ruft sie halb heiter, halb ernst. »Unterhalten wir uns jetzt von anderen Dingen. Ich sehe gerade, dass Sie dekoriert wurden! Gratuliere!«

Niemand stört. Die beiden sitzen in lebhafter Unterhaltung in der gemütlichen Stube. Draußen hat sich der Sturm gelegt.

»Darf ich Ihnen sagen, dass ich sehr glücklich bin, mit Ihnen zusammengetroffen zu sein, Doris?« Rudolf versucht, nach ihrer Hand zu haschen, doch sie entzieht sie ihm.

»Sie reden gerne in Superlativen, Rudolf«, meint sie mit freundlichem Spott. »Warum sagen Sie nicht einfach, dass Sie sich freuen? Ich freue mich ja auch, einen Bekannten wiederzusehen.«

»Ehrlich?«, fragt er.

»Aber gewiss.«

»Dafür muss ich Ihnen die Hand küssen, Doris!«, Sie lacht und reicht sie ihm: »Da, Sie Poussiermeister!«

Auch Rudolf lacht, wenn auch ein bisschen verlegen. Er küsst ihre Hand, legt dann die seine darüber und schaut Doris an:

»War es richtig, dass ich Horst nichts von unserem Zusammentreffen erzählt habe?«

Sie entzieht ihm jetzt ihre Hand und lehnt sich zurück. »Rudolf, sagen Sie ehrlich: Würde Horst Wert darauf legen, mich wiederzutreffen?«

»Eine heikle Frage, Doris.«

»Beantworten Sie sie als Horsts Freund.«

»Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich unbeliebt bei Ihnen mache?«, fragt er rasch.

»Danke«, sagt sie und lächelt wie versteinert. »Sie haben mir die Antwort bereits gegeben.«

»Sprechen wir von anderen Dingen«, schlägt er vor.

Doris erzählt von ihrem Dienst: dass eigentlich nicht viel los sei und dass der Truppenarzt ab und zu – so wie heute zum Beispiel – in die Häuser der Zivilisten gehe, um Patienten zu behandeln. »Doktor Kempf ist ein prächtiger Mensch«, sagt sie.

Nach einer halben Stunde schaut Rudolf auf die Uhr. Umso mehr freut ihn die Frage: »Haben Sie es so eilig, Rudolf?«

»Nein. Aber mir fällt eben eine Redensart ein.«

»Nun?«

»Dass man sich über einen Besuch zweimal freut: einmal, wenn er kommt, zum anderen, wenn er geht.« Sie lachen.

Mitten hinein in dieses Lachen ertönt ein gewaltiger Donnerschlag – so stark, dass die Wände wackeln und die Teetassen klirren. Gleichzeitig tuten draußen ein paar Nebelhörner. Die Küstenbatterie schießt.

»Kommen Sie, Rudolf, es ist Alarm! Wir müssen sofort in die Deckungsgräben! Ich hole die Mäntel … Ihr Koppel!«

Sekunden später laufen sie hinaus.

»Alarm!«

Im Flur der Kommandantur rennen, stolpern, fluchen die Soldaten. Die beiden einzigen Patienten, in Decken gehüllt, stürzen aus dem Krankenzimmer.

»Schnell in die Deckungsgräben!«, ruft Doris. Ihre helle Stimme dringt laut durch das Getümmel.

An der Seite des Mädchens eilt Rudolf hinaus.

»Dort hinüber!«

Unweit des Gebäudes ist ein Deckungsgraben. Gestalten laufen drauf zu und springen hinein.

Hinter dem Hafen, auf den Höhen verborgen, feuern die Küstenbatterien Lage auf Lage in den grauen Dunst hinein, der über dem Wasser hängt. Auch die Schnellboote laufen in höchster Eile aus. Auf der Mole rennen Soldaten. Die Luft erzittert unter den Abschüssen der schweren Geschütze.

Da! Es heult von der See heran, orgelt, jault. Zwei … drei … vier haushohe Wasserfontänen steigen hoch. Aber noch liegen die Einschläge weit draußen, noch etwa hundert Meter vom Festland entfernt.

Jetzt heulen die nächsten Geschosse heran und schmettern zwischen die Fischerboote hinein. Wrackteile segeln durch die Luft. Ein weggerissener Mast spießt sich in den Sand und zerbricht.

Augenblicke später erreicht der Feindbeschuss von See her den Höhepunkt. Brüllend detonieren schwere Granaten vor und hinter dem Kommandogebäude. Unablässig schießt die eigene Artillerie. Pulverqualm senkt sich herab und reizt zum Husten. In den Deckungsgräben kauern Soldaten und Zivilisten, die Gesichter an die nackte, nasse Erde gepresst, die Augen geschlossen, die Arme über die Köpfe gehalten.

Nur wenige Meter von dem verwinkelt angelegten, mannstiefen Deckungsgraben entfernt, bohrt sich eine schwere Granate in den Boden und schleudert eine Dreckfontäne hoch. Prasselnd fällt sie zusammen und deckt die Menschen im Deckungsgraben zu.

Rudolf Brechtmann erlebt einen anderen Krieg als den, den er gewöhnt ist. Die Arme um Doris geschlungen, die zusammengekrümmte Mädchengestalt fest an sich pressend und mit dem eigenen Körper deckend, liegen sie im Deckungsgraben unter einem Hagel aus Sand, Erde und zerhämmertem Gestein.

Die englischen Zerstörer sind im Schutze der Schlechtwetterfront an die Küste herangekommen. Salve auf Salve jagen sie herüber und drohen, den kleinen, scheinbar unwichtigen Fischerhafen zu vernichten. Im Krachen und Bersten der Granaten ersticken die Schreie Getroffener und Verwundeter. Ein Volltreffer setzt den langgestreckten Lagerschuppen in Brand. Fässer mit Dieselöl explodieren und erzeugen eine Feuersbrunst.

Und dann, ebenso schlagartig wie alles begonnen hat, setzt der Feindbeschuss aus. Um so wütender aber schießt jetzt die Küstenbatterie. Weit draußen, im schmutzigen Grau, zwischen Pulverqualm und Nebel, drehen die feindlichen Schiffe ab und verschwinden.

In den Deckungsgräben regt sich Leben. Bleiche, ängstliche Gesichter schauen über den Erdwall.

»Ach du grüne Neune!«, stammelt jemand, als er einen Blick über das Hafengelände wirft.

Lichterloh brennt das Öllager. Granattrichter bedecken den Boden. Im Hafenwasser liegen die Trümmer der ehemaligen Fischerboote. Herumfliegende Granatsplitter haben das Kommandanturgebäude angefressen. Kein Fenster ist heil geblieben. Der große Funkmast ist umgeknickt und liegt auf dem Dach des Gebäudes.

Von überall her kommen Soldaten gelaufen. Heisere Kommandos erschallen. Auf der Mole liegen drei, vier Gestalten.

»Hilfe! Sanitäter!«

Dr. Kempf, der hier stationierte Truppenarzt, jagt mit einem schweren Beiwagen-Krad vom Dorf her, wo er ein paar Franzosen in den Häusern besucht hat. Einem normannischen Bauern hat er einen Brustabszess geöffnet, einer Frau bei der Geburt geholfen und einer alten Fischersfrau ein paar Baldriantropfen für das Herz geschenkt. Humane Kleinigkeiten im Feindesland. Gesten der Menschheit, die höchstens ein verlegenes »Merci« einbringen.

»Schwester Doris!«

Da kommt sie schon, mit fahlem Gesicht, verschmutzt, zerzaust. Neben ihr geht Rudolf; er weicht ihr nicht mehr von der Seite.

»Es gibt zu tun«, sagt der Arzt, ein beleibter, gutmütiger Endvierziger. »Zum Donnerwetter, wo ist das Sanitätspersonal! He, Kumpfmüller! Die Tragen her!«

Der Sanitätsunteroffizier und ein paar weitere Soldaten sammeln die Verwundeten auf. Auf der Mole wimmern drei. Der vierte ist tot. Mit einer fürchterlichen Stirnwunde liegt er auf dem Rücken und starrt mit glasigem Blick in den Himmel hinauf.

Wo kurz zuvor noch der Benzinkocher so friedlich gesummt hat, herrscht nun aufgeregte Betriebsamkeit. Der Behandlungstisch wird zum Operationstisch. Der Sterilisationsapparat zischt. Dr. Kempf wäscht sich die Hände. Doris bindet ihm den weißen Kittel zu.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragt Dr. Kempf, als er eine Gestalt zwischen Tür und Angel des Nebenzimmers stehen sieht.

»Ein Bekannter von mir«, erklärt Doris. »Leutnant Brechtmann von der sechsten Jagdstaffel.« Und zu Rudolf: »Bitte gehen Sie jetzt, Rudolf, Sie sehen ja!« Sie eilt auf ihn zu und reicht ihm die Hand. »Wir hören noch voneinander und danke für Ihren Schutz!«

»Ich möchte helfen, irgendwie helfen«, stößt Rudolf hervor.

»Sind Sie etwa Arzt?«, fragt Dr. Kempf.

»Nein.«

Getrampel an der Tür. Man schleppt den ersten Schwerverwundeten herein. Er ist ohnmächtig und liegt verkrümmt auf der Bahre.

Dr. Kempf zieht die Gummihandschuhe über und dirigiert: »Auf den Tisch. Langsam! Vorsichtig!«

Doris eilt zum Instrumentenschrank. Sie hat jetzt keine Zeit mehr für den verdattert dastehenden Leutnant der sechsten Jagdstaffel. Doris’ Aufgabe beginnt. Es gilt zu helfen, Dr. Kempf zu assistieren. Die erste blutige Arbeit im neuen Dienstbereich! Schon beugt sich Dr. Kempf über den Schwerverwundeten. Ein Sanitäter schneidet blutige Uniformfetzen von den Beinen.

Als Doris einen Blick zur Verbindungstür wirft, ist Rudolf verschwunden. Er hilft mit, die Verwundeten einzusammeln. Über ein Dutzend hat es erwischt, teils schwer, teils leichter. Vier Tote findet man zwischen Trümmern und im Hafengelände verstreut.

Zusammen mit einem Sanitätsunteroffizier trägt Rudolf die Verwundeten in den Behandlungsraum. Die leichteren Fälle werden gleich abtransportiert, die schweren nimmt Dr. Kempf unters Messer. Trotz des scheinbaren Durcheinanders herrscht eine klare Linie in den Kommandos. Sankas brummen heran und übernehmen stöhnende Lasten, ein Feuerlöschzug ist plötzlich da und bekämpft den Lagerbrand, Aufräumungstrupps gehen der Trümmerlandschaft zu Leibe.

Als die Dunkelheit hereinbricht, erinnert sich Rudolf daran, dass er eigentlich gar nicht hierher gehört. Ganz anders ist der Besuch bei Doris verlaufen, als er sich das gedacht hat. Der Krieg hat sich ihm von einer anderen Seite gezeigt. Aber mitten im Chaos hat Rudolf einen bebenden Mädchenkörper beschützt. Doris Brandorff.

Sie hat keinen Blick mehr für den Mann im verschmutzten Uniformmantel, den dreckverschmierten Stiefeln und dem zerschrammten Gesicht. Hand in Hand arbeitet sie mit dem schwitzenden Arzt.

Rudolf Brechtmann sucht seinen Wagen. Ein Granatsplitter hat die Windschutzscheibe zerschlagen und ist durch das Dach wieder ausgetreten. Aber der Motor springt auf Anhieb an, und Rudolf verlässt den verwüsteten Ort.

»Wir hören noch voneinander …«, hat Doris gesagt. Und nun überlegt er, ob das eine Aufforderung zum Wiederkommen oder eine abwimmelnde Redensart war.

Als der Wagen am Rollfeld der Sechsten vorbeiackert, ist Rudolf fest entschlossen, Doris wiederzutreffen. Er muss sie wiedersehen! Er hat sich in das kühle Mädchen verliebt bis über beide Ohren!

Und über uns die Ewigkeit

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