Читать книгу Die Todgeweihten - F. John-Ferrer - Страница 4

Оглавление

Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne steht schräg über der Adria und wärmt die von Bombensplittern und Bordwaffenbeschuss zerhackten Mauern des Wachgebäudes. Ein Fenster, in dem die Scheiben fehlen, steht offen. Drinnen im verräucherten Wachlokal läuft ein kleiner Radioapparat und schmettert Marschmusik in den Morgen. U. v. D. Müller pfeift fröhlich mit und unterzieht sich einer Reinigung seiner trauerberänderten Fingernägel, wobei er sich des Taschenmessers bedient.

Die Marschmusik endet. Ein Gongschlag ertönt.

»Die Zeit: sieben Uhr. Wir bringen Nachrichten. Das Oberkommando der Wehrmacht meldet …«

U.v.D. Müller lümmelt sich auf die Tischkante und hört aufmerksam zu.

»Die Alliierten sind zwischen Gaeta und Monte Cassino zu einem Generalangriff angetreten. Im Raum von Minturno und am Monte Petrella gelangt es den Angreifern, kleine Erfolge zu erzielen. Unsere tapferen Fallschirmjäger leisten erbitterten Widerstand und fügten dem massiert angreifenden Gegner schwerste Verluste zu. Der Kampf um Monte Cassino geht in unverminderter Härte weiter …«

In die schnarrende Stimme des Rundfunksprechers rasselt das Telefon. Unteroffizier Müller stellt das Radiogerät leiser und nimmt den Hörer ans Ohr.

»U. v. D. Müller, Hafenwache«, meldet er sich.

»Hier Boltz. Ist Brandt in der Nähe?«

Müller ist unwillkürlich aufgesprungen und hat Haltung angenommen. Oberstleutnant Boltz, der Chef des Amtes Ha, Abteilung Sabotage, eine Zweigstelle des Hauptamtes Canaris, ist am Apparat.

»Im Augenblick ist Leutnant Brandt nicht da«, meldet Müller. »Soll ich ihn suchen lassen?«

»Nein. Wenn er kommt, soll er mich sofort anrufen.« »Jawohl.« Müller klappt die Hacken zusammen. Der Teilnehmer hat aufgelegt. Unteroffizier Müller legt den Hörer zurück und stellt das Radio lauter.

»Terrorflieger haben in der vergangenen Nacht Städte in Westdeutschland angegriffen …« schnarrt die Stimme des Rundfunksprechers.

Indessen steht Leutnant Jochen Brandt an Bord eines zerbombten Frachters und beobachtet durch das Dienstglas die Vorgänge im Hafen. Brandt trägt eine Art Räuberzivil: zerknautschte Hosen, Segeltuchschuhe, eine abgewetzte, knapp sitzende Lederweste, die sich unter der linken Achsel verdächtig ausbeult, dazu eine schmierige Schlägermütze auf dem Kopf. Nur wenige hier wissen, dass es sich bei diesem Mann, der in unberechenbaren Zeitabständen mal da, mal dort auftaucht, um einen der verwegensten Offiziere des Amtes Ha, Abteilung Sabotage, handelt. Er ist schweigsam, versieht pflichtbewusst seinen Dienst, nachdem man ihn vor etwa acht Wochen nach einer schweren Verwundung aus dem Lazarett entlassen hat. Seine Aufgabe ist es, den Hafen zu kontrollieren und ein wachsames Auge auf alles zu halten, was hier kreucht und fleucht. Sobald dieser Leutnant seine Uniform anlegt, kann man eine erkleckliche Anzahl Tapferkeitsauszeichnungen am Tuch sehen, unter anderem auch das »Blaue Kreuz«, eine der höchsten Auszeichnungen, die Italien vor seinem Bruch mit dem Achsenpartner an deutsche Soldaten zu verleihen hatte.

Der Mann an Bord des rostenden Schiffes setzt das Glas ab und wischt sich über die lederbraune Stirn.

Nichts los hier! Alles in Ordnung. Langweiliger Betrieb! Und so geht es schon seit Wochen. Er, der ehemalige Verbindungsoffizier zu den italienischen Froschmännern der X. Flottiglia M. A. S. S. und zum italienischen Geheimdienst –, er mopst sich hier herum. Und wie er sich mopst! Pfui Deibel!

Ins trübe Hafenwasser spuckend, verlässt Brandt über eine Laufplanke seinen Beobachtungsplatz und geht mit katzenhaft geschmeidigem Gang die Kaimauer entlang.

Er hat graue, hart blickende Augen, wenn er sich einer gefährlichen Situation gegenübersieht; aber jetzt sind diese Augen nachdenklich, blicken über die Trümmer des Hafens, schweifen darüber hinweg zur Stadt, hinter der bewaldete Berge aufsteigen.

Wie schön dieser Morgen ist! Wie warm die Sonne scheint! Nichts verrät, dass in der Nacht diese verdammten Jabos da waren und ihre Bomben auf Stadt und Hafen warfen. Man riecht noch die Brandstellen, die irgendwo in der Stadt schwelen. Es hat wieder Tote gegeben. Mehr Zivilisten als Soldaten.

Diese Berge dort hinten! Lieblich und grün sind sie. Aber über sie hinweg sausen in unberechenbaren Zeitabständen die Jabos, um sich auf die wehrlose Stadt zu stürzen, die paar Flakgeschütze missachtend, die irgendwo im Hafengelände zu feuern beginnen.

Im Hafenbecken zwei wird ein Frachter entladen. Er ist in der vergangenen Nacht aus Triest gekommen und löscht seine Ladung, bestehend aus Ballen und Kisten. Ein Trupp Hafenarbeiter ist eingesetzt, bewacht von einem grauhaarigen Obergefreiten.

»Morjen«, grüßt er den Mann in der Lederweste.

Brandt nickt grüßend zurück, begibt sich an Bord des Frachters, schlendert am Oberdeck entlang, lässt seine grauen, wachsamen Augen umherschweifen und findet alles in Ordnung.

In Ordnung scheint auch alles drüben in der Werft zu sein. Die Niethämmer poltern, die Sauerstoffgebläse zischen. Brandt stolpert über ein paar herumliegende Eisenteile. Die Arbeiter sind fleißig, wissen sie doch, dass die Arbeit für die Deutsche Wehrmacht derzeit ihre einzige Verdienstmöglichkeit ist. Der Lohn wird ihnen pünktlich ausgezahlt, und ein paar zusätzliche Lebensmittel gibt es außerdem.

Im Trockendock liegt ein deutsches Patrouillenboot. Die Aufbauten sind zerschossen. Das Heck weist ein Loch auf. Vor drei Tagen hat sich das Boot in den Hafen geschleppt, an Bord fünf Tote und den schwerverwundeten Kommandanten.

»Lohnt es sich denn noch, den Kahn zu flicken?«, fragt Brandt den italienischen Ingenieur.

»Befehl ist Befehl«, sagt der andere und zuckt die Schultern.

Fünf Minuten später sieht man die breitschultrige Gestalt des kontrollierenden Abwehrmannes die Hafenstraße entlangschlendern und vor einem Trupp Straßenarbeiter haltmachen. Man bessert die Asphaltdecke der Straße aus, die von drei Bomben aufgerissen wurde. Der Wachposten nimmt lasch die Hacken zusammen und zieht den Karabiner an.

Brandt winkt mit den Augen ab. Keine Meldung. Die Kerle hier brauchen nicht zu wissen, wer gekommen ist.

»Alles in Ordnung?« Brandt fragt es leise, während er den Blick über die Arbeiterschar wandern lässt und jeden einzelnen kurz mustert.

»Alles in Ordnung«, brummt der Gefreite. »Man darf bloß den Buckel nicht wenden, sonst sind sie alle Standbilder der Arbeit.« Der Gefreite Schulz grinst.

»Sind Neue dabei?«, fragt Brandt.

»Nee. Noch die alte Garnitur.«

Brandt studiert nachdenklich den Haufen schuftender Männer. Es kann einer darunter sein, der nicht hierher gehört, der aus den Augenwinkeln heraus alles sieht, was den Gegner interessieren könnte. Jeder hier kann ein V-Mann sein, ein Agent, ein bezahltes Individuum, dem ein Bündel Banknoten mehr wert ist als ganz Italia, aber auch ein überzeugter Antifaschist, der für seine Ideale seine Haut riskiert.

»Was sagt der Nachrichtenonkel in Berlin?«, fragt der Gefreite. »Ist es bald soweit, dass wir wieder wetzen müssen?«

Brandt runzelt die Stirn. Am Ton der Frage wäre allerhand auszusetzen. Aber kann man das? Viele der Leute hier, die Wache schieben, sind schon in Palermo, Salerno, Neapel gewesen und haben etwas von der Eile der Rückzüge mitbekommen.

Der Gefreite wartet blinzelnd auf die Antwort.

»Sie kommen nicht weiter«, sagt Brandt. »Bei Formia geht es wild zu, und Monte Cassino hält sich noch.«

»Viele Hunde sind des Hasen Tod«, orakelt der Gefreite und schnauzt zu dem Haufen Arbeiter hinüber: »Tempo! He! Tempo presto! Macht weiter, Amigos!«

Brandt hat seinen Rundgang beendet. Als er ins Wachlokal zurückkehrt, sagt ihm Unteroffizier Müller, dass vom Castell Mare angerufen worden sei. Brandt lässt sich von der Vermittlung verbinden. Gleich darauf meldet sich die Stimme des Chefs.

»Hier Seeadler zwo, Brandt«, antwortet der Leutnant. »Ich sollte anrufen. Was gibt’s?«

»Bitte, komm sofort zu mir«, erwidert die andere Stimme. »Witt soll den Kram weitermachen. Pack deine Klamotten, Jochen, denn du kommst fürs Erste nicht zurück.«

Brandt pfeift leise durch die Zähne. »Es liegt was an, wie?«

»Das sage ich dir, wenn du hier bist.«

»Gut. Ich bin in einer halben Stunde drüben. Bis dann also. Ende.«

Brandt legt auf und reibt sich mit der flachen Hand die Stirn. Es hängt also wieder eine Kuh in der Luft! Soll man sich darüber freuen? Mal sehen, was der gute Boltz zu sagen hat.

Oberstleutnant Boltz und der um etliche Jahre jüngere Brandt arbeiten schon über zwei Jahre zusammen. Brandt ist Boltz’ Stellvertreter. Außer Dienst duzen sie sich, wie überhaupt in einer so kleinen Gemeinschaft ein anderer Umgangston herrscht als bei einer regulären Militäreinheit. Das Leben bei den Einzelkommandos unterscheidet sich wesentlich von den Umgangsgepflogenheiten bei anderen Einheiten: Der Nimbus des Ranghöheren fehlt. Man schätzt den Charakter und die Tapferkeit eines jeden Mannes und erhebt ihn, gleich welchen Dienstgrad er einnimmt, zum Kameraden und Freund.

Die Härte des Einsatzes bestimmt das Verhältnis zueinander und nicht zuletzt auch die traurige Tatsache, dass die meisten der durch eine harte Ausbildungszeit gegangenen Kämpfer bei einem ihrer hochriskanten Einsätze ums Leben kommen. Sie werden als anonyme Tote oder standrechtlich Erschossene aus der Liste gestrichen und machen einer anderen Nummer Platz, der aller Voraussicht nach das gleiche Schicksal beschieden ist. Das Sterben dieser Männer geschieht in aller Stille, wird ohne Ehrensalve zur Kenntnis genommen. Man gedenkt ihrer, indem eine gestrichene Nummer kein zweites Mal vergeben wird.

Leutnant Jochen Brandt, 24 Jahre alt, wortkarg geworden, verschlossen und schon längst von heftigen Zweifeln befallen an der Sache, der er dient, verlässt das Wachlokal. Das kleine Zimmer im Marinekommando ist rasch erreicht. Feldwebel Witt liegt auf dem Feldbett und schnarcht, noch angekleidet, die Beine auf das untere Bettgestell gelegt.

»He, du!«

»Was’n los?«, grunzt der untersetzte, sonnverbrannte Kollege und fährt erschrocken hoch.

»Ich muss weg. Du übernimmst den Laden hier. Falls etwas passiert, Nachrichten von unseren Mittelsmännern eintreffen, oder sonst was Wichtiges vorliegt, erreichst du mich im Castell Mare.«

Brandt hat bereits mit dem Packen des Seesacks begonnen und stopft die wenigen Klamotten in das Gepäckstück.

Witt reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. Er hat noch gar nicht begriffen.

»Geht’s los?«, fragt er.

»Möglich. Der Alte hat es eilig gemacht.«

»Dann ist bestimmt was los«, grunzt Witt. »Schickt er dir den Wagen rüber?«

»Nein. Ich nehme unser Krad. Vielleicht liegt auch nichts vor, und ich bin morgen wieder zurück.«

»Wenn er dich ins Castell ruft, sind bestimmt ein paar Neuigkeiten eingetroffen.«

Brandt knallt die Spindtür zu und reicht Witt die Hand: »Mach’s gut, Ernst.«

»Du auch. Und lass mich bloß nicht hier kleben, wenn was los sein sollte!«

»Du hörst von mir!«

Brandt wirft den Seesack über die Schulter und geht. Fünf Minuten später knattert die schwere Beiwagen-Maschine durch die Straßen von Ancona. Man sieht nur wenige Menschen. Die meisten Bewohner haben sich wegen der zunehmenden Bombenangriffe in die Campagna zurückgezogen. Räumtrupps sind dabei, Trümmer zu beseitigen. Am Stadtrand wird Brandt zweimal angehalten und muss sich ausweisen.

»Haben Sie Ihre Uniform verscheppert?«, fragt ein Leutnant vom Marinekommando, als er Brandt den Ausweis zurückreicht.

Brandt deutet auf den Seesack. »Dort drinnen. Soll ich sie auspacken?«

»Nicht notwendig. Der Ausweis genügt.« Der Leutnant grüßt.

Brandt gibt Gas, und die Maschine macht einen Satz nach vorn.

Das Castell, in dem Oberstleutnant Boltz seinen Schreibtisch aufgestellt hat, liegt knapp zwanzig Kilometer hinter Ancona, an einem Berghang, zu dem ein staubiger Weg hinaufführt. Dunkle Zypressen trauern um das alte Gemäuer, das an der Ostseite steil zur Straße abfällt und von graugrünen Olivenhainen abgelöst wird. Man hat von dort oben einen wunderbaren Blick über das Meer. Aber das hier einquartierte Kommando hat anderes zu tun, als sich an der idyllischjen Küstenlandschaft zu ergötzen, deren romantische Stille nur allzu oft von Gefechtslärm zerrissen wird.

Vor dem Burgtor stehen zwei Posten mit Maschinenpistolen bewaffnet. Brandt hält kurz an und ruft in das Brummen der Maschine: »Ich bin’s, Wendlinger!«

»Ach, der Herr Leutnant!« Wendlinger grüßt zackig und tritt zur Seite.

Staubbedeckt und eilig rennt Brandt in das efeuumsponnnene Gebäude, über eine Treppe hinauf und stürmt in sein Zimmer. Das Umziehen ist rasch getan. Die Uniform ist etwas zerknautscht; man sieht jetzt die vielen Auszeichnungen am Tuch: EK I, Deutsches Kreuz in Gold, Nahkampfspange und etliches mehr. Brandt hängt sich auch die italienische Auszeichnung um den Hals, denn es kann sein, dass fremder Besuch da ist, dem man vorgestellt wird. Außerdem weiß Brandt, dass es der Alte lieber hat, wenn man in Uniform kommt.

In der weiträumigen Schlosshalle, beobachtet von einer Anzahl aristokratischer Hochmutsgesichter, belauert von zwei aufgestellten Ritterrüstungen und vom antiken Hauch des Hauses umfächelt, hat Fräulein Emmy Schreiner aus Magdeburg ihren Vorzimmerplatz zugewiesen bekommen.

Das weizenblonde Mädchen mit den etwas farblos wirkenden Augen arbeitete schon seit Jahr und Tag im Amt Ha der deutschen Abwehrorganisation. Oberstleutnant Boltz sorgt immer dafür, dass bei dem oftmaligen Stellungswechsel seines Amtssitzes auch Fräulein Emmy Schreiner mit eingepackt wird. Denn sie ist eine routinierte Arbeitskraft, die Boltz nicht mehr missen kann.

Das Mädchen weiß bereits, wer gekommen ist. Ein rascher Blick aus dem hohen Bogenfenster hat sie davon überzeugt, dass Leutnant Brandt sehr rasch dem Ruf des Chefs Folge geleistet hat – ein Grund, um in aller Eile das Lippenrot aufzufrischen und das germanisch einfach geordnete Blondhaar glattzustreichen.

Da kommt er auch schon herein.

»Tach, Emmy«, grüßt er.

»Heil Hitler, Herr Leutnant«, erwidert sie als linientreue Parteigenossin. »Der Herr Oberstleutnant erwartet Sie schon.«

»Wie geht’s?«, fragt er und lächelt ein bisschen. »Spukt es schon in Ihrem Salon, oder dulden die Herren dort …« – Brandt wirft einen Blick auf die hochmütigen Gesichter im schweren Goldrahmen – »die Zwangseinquartierung?«

Emmys roter Mund verzieht sich zu einem Lächeln. »Ich habe noch nichts bemerkt, Herr Leutnant.«

»Mäuse auch nicht?«

»Mäuse?« Die hellblauen Augen weiten sich erschrocken. »Nein. Gott sei Dank nicht!«

Rechts drüben geht eine hohe Flügeltür auf.

»Ah, da bist du ja schon, Jochen! Komm herein!«

Oberstleutnant Boltz winkt und klopft Brand freundschaftlich auf die Schulter, als er in das antik ausgestattete Zimmer tritt.

»Alles in Ordnung im Hafen?«

»Alles in Ordnung«, sagt Brandt und meldet sich nachträglich zur Stelle.

»Setz dich, mein Junge«, fordert Boltz auf. »Ich muss mit dir reden.«

Boltz ist frühzeitig ergraut. Die schwere Verantwortung, die er bei seinen Aufgaben trägt, hat sein Gesicht gezeichnet; es ist ein noch junges Gesicht, etwas nervös, schmal und verrät den geborenen Offizier. Canaris hat diesen Mann nicht umsonst vom Hauptmann zum Oberstleutnant avancieren lassen. Man weiß in Berlin genau, dass Boltz das Vertrauen und die Hochachtung der noch loyal gebliebenen Italiener besitzt, wie sich überhaupt kein Mann besser als Sabotageleiter eignet als Oberstleutnant Walter Boltz. Die Freundschaft zu Leutnant Brandt gründet auch auf dem Umstand, dass Boltz seinen einzigen Sohn, der als Fähnrich in Russland kämpfte, verloren hat. Brandt ähnelt diesem Toten, hat auch dessen Art. Aus diesem Grunde ist die Schranke zwischen Leutnant und Oberstleutnant auch so gut wie restlos gefallen.

»Cognak?«, fragt Boltz.

»Es ist mir lieber, wenn du gleich vom Leder ziehst«, sagt Brandt und setzt sich in den hochlehnigen Stuhl.

Boltz kehrt hinter seinen Schreibtisch zurück, auf dem ein Wust an Karten und Aktenpapieren in kunterbuntem Durcheinander liegen.

Brandts graue Augen heften sich gespannt auf das Gegenüber.

»Hör zu«, fängt der Oberstleutnant an. »Es gibt Arbeit. Du fährst noch heute nach San Giorgio. Colonello Lorenzoni erwartet dich.«

Brandts Miene verrät Überraschung. »Lorenzoni?«

»Ja. Er hat das Kommando bei dem Unternehmen.« Boltz lächelt flüchtig. »Er erinnert sich sehr gut an deine Verdienste beim Unternehmen Seeigel und hat dich angefordert. Auch Dengler ist von Lorenzoni angefordert worden, unser Funkerfeldwebel. In San Giorgio werden noch zwei Mann von uns antanzen. Ein Fähnrich, der eben erst die Ausbildung hinter sich hat, und – tja, Jochen«, grinst Boltz herüber, »ein Mann vom SD, Kramer heißt er. Ich kenne ihn flüchtig von Berlin her. Er war schon zweimal in Moskau, wurde beim letzten Mal erwischt, konnte aber rechtzeitig ausbuchsen. Klar, dass man ihn jetzt nicht mehr im Osten einsetzen will. Kramer ist Hauptsturmführer. Soll auch das Ritterkreuz haben. Er gilt als kaltschnäuziger Bursche. Man hat mir zugeflüstert, dass er auch gelegentlich die Nase etwas hoch trägt. Erzählt gerne davon, dass er mit dem Führer gefrühstückt hat und … Na ja, du wirst schon wissen, wie du den Mann zu nehmen hast.«

Brandt fischt nach Zigaretten und zündet sich eine an. Sein Gesicht verrät nichts. Nur das linke Auge hat sich halb geschlossen.

Boltz fährt fort: »Was den Fähnrich betrifft, so musst du ein bisschen auf ihn aufpassen. Ist noch ein unbeschriebenes Blatt, wurde aber, wie ich aus den Akten feststellen konnte, mit einer sehr guten Beurteilung von der Schule entlassen. Es wird sein erster Einsatz sein.«

»Wo?«

»Bari.«

Brandt schaut zum hohen Bogenfenster hinüber. Man sieht nur blauen Himmel. Ein Efeuzweig schaukelt sich im Wind.

Im Gehirn des Leutnants beginnt die Abteilung »Geographie« zu arbeiten: Bari. Hafenstadt an der Adria. 200000 Einwohner etwa. Das Ziel des Auftrages liegt also rund 200 Kilometer hinter der augenblicklichen Frontlinie. Wichtiger Nachschubhafen der Alliierten. Also eine wenn auch wieder gefährliche, so doch interessante Aufgabe.

Die Augen des Oberstleutnants schauen mit nachdenklichem Ausdruck herüber.

»Du triffst Colonello Lorenzoni in der Villa Flora«, sagt Boltz jetzt.

Brandt nickt und zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher. »Wer ist noch dabei?«

»Darüber hat sich der Colonello nicht ausgelassen. Ich vermute aber, dass ein paar alte Bekannte von dir mitmachen werden.«

Brandt schiebt sich hoch und geht zweimal durchs Zimmer. Indessen ergänzt Boltz seine Einsatzmeldung:

»Dengler wird die Funkverbindung mit unseren V-Männern in San Benedetto aufnehmen. Von dort aus werde dann ich über den Stand der Dinge benachrichtigt. Außerdem wird Dengler auch die Funklinie Rom benützen. Genaue Anweisungen wird der Colonello noch geben. Das wäre im Augenblick alles, Jochen.« Brandt ist vor dem Schreibtisch stehengeblieben und blickt den älteren Freund an.

»Und deine Meinung von dem Auftrag?«

»Der Erfolg hängt von den Vorarbeiten ab. Die Chancen sind wie immer.«

Brandt grinst matt. »Diesmal vielleicht noch um ein paar Prozent herabgesetzt, weil der Gegner wachsamer geworden ist.«

»Damit muss gerechnet werden, Jochen.«

»Hm …« Brandt reibt sich das Kinn. »Wer hat die Sache vorbereitet?«

»Ein paar Agenten der O. V. R. A. Lorenzoni weiß bestimmt mehr.«

»Na schön. Ich werde mich gleich auf die Socken machen. Übrigens, Witt hat mich gebeten, ihn nicht in Ancona kleben zu lassen. Kann er mitkommen?«

»Witt muss diesmal hierbleiben. Wir brauchen einen verlässlichen Mann für die Hafenkontrolle. Ich werde ihm das persönlich sagen.«

»Gut. Wo ist Dengler?«

»Er macht den Wagen fertig.« Boltz erhebt sich und kommt um den Schreibtisch herum. »Hör mal zu, mein Junge. Du kannst ablehnen. Wenn du mir sagst, dass deine Verwundung noch nicht ganz ausgeheilt ist und du Schonung brauchst, wäre das ein Grund, dich von dem Unternehmen zu streichen.«

»Ich fühle mich in Ordnung.«

Boltz legt dem anderen die Hand auf die Schulter und rüttelt ihn leise. »Du bist jetzt insgesamt sieben Mal verwundet worden, das letzte Mal ziemlich schwer. Ein Wort von dir genügt, und ich teile Lorenzoni mit, dass er einen anderen Mann einsetzen soll.«

Brandt winkt ab. »Unsinn. Es sähe wie Kneifen aus. Außerdem reizt mich die Sache. Wenn die Kameraden von der ›Decima‹ mit dabei sind, möchte auch ich dabei sein.«

Boltz setzt sich auf die Schreibtischecke. Sein Blick gleitet an der breitschultrigen Gestalt des Leutnants auf und nieder.

»Es wird diesmal ziemlich schwer sein, mein Junge. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du den Strapazen gewachsen bist. Der Mensch ist keine Maschine.«

»Leicht war’s noch nie, Walter, und was meine gesundheitliche Verfassung anbelangt, so mute ich mir bestimmt nicht zu viel zu. Außerdem, Walter – der Dienst in Ancona ist mir zu langweilig. Ich freue mich, dass wieder mal was anliegt – und ich freue mich doppelt, weil ich weiß, dass ich in San Giorgio ein paar Freunde wiedersehen werde.«

Boltz’ Miene bleibt ernst und nachdenklich. In seinen etwas müde dreinschauenden Augen liegt ein heimliches Bitten, als er sagt: »Von unserer Gruppe sind nicht mehr viel übrig geblieben, Jochen. Jeder Einsatz rafft ein paar dahin. Ehrlich gesagt, mein Junge: Ich hätte nichts dagegen, wenn du diesmal daheim bliebst und mir sagtest: ›Ich kann nicht. Ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen. In vier oder sechs Wochen mache ich wieder mit!‹«

Brandt geht zum Fenster und schaut hinaus. Tief unten breitet sich die blaugrüne Wasserfläche der Adria aus. Himmel und Wasser verschmelzen zu eins. Klar und hell scheint die Sonne, lässt vergessen, dass der Krieg schon fünf Jahre lang tobt. Friedlich ist das Meer, einsam, ohne Rauchwolke, ohne weißen Segelfleck.

Ich könnte mich drücken, denkt der Mann am Fenster. Ein Wort würde genügen. Walter wartet darauf, dass ich sage: Es geht nicht – ich fühle mich der Aufgabe, rein gesundheitlich, nicht gewachsen. Er hat das aber alles erst hintenan gesetzt und die Pflicht vorangestellt. Soll ich das Schicksal noch einmal herausfordern? Hat es überhaupt noch einen Sinn, das Leben aufs Spiel zu setzen?

Stille herrscht. Der Mann am Schreibtisch reibt sich mit der Hand das hagere Gesicht, streicht sich dann über das graue Haar.

Draußen im Vorraum beginnt eine Schreibmaschine zu klappern. Unten im Schloßhof summt ein Motor, brüllt auf und verstummt wieder. Feldwebel Dengler hat den Wagen fertig gemacht und lädt noch drei Kanister Sprit auf.

Brandt dreht sich um; sein Gesicht liegt im Schatten, als er sagt: »Ich danke dir für dein Angebot, Walter. Sobald ich den Auftrag erledigt habe, werde ich bei dir ein Urlaubsgesuch einreichen.« Er geht auf Boltz zu und reicht ihm die Hand. »Ich fahre jetzt.«

»Zieh dich bitte um, Jochen.«

»Ja.«

Die Hände halten sich noch immer fest. Die beiden Männer schauen sich in die Augen.

»Soll ich jemand benachrichtigen, falls dir etwas zustößt?«, fragt der Oberstleutnant.

»Ich habe nur Mutter. Du musst dir selbst einen Text ausdenken, Walter.«

Boltz lässt Brandts Hand los.

»Du wirst es schaffen«, sagt er und klopft dem Leutnant auf die Schulter. »Grüße Lorenzoni von mir.«

Sie gehen zur Tür. Dort bleibt Boltz noch einmal stehen. »Ich bin stolz auf dich, Jochen. Es käme mir sauer an, wenn du …« Boltz gibt sich einen Ruck. »Mach’s gut, mein Junge, und komm mir heil zurück.«

Brandt klappt die Hacken zusammen und steht stramm.

»Leutnant Brandt meldet sich ab.«

»Ich wünsche euch alles Gute und viel Erfolg.«

Oberstleutnant Boltz lässt Brandt hinaus und schließt die Tür. Drüben am Schreibtisch verstummt das Stakkato der Maschine. Fräulein Emmy schaut auf und kommt um den Schreibtisch herum.

»Sie gehen schon wieder, Herr Leutnant?«

»Ja. Ich muss mich wieder einmal von Ihnen verabschieden, Emmy.«

»Wohin denn diesmal?«

»Zur Abwechslung mal nach Bari.« Er reicht ihr die Hand. »Ich werde Ihnen eine Ansichtskarte schreiben, Emmy.«

»Oh …«, macht sie erschrocken, »nach Bari. So weit wieder.«

»Drücken Sie mir die Daumen«, sagt er.

Sie nickt, und ihre blassblauen Augen schauen etwas verstört zu ihm auf.

»Dann … dann viel Glück, Herr Leutnant.«

»Das könnten wir brauchen.«

Er drückt ihre Hand, streichelt ihr rasch über das Haar und verlässt die Halle mit schnellen Schritten.

Emmy steht noch eine Weile da und schaut der entschwundenen Gestalt nach; dann seufzt sie leise und kehrt wieder hinter ihre Schreibmaschine zurück. Aber es dauert einige Zeit, ehe Fräulein Emmy den Brief nach Berlin weitertippt; denn sie muss daran denken, dass Leutnant Brandt weit ins feindliche Hinterland gehen wird und dass von dort nur wenige zurückkehren. Dieser Gedanke treibt dem Mädchen einen feuchten Schimmer in die Augen.

Zehn Minuten später brummt im Schlosshof ein alter Fiat-Wagen und schaukelt mit zwei Männern in Zivil durch das alte Burgtor. Die Posten stehen stramm und grüßen. Gleich darauf verschwindet der Wagen in einer dichten Staubwolke.

Brandt und Feldwebel Dengler – letzterer ein untersetzter, breitschultriger Kerl mit einer kräftigen Nase, von der sich eine Narbe zum linken Mundwinkel hinabzieht, und dem Gesicht eines jovialen Viehhändlers – tragen Zivilkleider und führen nur wenig Gepäck bei sich. Als einziges militärisches Kleidungsstück tragen sie unter den abgewetzten Jacken das Militärhemd mit dem tausendjährigen Raubvogel auf der Brustseite, sowie Ausweis und Erkennungsmarke. Die 08 steckt im Armhalfter unter der linken Achsel.

Franz Dengler stammt aus Dortmund und gilt als ausgezeichneter Funker und kaltschnäuziger Draufgänger. Brandt schätzt ihn sehr und hat mit ihm schon mehrere Einsätze erlebt. Sie duzen sich.

»Verdammt gutes Wetter für die Jabos!«, ruft Dengler in den Lärm des Motors. »Wir müssen höllisch aufpassen, Jok!«

Der Wagen rollt jetzt eine schnurgerade Straßenstrecke entlang, zu deren beiden Seiten sich Olivenhaine mit Pfirsichplantagen ablösen. Rechter Hand wellt sich das Hügelland und geht weiter drüben in höheres Bergland über. Links liegt das Meer und badet sich im eitlen Sonnenschein, leicht rollend und den Strand beleckend.

»Wer macht noch alles mit?«, fragt Dengler, während die Tachonadel um die Zahl 100 herumzittert.

»Zwei Neue. Ein Fähnrich und einer vom SD.«

»Seit wann steckt der SD seine Nase in unsere Angelegenheiten?«

Dengler wirft einen Seitenblick auf Brandt und sieht dessen Schulterzucken. »Was ist das für ein Herr?«

»Soll in Russland gewesen sein und das Ritterkreuz haben. Der Chef erzählte etwas von ›Frühstück beim Führer‹ und ›Nase hoch tragen‹.« Brandt grinst herüber. »So was kann uns nicht imponieren, wie?«

»Wir haben auch schon mit feinen Leuten gefrühstückt«, sagt Dengler. »Denk nur daran, als wir …«

»Achtung!«, brüllt Brandt plötzlich und deutet nach links. »Jabos!«

Dengler tritt wild auf die Bremse. Der Wagen schleudert. Die Pneus radieren auf dem Asphalt. Dengler flucht wie ein kanadischer Holzfäller, als er den Fiat in den Straßengraben schaukelt und aus dem windschief hängenden Vehikel springt. Keine Sekunde zu früh.

Die Jabos sind da. Die erste Maschine hüpft über die Chaussee hinweg, legt sich auf die Seite, kurvt über dem Meer ein und kommt zurück. Eine dünne Rauchfahne weht hinter ihr her. Jetzt dröhnt die zweite und sofort hinterher die dritte Maschine heran.

Haben die Briten den Wagen gesehen? Er hängt im Straßengraben unter einem alten Olivenbaum. Die beiden Insassen liegen etwas davon entfernt und pressen sich in den Graben hinein.

Jetzt dröhnt der erste Jabo heran; er fliegt die Chaussee entlang, hinter ihm her die beiden anderen. Weg sind sie. Aber jetzt … Es kracht ein paarmal, scharf und kurz. Fast gleichzeitig hört man das Knattern der Bordwaffen.

Brandt und Dengler heben den Kopf, robben zum Grabenrand hoch und schauen nach vorn. Etwa drei Kilometer entfernt, vielleicht auch etwas näher, liegt eine Ortschaft. Dort blitzt es und kracht es. Rauch steigt auf, Flammen …

»Diese Hunde«, sagt Dengler, »dort vorne haben sie was fertig gemacht.«

Die Jabos kreisen über dem Dorf. Fliegen noch zweimal an. Die Bordkanonen knattern. Schwärzlicher Rauch kennzeichnet die Stelle, wo irgendetwas zusammengeschossen wurde. Ein Haus? Ein deutsches Militärfahrzeug?

»Komm«, sagt Brandt und springt auf.

Brandt schwingt sich in den Wagen, startet, ruckt an, karrt den Fiat endlich aus dem Graben und jagt auf die Rauchwolke zu.

Die Jabos sind abgeflogen. Am Ortseingang brennt ein Omnibus. Lichterloh steht er in Flammen. Eine lebendige Fackel stürzt heran, fällt nieder und wälzt sich auf der Straße.

Mit wildem Ruck hält Brandt den Wagen an und springt heraus. Dengler hinterher. Ein Bild des Grauens bietet sich ihnen. Der Omnibus ist mit Marinesoldaten besetzt. Niemandem ist es gelungen, aus dem zerschossenen und brennenden Wrack herauszukommen. Man sieht das große Fahrzeug kaum. Beißend dicker und rußender Rauch hüllt alles ein. Ein Glutgürtel liegt um das Fahrzeug und verhindert jede Hilfeleistung. Im fressenden Rot sieht man ein paar Gestalten in den Fenstervierecken hängen, tot, verbrannt, ehe sie herauskonnten. Etwas weiter vorne liegt eine Gestalt auf der Straße, die Arme weit von sich gestreckt, das Gesicht auf die Erde gedrückt. Der Fahrer. Tot. Erschossen.

»Hier gibt es nichts mehr zu helfen«, sagt Dengler. »Alles hin.«

Das Omnibuswrack verschmort mit hässlichem Geräusch. Kein Hilferuf mehr, kein Jammerschrei. Die Jabos haben ganze Arbeit geleistet. Niemand ist dem Tod entkommen. Die Flammen verzehren die Reste von dem, was einmal Menschen waren.

Brandt und Dengler können hier nicht helfen. Nur die beiden Toten, der eine verbrannt, der andere von einem Dutzend Kugeln getroffen, werden beiseitegeräumt und in den Straßengraben gelegt. Die Hitze ist unerträglich.

Brandt und Dengler laufen wieder zum Wagen zurück. Brandt setzt sich hinter das Steuer und taxiert den schmalen Raum zwischen dem brennenden Wrack und dem Straßengraben, gibt entschlossen Gas und jagt den Fiat durch den Wall sengender Hitze.

Sie kommen durch, ohne dass der Wagen Feuer fängt.

»Vielleicht ist im Dorf ein Telefon«, meint Dengler.

Brandt schweigt. Mit finsterer Miene fährt er in die Ortschaft ein. Sie besteht nur aus einer Handvoll ärmlicher Häuser. Kein Mensch ist zu sehen. Erst als Brandt auf die Hupe drückt, tauchen ein paar Gesichter auf, angstverzerrt.

Auf Brandts Frage, ob es hier ein Telefon gebe, kommt eine verneinende Antwort. Der schlohweiße Alte, der befragt wurde, schaut entsetzt zum Ortseingang, wo der Bus brennt, und bekreuzigt sich.

»O mio dio«, murmelt er.

»Keinen Zweck«, sagt Dengler. »Schauen wir zu, dass wir weiterkommen, sonst haben wir die Jabos noch einmal auf dem Hals.«

Einsam ist die Straße. Kein Fahrzeug begegnet ihnen. Erst kurz vor der nächsten Ortschaft taucht ein Sanka auf, der nach Ancona fährt.

Brandt informiert den mitfahrenden Unterarzt.

»Sie können nicht mehr helfen«, sagt er. »Keiner ist herausgekommen. Benachrichtigen Sie bitte die Kommandantur von Ancona.«

Sie tauschen noch ein paar Worte. Dann setzt Brandt sich neben Dengler und fährt weiter.

»Die werden immer frecher«, sagt Dengler zu Brandt. »Möchte wissen, wo unsere großdeutsche Luftwaffe ist? Herr Meyer in Berlin ist wohl wieder auf der Bockjagd!«

Brandt antwortet nicht; er starrt die Chaussee entlang. Das, was eben passiert ist, passiert mittlerweile überall. Vom der deutschen Luftwaffe ist nicht mehr viel zu sehen. Ist man vielleicht dem großen Ende näher, als man denkt? Wie lange dauert dieser Irrsinn noch? Warum setzt man sein Leben noch einmal aufs Spiel?

»Sei ehrlich, Jok«, sagt Dengler. »Weißt du überhaupt noch, wie ’ne deutsche Me 109 oder Focke-Wulf aussieht? Ich nicht. Man könnte meinen, es gebe nur noch Tommies und Amis auf der Wiese des lieben Gottes, und uns gehört nur noch ein Stückchen Deutschland, so groß wie das Kornfeld meiner Tante Fini in Dorsten.«

»Halt endlich den Schnabel!«, belfert Brandt.

»Zu Befehl, Herr Leutnant«, grinst Dengler, nimmt Haltung an und beginnt mit dem Kopf zu wackeln und zu singen:

»Deutschland, Deutschland, armes Deutschland,

langsam kommst du auf den Hund …«

Es klingt boshaft und traurig zugleich.

Es ist dunkel geworden. Der kleine Fischerort San Giorgio verrät seine Existenz nur mit ein paar dünnen Lichtstrahlen, die durch verschlossene Fensterläden fallen. In den schmalen Gassen, die vom winzigen Marktplatz zum Hafen hinunterführen, liegt der Geruch von Fisch und geteerten Booten.

Langsam schiebt sich ein Wagen durch die schmale Straße und hält vor dem kleinen Municipio. Wie ausgestorben ist der enge Platz. Denn gleich ist der Zeitpunkt da, an dem »Pipo«, der Nachtjäger, seinen Kontrollflug längs der Küste abkurvt und liebend gern auf Lichtquellen Bomben wirft oder kurz die Bordwaffen rütteln lässt.

»He!«, ruft eine Stimme aus dem haltenden Wagen. »Wo ist die Villa Flora?«

Eine Gestalt tritt näher und gibt halblaut Antwort.

»Grazie, amigo«, sagt Brandt. Dann schnurrt der staubbedeckte Fiat wieder zum Städtle hinaus, biegt links ab und hoppelt einen schlechten Weg hinan, der schließlich vor einem großen, schmiedeeisernen Tor endet.

»Wer da?«, ertönt es drinnen, und der abgeblendete Strahl einer Taschenlampe tastet Fahrzeug und Besucher ab.

»Kommando Seeadler«, erwidert Brandt. »Wir werden erwartet.«

»Va bene«, ertönt es hinter dem eisernen Zierat. Kreischend öffnet sich ein Torflügel. Zwei Posten bewegen sich im Halbdunkel.

Brandt winkt Dengler und geht dem Wagen voran auf eine zwischen großen Bäumen liegende Villa zu. Der Putz ist an verschiedenen Stellen schon abgebröckelt, und große, wie riesige schwarze Augen glotzende Flecke haben sich an der Mauer gebildet. Eine ausgetretene Treppe führt zu einem dunklen Portal hinauf, neben dem zwei Lebensbäume in viereckigen Gefäßen stehen. Der Duft von Jasmin weht durch den nächtlichen Garten. Die herabgelassenen Jalousien lassen keinen Lichtschein durch.

Brandt wartet, bis Dengler ausgestiegen und heraufgekommen ist.

»In Gottes Namen«, lässt Dengler sich vernehmen. »Klopf an, Fremder, und erbitte dir ein Nachtquartier.«

Brandt sucht einen Glockenzug oder Klingelknopf, findet aber nichts dergleichen und pocht hart an die Tür.

Drinnen nähern sich rasche Schritte. Ein Riegel knackt. Die Tür wird aufgemacht. Eine halblaute Stimme fragt: »Prego?«

»Leutnant Brandt und Feldwebel Dengler vom Kommando Seeadler.«

»Ich krieg die Krätze!«, ertönt eine freudige Stimme. »Jok! Alter Seeräuber!«

»Mensch, Amadeo!«

Zwei alte Kämpfer haben sich wiedergetroffen und umarmen sich mit südlichem Temperament. Leutnant Amadeo Massimo ist Froschmann bei der »Decima«. Der kleine, drahtige Medizinstudent aus Padua freut sich aufrichtig. In der Diele sitzen noch ein paar Bekannte Brandts: Leutnant Marzi, mit dem Brandt in Neapel war. Dann Carlo Berton, der Sergente. Die anderen drei sind fremde Gesichter. Man hat Karten gespielt. Eine abgeschirmte Lampe ist tief über den Tisch gezogen, auf dem volle Aschenbecher, Gläser und eine Zweiliterflasche Chianti stehen. Die Männer sind noch jung und tragen dunkle Pullover mit Rollkragen.

Das Wiedersehen zwischen den Freunden ist herzlich. Dengler, ebenfalls im Kreise der Froschmänner bekannt, schenkt sich gleich ein Glas Wein ein und toastet: »Kameraden, darauf muss ich mir den Gaumen anfeuchten! Salute! Jetzt macht mir der Jokus in Bari erst richtig Spaß!«

Die anderen drei Froschmänner schauen noch ein bisschen reserviert drein, tauen aber sogleich auf, als Amadeo kurz Auskunft über das Kameradschaftsverhältnis gibt.

»Willkommen«, sagen sie dann. »Setzt euch. Wir freuen uns.«

»O mama mia!« Leutnant Amadeo Massimo kann es noch immer nicht glauben, dass Brandt, der in Freundeskreisen kurz »Jok« genannt wird, den Einsatz mitmachen soll. »Ich dachte, du wärst auf Urlaub oder sonstwo.«

»Keine Zeit dazu, Amigo. Wo ist der Colonello? Ich muss mich bei ihm melden.« Brandt gibt Dengler einen Wink. Dann fragt er Amadeo: »Müssen wir uns umziehen, oder können wir in unserem Räuberzivil vorstellig werden?«

»So wie ihr seid«, sagt Amadeo. »Kommt, ich führ euch hinauf.«

Die drei gehen in den ersten Stock.

Colonello Enrico Lorenzoni sitzt in einem sorgfältig abgedunkelten Zimmer und studiert mit der Vergrößerungslupe ein paar gelungene Luftaufnahmen von Bari.

Es klopft.

»Avanti!«, sagt der Offizier, ohne aufzublicken.

Schritte kommen herein. Hacken klappen zusammen. Brandts Stimme schnarrt eine militärische Meldung herunter.

Lorenzoni legt das Vergrößerungsglas beiseite, klemmt Daumen und Zeigefinger in die Augenhöhlen, schaut dann rasch auf und mustert die beiden.

Er ist alt geworden, geht es Brandt durch den Kopf. Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er noch keine so tiefen Falten um den Mund.

Das dunkle, wie Leder wirkende Gesicht des italienischen Obersten lächelt freundlich. Er kommt mit ausgestreckter Hand auf Brandt zu. »Ich freue mich, Sottotenente. Willkommen bei uns.« Er wendet sich an Dengler, der wie eine Eins steht. »Und Sie auch, Mareschiallo. Hatten Sie eine gute Reise?«

»Danke«, antwortet Brandt und erzählt kurz von dem Vorfall auf der Straße nach San Giorgio.

Das Lächeln verschwindet aus dem streng geschnittenen Offiziersgesicht. Lorenzoni nickt, bedeutet mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Amadeo rückt zwei Stühle vor den Schreibtisch und tritt dann wieder in den Hintergrund.

Die drei Männer warten, bis der Oberst Platz genommen hat.

»Sie können rauchen«, sagt er und reicht Brandt ein Mahagonikästchen mit Zigaretten herüber.

Schweigen herrscht. Die Stille des Hauses ist plötzlich spürbar.

Der Colonello selbst raucht nicht; er reicht Brandt und Dengler Feuer, lächelt verbindlich und winkt noch einmal, die Plätze einzunehmen.

Der Mann, der schmal und in der Uniform eines italienischen Obersten hinter dem Schreibtisch sitzt, gehört seit mehr als drei Jahren dem italienischen Geheimdienst, der O. V. R. A. an, jener Organisation, die nach der Kapitulation Badoglios an der Seite Deutschlands geblieben ist. Brandt kennt Lorenzoni von La Spezia her, wo die Ausbildung der Froschmänner stattfindet. Es ist aber schon lange Zeit her, dass man sich das letzte Mal gesehen hat.

»Ich danke Ihnen, dass Sie so rasch gekommen sind«, lässt sich der Oberst vernehmen. Er richtet den Blick seiner etwas zu eng nebeneinander stehenden dunklen Augen auf Brandt: »Sollten nicht vier Mann von der ›Gruppe Seeadler‹ kommen?«

»Sie werden im Laufe des morgigen Tages eintreffen, Colonello.«

Der andere nickt. Dann stellt er Fragen über die letzten Einsätze. Brandt erstattet knapp Bericht, während im Hintergrund Leutnant Amadeo Massimo sitzt und mit leuchtenden Augen der Unterhaltung zuhört.

»Gut«, sagt schließlich der Oberst. »Sie wissen ja schon beiläufig, worum es diesmal geht, nicht wahr?« »Jawohl. Bari steht auf dem Dienstplan.«

»Eine harte Nuss, Sottotenente. Ich glaube aber, dass wir sie knacken werden. Genaueres besprechen wir morgen, wenn die beiden anderen Herren bei uns eingetroffen sind. Ich hörte, dass Sie beim letzten Einsatz schwer verwundet wurden, Leutnant Brandt? Ist die Verwundung inzwischen auskuriert worden?«

»Ich fühle mich wohl, Colonello.«

»Was war es für eine Verwundung?«

»Schulterdurchschuss.«

»Lungenverletzung?«

»Nur gestreift.«

»Ich werde Sie Dottore Brunelli vorstellen«, sagt Lorenzoni.

»Ich glaube, das ist nicht notwendig, Colonello«, erwidert Brandt rasch.

Ein prüfender Blick huscht herüber und tastet das schmale Gesicht des deutschen Leutnants ab.

»Sie wissen«, sagt Lorenzoni mit leisem Nachdruck, »dass Sie vollkommen gesund sein müssen, um den Strapazen eines schweren Einsatzes gewachsen zu sein. Draufgängertum ist lobenswert, ich möchte aber nicht, dass Sie sich zu viel zumuten.«

Brandt spürt Ärger in sich aufsteigen. Schließlich weiß er doch selbst, was er sich zumuten kann.

»Ich bin gesund«, sagt er ruppig.

»Und wie oft wurden Sie schon verwundet?«

»Ich glaube sieben Mal. Viermal leicht, dreimal etwas schwerer.«

Kurzes Schweigen. Im Hintergrund räuspert sich Amadeo. Dengler zerknautscht seine Mütze.

»Und Sie, Feldwebel Dengler«, wendet sich Lorenzoni an den anderen, »Sie werden wieder dieselbe Aufgabe übernehmen, die Sie schon öfters hatten. Nur mit dem Unterschied, dass ein neuer Code verwendet wird, mit dem Sie sich noch vertraut machen müssen.«

»Jawohl, Colonello.«

»Va bene. Das wäre für heute alles.« Lorenzoni erhebt sich. »Sie werden müde sein. Massimo, bitte weisen Sie den Kameraden das Quartier an.«

Amadeo springt dienstbeflissen auf. »Si, Colonello.«

Lorenzoni reicht Brandt und dann Dengler die Hand. »Ich freue mich sehr, dass Sie zu uns gestoßen sind. Morgen sprechen wir ausführlich über den Einsatzplan. Ich wünsche Ihnen jetzt eine gute Nacht, meine Herren.«

Sie sind entlassen. Unten warten die anderen.

»Weißt du«, sagt Amadeo zu Brandt, »der Alte ist zu verantwortungsbewusst, als dass er jemanden in die Hölle schickt, der gesundheitlich nicht ganz beisammen ist. Wir mussten uns alle noch einmal von unserem Knochenflicker untersuchen lassen.«

»Ist Brunelli auch da?«

»Er kommt morgen. Du wirst ihm nicht entwischen.«

Brandt lacht etwas gezwungen. Als er mit Dengler das neue Quartier im Dachgeschoß bezieht und die Freunde gegangen sind, setzt sich Brandt auf die Bettkante und starrt vor sich hin.

»Was ist los, Jok?«, fragt Dengler. »Hast du Angst, dass der Brunelli dich nicht mitmachen lässt?«

Brandt zündet sich eine Zigarette an, schnippt das Streichholz aus und stößt den Rauch durch die Zähne.

»Quatsch. Ich mache mit. Ich fühle mich sauwohl. Das wird Brunelli auch in den Untersuchungsbefund eintragen müssen.«

Sie gehen zu Bett. Dengler dreht sich sofort der Wand zu und schläft ein. Brandt liegt noch lange wach. Er muss an den brennenden Omnibus denken. Ein böses Omen? Soll man sich von dem Unternehmen distanzieren? Aber nein. Da sind die alten Kameraden. Der Amadeo macht mit, der Marzi! Man kann sie doch nicht allein losgehen lassen!

Brandt betastet unter der Wolldecke seine Narben. Dicht neben der linken Achselhöhle ist ein Loch, das die Kugel des britischen MGs gerissen hat. Weiter unten, in der rechten Hüfte, zieht sich noch eine lange Narbe am Leib entlang. Auch eine MG-Kugel, die den Bauch hätte treffen können, aber nur das Hüftfleisch aufriss. Am Schenkel noch zwei Narben von Durchschüssen. Am Rücken die Spuren von Granatsplittern. Verdammt, verdammt, es ging manchmal um ein Haar! Es wird auch diesmal wieder gut gehen. Man ist ja schließlich kein Neuling mehr, man hat jahrelang den Tod vor Augen gehabt und fürchtet ihn nicht mehr.

Brandt liegt still und hört die festen Atemzüge des schlafenden Kameraden. Durch das offene Fenster strömt die kühle Nachtluft herein, der Geruch blühender Büsche und der salzige Geschmack des nahen Meeres. Bilder tauchen auf und ziehen vorüber. Brandt sieht sich als kleinen Jungen, daheim, in Berlin-Dahlem. Die Mutter steht am Fenster und schaut in den Garten. »Jochen, setze dich nicht auf die kalte Erde! Du verkühlst dich!« Oder draußen am Wannsee, als Jochen zum Landungssteg schwimmt: »Jochen! Komm zurück! Das Wasser ist tief. Komm sofort her!« – Die gute Mutter. Jetzt sitzt sie allein in Berlin. »Wann kommst du wieder einmal heim, mein Junge?«, schreibt sie in ihrem letzten Brief. Ja, wann? Ist es nicht Verrat, diese alte Frau um die Freude des Wiedersehens zu bringen? Ist es nicht Frevel, sich an Aufgaben heranzudrängen, die der alten Frau in Berlin nicht gesagt werden – nie gesagt wurden? Warum belüge ich Mutter? Sie wähnt mich bei einem harmlosen Kommando. Sie ahnt nicht, was ich mache.

Brandt schnauft wie ein Ackergaul, der einen Pflug durch steinigen Boden zieht. Warum kommt man nicht mehr los von diesem Verein? fragt er sich. Warum habe ich kein Mädel, keine Frau? Bin ich nur dazu da, um mit dem Tod im Gummisack durchs dunkle Hafenwasser zu schwimmen und die Hölle heraufzubeschwören? Warum beteilige ich mich an diesem schmutzigsten Geschäft des Krieges, auf das, so man dabei ertappt wird, die Sühne an der Erschießungsmauer folgt?

Brandt findet keine richtige Antwort auf seine Frage. Ihn widert seine Arbeit an, er hasst sie, aber er kann sich nicht von ihr losreißen. Da sind die Kameraden. Prächtige Burschen, auf die man sich verlassen kann, die ihr Leben hinopfern und bedenkenlos für den Freund in die Bresche springen. Da ist das Wort »Pflicht«, das Wort »Kameradschaft«! Und da ist schließlich die Heimat, für die man alles tut und sich die Hände beschmutzt. Nein, nein, man kann nicht mehr zurück! Man ist an die Aufgabe gebunden. Deutschlands schwerste Stunde beginnt zu schlagen. Das weiß Brandt, und deshalb wird er sich gegen ein Untauglichkeitsurteil des Dr. Brunelli sträuben.

Am nächsten Morgen stellt Brandt fest, dass sie ihrer elf in der Villa Flora Quartier genommen haben. Sechs Männer gehören dem italienischen Geheimdienst an, drei der »Decima«, dazu Dengler und er selbst. Brunelli ist nicht da, wird erst am Nachmittag erwartet.

Der Morgen vergeht rasch; die Freunde sitzen beisammen und wärmen alte Kampferlebnisse auf. Dann ruft die Ordonnanz zum Mittagessen. Gutes Essen. Man merkt an der Speisenfolge noch nicht, dass seit fünf Jahren Krieg ist, und in den Städten der Hunger und die Not durch die Straßen und Gassen schleichen.

Das Mittagessen ist beendet. Brandt will einen Verdauungsspaziergang durch den verwilderten Garten machen, während sich die anderen aufs Ohr legen und Siesta halten.

Brandt spaziert unter den Bäumen, raucht gedankenvoll eine Zigarette und denkt an seine Mutter. Immer wieder wirft er sich vor, der alten Frau gegenüber verlogen zu sein, sie kaltschnäuzig zu täuschen, indem er ihr sagt, dass er ein harmloses Dienstkommando führe und weitab vom Schuss sei.

Brandt liebt seine Mutter. An Frauen hat er sich nicht gehängt. Da und dort ein Stundenerlebnis, dann wieder die Rückkehr zu sich selbst. Es hat ja keinen Zweck, sich ein Mädel anzulachen und ihm dann nur Kummer und Sorge zu bereiten.

Brandt nähert sich dem Tor. Die beiden Posten sprechen mit jemandem. Draußen stehen zwei Männer und weisen sich aus. Das Tor wird aufgemacht; sie kommen herein. Brandt errät sofort, wer gekommen ist, und geht auf die beiden zu.

»Hallo!«, ruft er. »Wenn ich mich nicht täusche, kommen Sie geradewegs aus La Spezia?«

»Genau«, sagt der größere und setzt einen abgeschabten Pappkoffer ab. »Hauptsturmführer Kramer ist mein Name.«

Jetzt klappt der jüngere die Hacken zusammen und stellt sich vor: »Fähnrich Möbius.«

Brandt reicht beiden die Hand und mustert sie rasch. Kramer ist groß und breit, hat ein pockennarbiges Gesicht und kalt blickende, helle Augen. Der andere ist etwas kleiner, sieht sehr jung aus, ist ein Typ, dem die Mädchen gerne nachseufzen. Ein hübscher Kerl, dieser Fähnrich Heinz Möbius. Seine rehbraunen Augen blitzen unternehmungslustig.

»Freue mich«, sagt Brandt und stellt sich vor. »Hatten Sie eine gute Reise?«

»Wir sind von einem Lkw mitgenommen worden«, antwortet der SD-Mann. Dann betrachtet er die Villa und meint: »Ist hier der Verein untergebracht?«

»Ja. Ich werde Sie gleich dem Leiter des Kommandos vorstellen.«

»Wer ist das?«

»Colonello Lorenzoni.«

»Ein Italiener also?«

»Ja. Wir sind hier die Minderheit.«

»Oho …«, macht Kramer. Dann grinst er. »Na ja, wollen mal sehen.«

Sie gehen auf die Villa zu und betreten die menschenleere Diele. Der Raum wirkt unordentlich. Auf dem niedrigen, langen Tisch stehen volle Aschenbecher, liegt ein hingeworfenes Kartenspiel. Das Stilleben ergänzt eine halbleere Chiantiflasche und leere Gläser. Die Sitzgelegenheiten stehen verschoben und verschlissen herum.

Hauptsturmführer Kramer nimmt das Milieu mit einem ironischen Lächeln zur Kenntnis.

»Was sind das für Männer, die ich kennenlernen werde?«, fragt er Brandt.

»Haben Sie noch nie etwas von der ›Decima‹ gehört, Herr Kramer?«

»Hauptsturmführer Kramer, wenn ich bitten darf«, korrigiert der andere pikiert.

Ach du liebes Würstchen, denkt Brandt. So einer bist du also. Und laut sagt er dann:

»Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir uns hier nur mit ›Herr‹ oder ›Du‹ anreden. Wir sind ein Spezialkommando, über dessen Aufgaben man Sie wohl schon informiert hat.«

»Nur beiläufig. Ich soll dem Unternehmen beiwohnen …«

»Beiwohnen?« Brandt zieht erstaunt die rechte Braue hoch. »Ich denke, Sie wollen daran teilnehmen?«

Kramer runzelt ärgerlich die Stirn und sagt ungeduldig: »Na gut – dann eben teilnehmen. Berlin hat mich hergeschickt. Man interessiert sich dafür, wie hier gearbeitet wird. Ich hoffe, dass ich meiner Dienststelle einen positiven und interessanten Bericht geben kann.«

Ein Aufpasser also, registriert Brandt und kann ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. Hoffentlich geht das gut. Lorenzoni ist bestimmt nicht der Mann, der sich einen Aufpasser vor die Nase setzen lässt.

Brandt wendet sich an den aufmerksam zuhörenden Fähnrich: »Sie waren zur Ausbildung in La Spezia?« »Jawohl, Herr Leut … Herr Brandt.«

»Haben Sie viel gelernt?«

»Eine Menge.« Fähnrich Möbius ist aufgestanden und hat Haltung angenommen. »Ich freue mich auf den Einsatz.«

Brandt mustert das junge Gesicht. Es gefällt ihm. Etwas ist darin, was Forschheit und Mut ausdrückt.

»Hoffentlich haben Sie inzwischen nichts vergessen«, lächelt er. »Wir werden in den nächsten Tagen noch ein bisschen Praxis üben.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas von Ihren Erfahrungen abgeben könnten, Herr Brandt.« »Machen wir schon.« Brandt wendet sich dem Hauptsturmführer zu. »Wie ich hörte, haben Sie schon etliche Einsätze hinter sich gebracht, Herr Kramer.«

Ein überlegenes Grinsen huscht über das pockennarbige Gesicht. »Etliche, ja – Odessa, Leningrad, Moskau … zweimal Moskau sogar. Nun bin ich gespannt, wie hier gearbeitet wird.«

»Sie werden Gelegenheit haben, das festzustellen«, erwidert Brandt. »Einen Augenblick bitte, ich melde Sie jetzt beim Colonello an.«

»Und wo sind die anderen Herren?«, fragt Kramer.

»Wir haben gerade Mittagsruhe.«

Wieder das spöttische Grinsen, das Brandt so auf die Palme bringt. Dann die lakonische Feststellung: »Man schiebt hier also die berühmte ruhige Kugel.«

Brandt will etwas erwidern, beißt sich aber auf die Lippen und geht in den ersten Stock hinauf. Er hört noch, wie der SD-Mann sagt: »Ziemlicher Gammelhaufen hier, wie mir’s scheint.«

Dann klopft Brandt an. Oberst Lorenzoni hat sich auf den Diwan gelegt, richtet sich jetzt langsam auf und ruft ein müdes »Avanti!«

Brandt tritt ein und grüßt. »Störe ich, Colonello?«

»Nein, nein«, sagt der andere und steht auf, zerrt an seinem Uniformkragen und streicht sich das an den Schläfen angegraute Haar glatt und murmelt leise »Ich habe die ganze Nacht gearbeitet und …« Dann schlägt wieder einen militärischen Ton an. »Was gibt es?«

»Die beiden Erwarteten sind eingetroffen.«

»Gut! Lassen Sie die Herren eintreten!«

Wenige Sekunden später stellen sich Kramer und Möbius vor und schnarren ihre Meldung. Vom Schreibtisch herüber tastet sie ein scharfer Blick ab. Dann nickt der Colonello: »Ihr Beglaubigungsschreiben?«

Kramer und Möbius holen das gewünschte Dokument hervor, reichen es dem Oberst. Der studiert es eingehend, steht dann auf und sagt:

»Danke, meine Herren.«

Ein rasches Frage- und Antwortspiel beginnt, dem Brandt als Zuhörer beiwohnt. Der Hauptsturmführer tut ein bisschen von oben herab und versucht, seine bisherigen Verdienste hervorzuheben. Lorenzoni nickt nur, mustert dabei den jungen Fähnrich und richtet dann die Frage an ihn:

»Wie hat es Ihnen in La Spezia gefallen?«

»Ausgezeichnet, Colonello. Ich denke gern an La Spezia zurück und bedauerte es, als ich von den Kameraden Abschied nehmen musste.«

Der Blick des Obersten drückt Wohlwollen aus. »Ich hoffe, dass Sie sich auch bei uns zurechtfinden werden.« »Ich bin sicher, Colonello.« Möbius lässt die Hacken krachen und verbeugt sich wie dankend.

»Sind die Details des Einsatzplanes schon bekanntgegeben worden?«, fragt Kramer.

»Nein. Ich werde um fünf Uhr darüber sprechen.« Lorenzoni erhebt sich, zum Zeichen, dass die Unterredung zu Ende ist. »Lagebesprechung um fünf Uhr. Ich bitte, zu diesem Anlass in Dienstuniform zu erscheinen. Leutnant Brandt, Sie werden so freundlich sein und den beiden Kameraden das Quartier anweisen. Sorgen Sie bitte auch dafür, dass die Küche etwas auffahren lässt.«

Brandt nickt zustimmend.

Kramer und Möbius grüßen zackig und trampeln aus dem Zimmer.

Draußen fragt Kramer: »Herr Brandt, sind wir nun komplett?«

»Ja. Nur noch der Dottore wird erwartet, zwecks einer Nachuntersuchung.«

Sie gehen in das Dachgeschoss hinauf. Brandt zeigt den beiden Neuen das Zimmer. Es ist ein sehr einfacher Raum mit schrägen Wänden und zwei Feldbetten, einem Spind und einer Kommode.

Brandt wendet sich an Kramer: »Wir müssen uns schon jetzt darüber im Klaren sein, dass es einer der härtesten Einsätze wird. Bitte vergessen Sie nicht, Herr Kramer, dass wir ihn mit Männern starten, die vom Gros der Abtrünnigen übriggeblieben sind und zu uns halten. Ich schätze diese Männer sehr, und ich hoffe, dass Sie in kurzer Zeit ebenso denken.«

Der Hauptsturmführer verneigt sich zustimmend. Er lächelt diesmal nicht, als er sagt: »Meine Meinung über die Italiener ist durch die letzten Vorkommnisse etwas erschüttert worden. Ich bin aber gern bereit, mich überzeugen zu lassen, dass nur die Besten der Besten an unserer Seite geblieben sind.«

»Dafür lege ich meine Hand ins Feuer«, murmelt Brandt.

Brandts Sorge wegen des Dottore verschwindet, als ein Anruf aus Ancona kommt. Dr. Brunelli könne nicht kommen und hoffe, dass alle Mann in der gesundheitlichen Verfassung seien, die für den Einsatz notwendig ist. Brandt kennt den Dottore und weiß, wie unanfechtbar seine Untersuchungsurteile sind, kennt ihn auch als Mann und Menschen, der genau weiß, was ein Taucher aushalten und leisten kann und muss.

Indessen sind die Männer der »Decima« und des O. V. R. A. erschienen. Man hat Uniform angelegt und versammelt sich in der Diele der Villa. Als Hauptsturmführer Viktor Kramer und Fähnrich Heinz Möbius erscheinen, verstummen die Gespräche.

Brandt übernimmt die Zeremonie des Vorstellens. Kramer, in gutsitzender Uniform, am Hals das Ritterkreuz, sicher und mit einem freundlichen Lächeln bewaffnet, drückt jedem einzelnen die Hand. Etwas unsicher benimmt sich Möbius. Die vielen Auszeichnungen am Uniformtuch der Kameraden erinnern ihn daran, dass er noch ein unbeschriebenes Blatt ist.

»Kameraden«, sagt Kramer, als er alle Hände geschüttelt hat, »ich überbringe Ihnen die Grüße meiner Dienststelle und hoffe, dass wir dem Feind einen schweren, ja sogar vernichtenden Schlag versetzen können.« Es klingt ein bisschen hochtrabend, hört sich nach einer Brandrede an. Aus diesem Grunde grinsen auch ein paar Männer. Kramer fährt schwungvoll fort:

»Deutschland steht! Jeder Krieg bringt einmal schwierige Situationen. Wir werden sie meistern! Der Führer schaut auf uns. Wir werden ihm beweisen, dass wir kämpfen können! Sieg-Heil!« Er stößt den rechten Arm hoch, kracht die Hacken zusammen und wartet auf ein Echo. Aber niemand fällt in den Ruf ein. Stattdessen hüstelt jemand plötzlich und sagt: »Es ist fünf Uhr.«In diesem Augenblick taucht auf dem oberen Treppenabsatz Colonello Lorenzoni auf.

»Achtung!«, ruft Brandt.

Die Männer stehen unbeweglich, die Hände an der Hosennaht, die Blicke auf den rasch herabkommenden Oberst gerichtet.

Brandt geht ihm entgegen und meldet: »Einsatzkommando vollzählig anwesend.«

»Danke.« Lorenzoni lächelt flüchtig. Sein Blick schweift über die Gruppe. »Stehen Sie bequem, meine Herren. Nehmen Sie Platz.«

Füßescharren. Leises Poltern. Man schiebt den langen, niedrigen Tisch in die Mitte des Raumes. Soweit die Sitzgelegenheiten ausreichen, werden sie besetzt, Möbius und Kramer bleiben stehen. Zwischen Kramers rostroten Brauen ist eine ärgerliche Falte gewachsen.

Lorenzonis dunkle Augen gleiten über die anwesenden Männer. Da warten sie, die Männer eines Todeskommandos. Ihre Gesichter sind von der Härte der bisherigen Einsätze gezeichnet. Jetzt sind sie gespannt darauf, was sie dieses Mal erwartet. Lorenzonis Blick richtet sich auf Kramer. Er sieht dessen hohe Tapferkeitsauszeichnung und deutet in Richtung des Hauptsturmführers eine Verbeugung an.

Der Oberst räuspert sich und beginnt mit sachlicher Stimme:

»Die Aufgabe ist bekannt. Der Einsatz wird in Bari stattfinden. Die genauen Einzelheiten des Einsatzes gebe ich aus bestimmten Gründen erst am Vorabend des Abmarsches bekannt. Ich will jetzt zwei Gruppen einteilen. Leutnant Brandt!«

Brandt erhebt sich und tritt einen Schritt vor.

»Sie übernehmen die Gruppe zwo. Zu ihr gehören Ihre deutschen Kameraden sowie Leutnant Marzi, Leutnant Massimo und Sergente Berton. Feldwebel Dengler übernimmt, wie schon bekannt, die Stelle des Funkers bei Ihnen. Die Gruppe eins wird von mir persönlich geführt …« Lorenzoni ruft die Namen der Teilnehmenden auf. Es sind die Männer des O. V. R. A., die schon in Bari waren und die Lage ausgekundschaftet haben.

»Das also wären die beiden Gruppen. Wir marschieren getrennt und arbeiten, in Bari angelangt, gemeinsam und nach einem genau aufeinander abgestimmten Plan. Ich sagte schon, dass ich die Details erst später bekanntgeben werde. Leutnant Brandt, Sie werden dazu befohlen, den ersten Teil der Strecke mit einem italienischen S-Boot zurückzulegen. Die Insel Tremiti ist Ihr erstes Ziel. Ein Fischerboot wird warten und Ihre Gruppe auf die Insel bringen.«

Der Oberst schaltet eine kleine Pause ein. Die Stille lastet in den Ohren. Alle Fenster sind geschlossen. Grün gefiltertes Sonnenlicht erhellt den Raum und bemalt die Gesichter der Männer; sie sehen fahl aus – wie Tote.

Jetzt fährt die sachliche Stimme des Einsatzleiters fort: »Während die Gruppe zwo auf der Insel Tremiti auf den Funkspruch wartet, der die Gruppe nach Bari in Marsch setzt, werde ich mit meinen Männern die HKL überschreiten. Sobald wir in Bari sind, erhält die Gruppe zwo den Befehl, auf dem bezeichneten Weg zu uns zu stoßen. Wir wissen, dass es sich bei Bari um eine wichtige Nachschubbasis des Gegners handelt, und diese wollen wir angreifen. Des Weiteren wissen wir, dass die alliierten Landstreitkräfte im Raum von Ortona von dieser Nachschubbasis abhängig sind. Ich brauche also nicht zu betonen, wie wichtig diese Basis für den Gegner ist, und dass es sich um ein exponiertes Ziel handelt. Dieses Ziel anzugreifen und empfindlich zu treffen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.«

Lorenzoni schaltet wieder eine Pause ein. Dann spricht er Brandt an: »Sie haben also das Kommando über die Gruppe zwo, und ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Leutnant Brandt. Es wird Ihre Aufgabe sein, im Zielhafen feindliche Schiffe zu zerstören. Meine Gruppe, die versuchen wird, auf dem Landweg an das Ziel heranzukommen, hat die Aufgabe, den Flugplatz und Brennstoff-Depots anzugreifen. Die Gruppe zwo trifft auf der Insel Tremiti mit unserem Verbindungsmann zusammen. Er heißt Thomasino Glori und unterhält auf der Insel ein Albergo, dem zurzeit die Gäste fehlen. Außerdem betreibt er Fischerei und besitzt einen alten Kutter, der unseren Zwecken dienen wird.«

»Und wann findet der Abmarsch statt?«, fragt Brandt, von seiner Aufgabe fasziniert und nach Einzelheiten fiebernd.

»Ich breche mit meiner Gruppe morgen nacht auf«, lautet die Antwort. »Sie folgen einen Tag später. Die genauen Uhrzeiten teile ich Ihnen noch mit.« Lorenzoni hebt die Stimme. »Meine Herren! Es darf keinen Versager geben! Jedem wird es klar sein, was auf dem Spiel steht, und ich weiß, dass ihr es schaffen werdet.« Dann wendet er sich an Brandt: »Sie haben also noch rund zwei Tage Zeit, Leutnant Brandt. Da Sie einen Nachwuchsschwimmer in Ihrer Gruppe haben, und ich auch sonst der Meinung bin, dass etwas für die Ertüchtigung getan werden muss, schlage ich vor, dass Sie die Wartezeit mit Training ausfüllen.«

»Jawohl, Colonello.«

»Das wär’s für heute«, beschließt Lorenzoni seinen Appell. »Ich gestatte jedem, sich einen Bart wachsen zu lassen, wie ich überhaupt darauf hinweisen möchte, dass es wichtig ist, sich möglichst zivil zu benehmen. Es wird Ihnen bestimmt nicht schwerfallen, meine Herren.«

Man lacht. Die meisten lassen sowieso schon seit Tagen die Bartstoppeln sprießen. Es gilt ja, möglichst wenig aufzufallen und sich als schlampiger Hafenarbeiter oder salopper Landarbeiter zu tarnen.

»Herr Hauptsturmführer«, sagt Lorenzoni zu Kramer, »darf ich Sie noch zu einer Unterredung bitten?«

»Selbstverständlich, Colonello«, versichert Kramer.

Augenblicke später verschwinden die beiden Offiziere auf der Treppe und begeben sich in das Dienstzimmer des Obersten.

Unten in der Diele wird es laut. Man bespricht den Einsatzplan. Die Zigaretten qualmen. Wein fließt gluckernd in die Gläser. Man sitzt in Gruppen zusammen.

»Na, was sagst du dazu?«, fragt Amadeo.

»Haarige Angelegenheit«, meint Brandt. »Ich bin auf die Details gespannt.«

Amadeo lacht unbesorgt. »Der Alte fummelt das schon hin.«

»Ein prima Kerl«, nickt Brandt. »Ich hatte mir schon oft gewünscht, unter seiner Leitung mal eine Sache zu reiten.«

Amadeos schwarze Augen funkeln den Freund an. »Was meinst du wohl, was er jetzt mit dem Fatzken aus Berlin palavert?«

»Kramer?«

Amadeo grinst. »Ich halte nicht viel von ihm. Das Ritterkreuz garantiert in meinen Augen gar nichts.«

»Jedenfalls nimmt er seine Bestellung zum Aufpasser sehr genau.«

»Und kann uns zu ’nem Klotz am Bein werden, vergiss das nicht!«

»Tauchen werden ja wir«, sagt Brandt. »Ich werde ihn, wenn es losgeht, bei Dengler lassen.«

»Und er wird sagen: Kommt nicht infrage, Herr Leutnant! Ich will dabei sein!«

Brandt grinst.

»Dann werde ich sagen: Va bene, Herr Hauptsturmführer. Hier ist der Taucheranzug, schwimmen Sie mit.«

»Meinst du, dass er tauchen kann?«

»Nein. Er ist Fallschirmjäger und stellte bisher auf andere Art und Weise seinen Mann. Verspotten wir ihn nicht. Er wird ja bald merken, dass hier kein Kriegsministerium und kein Kasernenhof ist. Ich kriege ihn schon hin, den lieben Kramer.«

Amadeo schaut zu Fähnrich Möbius hinüber, der sich mit Leutnant Marzi unterhält.

»Ganz patenter Junge, wie?«, meint Amadeo. »Bloß noch ’n bisschen grün, finde ich.«

»Soll mit einer ausgezeichneten Beurteilung abgegangen sein.«

»Besagt gar nichts, Jok. Im Ernstfall unterscheiden sich Schule und Praxis sehr. Du wirst den jungen Dachs noch ’n bisschen rannehmen müssen.«

»Das kann nicht schaden«, nickt Brandt und steht auf.

In diesem Augenblick fährt draußen ein Wagen vor. »Der Knochenflicker!«, ruft jemand vom Fenster her.

Amadeo und Brandt tauschen einen Blick.

»Jetzt ist er doch noch eingetrudelt«, knurrt Amadeo. »Er kann’s einfach nicht lassen, der gute Brunelli.«

Dr. Brunelli ist noch jung und sieht aus wie ein Turnierreiter. Er tritt mit einer großen, bauchigen Ledertasche ein und begrüßt die Anwesenden mit fröhlicher Stimme: »Buongiorno, meine Herren!«

» Buongiorno, Dottore!«, schallt es zurück. Man umringt den beliebten Truppenarzt, klopft ihm auf die Schulter. Sergente Berton kredenzt ihm ein Glas Wein.

»Salute!«, ruft der Dottore und kippt die rote Flüssigkeit in den Hals, macht »Aaaah« und sieht jetzt Leutnant Brandt.

»Aha!« Er spielt einen hypnotisierenden Blick und geht mit vorgestrecktem Zeigefinger auf Brandt zu, der sich etwas beunruhigt im Hintergrund herumgedrückt hat. »Du bist auch wieder dabei! Hätte mich sehr gewundert, wenn es anders gewesen wäre.«

»Tag, Dottore«, grüßt Brandt und wirkt, als käme er aus einem Saunabad, so rot ist er angelaufen. »Wie geht’s?«

»Wie geht es dir?«

»Och … so la la, Dottore.«

Die Umstehenden grinsen. Jeder weiß, dass Brunelli nur wegen Brandt gekommen ist.

»Ich hörte, dass du vier Monate lang im Lazarett gelegen hast«, sagt Brunelli.

»Drei Monate und sechzehn Tage genau«, verbessert Brandt.

Brunelli winkt ab, legt ihm wie arretierend die Hand auf die Schulter und sagt:

»Komm mal mit, Amigo.«

Sie gehen in ein helles Zimmer, das dem früheren Hausbesitzer als Siestaraum gedient haben muss. Eine kleine Bibliothek ist da, eine schon etwas verschlissene Couch, ein Rauchtisch mit zwei Sesseln, über die angeschmutzte Leinentücher gezogen sind.

Brunelli setzt die gewichtige Tasche ab, geht zum Fenster, öffnet es und schaut in den Garten hinaus. Dann dreht er sich um. Der heitere Ausdruck seines Jockeygesichtes ist verschwunden. Die dunklen Augen unter den Büschelbrauen schauen ernst.

»Du warst ziemlich schwer verwundet, Jok.«

Brandt greift nervös nach der Zigarettenpackung, klopft einen Glimmstengel heraus und bietet diesen Brunelli mit den Worten an:

»Ich fühle mich ausgezeichnet. Sauwohl, wie man bei uns sagt. Keine Schmerzen. Keine Beschwerden. Gar nichts.«

Brunelli nimmt keine Zigarette.

»Zieh dich aus«, sagt er.

»Du bist ein Plagegeist«, knurrt Brandt und wirft die Zigaretten auf die Couch. »Lästiger als eine Wolke Moskitos.«

»Ich bin euer Arzt«, berichtigt Brunelli. Er packt seine Tasche aus, holt allerhand Utensilien hervor und legt das Stetoskop um.

»Wie geht’s Boltz?«, fragt er im lässigen Plauderton.

»Gut.« Brandt entkleidet sich. Ihm passt die Untersuchung gar nicht, das sieht man seiner Miene an.

»Hast du Erholungsurlaub gehabt?«, fragt Brunelli, herantretend.

»Für mich ist Witt gefahren. Der hatte ihn nötiger.«

Brandt zieht das Hemd aus. Ein nackter, muskulöser Oberkörper kommt zum Vorschein, eine breite, haarige Brust, an deren linken Oberseite eine rosarote Schussnarbe zu sehen ist.

Brandts Stimme klingt wie das Knurren einer Dogge: »Solltest du dich unterstehen, mich untauglich zu schreiben, kommst du hier nicht lebend heraus.«

Dr. Brunelli antwortet nicht; er betastet die Narbe, nimmt das Stetoskop und horcht den Oberkörper ab.

Brandt befolgt die leisen Kommandos des Arztes, holt tief Luft, atmet langsam aus, hustet, dreht sich, macht noch einmal dasselbe. Brunelli nimmt seine Arbeit genau. Er horcht die Lungengeräusche ab und den Herzschlag. Dann muss Brandt sich der Länge nach auf die Couch legen. Nackt liegt er da, wie der Herrgott ihn erschaffen hat – ein Körper, viel zu schade, um zu vergehen, in Moder zu zerfallen. Die Wundnarben leuchten noch frisch. Tastende Finger berühren sie. Die Minuten vergehen. Erst als Brunelli ein paar Reflexproben erledigt hat, sagt er:

»Du kannst dich anziehen, Jok.«

Brandt späht beunruhigt in das Gesicht des Arztes. Dann stößt er die entscheidende Frage hervor: »Bin ich noch tauglich?«

Brunelli zündet sich erst eine Zigarette an, ehe er antwortet. Er schaut dabei Brandt an, sehr nachdenklich.

»Alles in Ordnung, Jok.«

Brandt grinst erlöst.

»Na also«, sagt er und schwingt sich in das Hemd, wühlt sich heraus und fragt: »Warum nimmst du ausgerechnet mich her?«

Brunelli wartet, raucht, stößt den blauen Dunst durch Nase und Mund.

»Dein Chef hat mich angerufen und …«

»Aha!«, knurrt Brandt. »Aus diesem Busch singt das Vögelchen! Walter! Ich hätte es mir denken können.« Brunelli setzt sich auf den Rauchtisch und spannt die Hände um das angezogene Knie.

»Er hat mir gesagt, dass du auf den Genesungsurlaub verzichtet hast. Hör zu …« Brunellis Stimme klingt ermahnend. »Einmal baut der stärkste Büffel ab. Ich will damit sagen, dass du daran denken sollst, einmal Schluss machen zu müssen. Pflicht hin, Pflicht her – als toter Mann kannst du nichts mehr leisten. Wenn du aber am Leben bleibst, kannst du den Jungen etwas abgeben. Man braucht dich noch, Jok, dich und etliche andere mehr, die immer und immer wieder rausgehen und – eines Tages nicht mehr zurückkommen.«

Brandt setzt sich auf die Couch. Groß und ernsthaft schaut er zu Brunelli hinüber.

»Ich dränge mich nicht danach, Dottore. Bestimmt nicht, aber ich bin da, wenn man mich braucht. Meinst du etwa, mir gefällt der Krieg? Oder dass es mir Spaß macht? …« Brandt schüttelt heftig den Kopf und fährt sich dann mit den Fingern durch das dichte aschblonde Haar. »Ich weiß nicht, wie ich dir das alles erklären soll, Dottore«, fährt er fort. »Es ist wie eine … wie soll ich sagen …?«

»Wie eine Krankheit«, hilft der andere.

»Mag sein, Dottore. Eine Krankheit. Ja. Man hat Angst davor und geht doch hin … in die Hölle. Amadeo wird dir vielleicht dasselbe sagen, wenn du ihn fragst, und Marzi auch. Alle, die immer dabei sind.«

»Ihr seid komische Kerle«, bemerkt Brunelli. Er steht auf, kommt zu Brandt, klopft ihm auf die Schulter. »Ich bewundere euch. Es ist mir nicht gleich, was aus euch wird. Ich möchte manchmal eine falsche Beurteilung schreiben, tue es aber nicht, weil ich weiß, dass ich demjenigen mehr wehtue, als wenn er eine Kugel bekommt. Ich wünsche dir Glück, Jok. Viel Glück.«

»Danke, Dottore«, sagt Brandt und steht auf. »Was bin ich schuldig?«

»Das Wiederkommen, Brandt.«

Sie scheiden mit einem festen Händedruck. Zurückbleibt Dr. Brunelli. Als er seine Utensilien einpackt, schüttelt er den Kopf und murmelt etwas Unverständliches.

Die Todgeweihten

Подняться наверх