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November 1943

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Über der zerschossenen Stadt hängt ein trostlos grauer Himmel. Es hat tags vorher geschneit, doch der Schnee ist nicht liegengeblieben. Vom Fluss herüber streicht ein nasskalter Wind, der in den Trümmern herumstöbert und jammernd um schwärzliche Ruinen weht, über denen Brandgeruch liegt. Die zerwühlten Straßen bedeckt fußhoher Schlamm. Lehmfarbenes Wasser hat sich in den unzähligen Granattrichtern angesammelt und kräuselt sich unter den Stößen des Ostwindes.

Die Straßen sind gespenstisch leer.

Ab und zu, in unberechenbaren Zeitabständen, paukt es jenseits des träge dahinschiebenden Flusses, und wenige Augenblicke später fliegt mit hohlem Rauschen der Tod heran, das Endstück seines Weges pfeifend, kreischend zurücklegend. Der Rest ist ein schwärzlich kochender Rauchpilz, den der Wind zerweht.

Störfeuer auf Tscherkassy. Jeden Tag und jede Nacht.

Alles Leben scheint vernichtet, die Straßen zwischen den Trümmerstätten sind unheimlich leblos.

Wo sind die Menschen, die einstmals diese Stadt bewohnt haben; die ihre Häuser bauten; die Fenstersimse mit Blumen schmückten; die das Gärtchen liebevoll bepflanzten? Wo sind jene, die einstmals froh zur Arbeit gingen und müde zu ihren Familien heimkehrten? Wo ist das Lachen geblieben? Wo ist der Nachbar, mit dem man über den Zaun hinweg schwatzen konnte?

Der Krieg hat sie vertrieben, die Angst, die große Not. Was hiergeblieben ist, um lieber umzukommen als die Heimat zu verlassen; was noch lebt, hat sich in Kellerlöchern vergraben, unter den Trümmern der Häuser eingenistet. Sie wissen nicht, ob sie den nächsten Tag noch sehen werden; sie wissen nicht, wovon sie morgen leben sollen; sie hungern, frieren und bangen.

Es ist eine gemarterte Stadt.

Wo sind die Verteidiger von Tscherkassy?

Sie liegen zwischen geborstenen Mauern, in windgeschützten Ruinenwinkeln, in Löchern und in den zerschossenen Häusern; sie liegen am Rande der Stadt und starren zum Feind hinüber. Und die meisten liegen unter der Erde.

Der Dnjepr ist die Linie des Todes. Hüben und drüben ist man grimmig entschlossen, alles sich regende Leben zu vernichten. Es ist ein grausames, unerbittliches Hin und Her um diese verfluchte Stadt.

Die Toten sind ungezählt, die zwischen den Trümmern liegen, im Morast, die erstarrt im Fluss treiben und irgendwo versanden und vergessen werden.

Tscherkassy, die gemarterte Stadt, wird verbissen verteidigt. Da und dort kichert mit böser Hast ein deutsches Maschinengewehr. Ein Melder läuft geduckt an den zerschossenen Häuserreihen entlang und verschwindet plötzlich spurlos.

Auf dem Marktplatz, wo die Reste einer Rednertribüne stehen, geschmückt mit verblassten, roten Emblemen, liegen zwei Pferdekadaver, und unweit davon steht das Gerippe eines ausgebrannten Muni-Wagens. An der Ecke des von Maschinengewehrgarben zerfressenen Schulhauses, in dem kein Fenster mehr heil ist, in dem die Türen schief in den Angeln hängen, liegen seit Tagen vier tote Sowjets. Niemand hat Zeit sie zu begraben. Ihre Gesichter sind unkenntlich und erdfarben.

Am Westende der Stadt, in einem halb zerschossenen Haus, ist ein provisorischer Verbandplatz eingerichtet, wo ein hohlwangiger Arzt mit drei Sanitätssoldaten die schwersten Fälle betreut – diejenigen, die Tscherkassy nicht mehr verlassen werden … Wer verwundet ist und noch laufen oder sich aufrechthalten kann, wird notdürftig versorgt, zurückgeschickt und seinem Schicksal überlassen.

Erst wenn es dunkel wird, regt sich Leben. Dann rumpeln die Nachschubfahrzeuge in die Stadt, huschen Gestalten hin und her, werden die Verwundeten von den Verteidigungsstellungen zurückgebracht; wenn es dunkel wird, klappern die Kochgeschirre der Hungrigen und hört man ab und zu einen Fluch oder einen Zuruf.

Das ist dann aber auch die Zeit, die der Gegner nutzt, um Tscherkassy unter stärkeres Artilleriefeuer zu nehmen. Wahllos schießen die Sowjets herüber –; mal da, mal dorthin, auf die Straße, in die Trümmer hinein – tastend, streuend; darauf bedacht, den Verteidigern dieses Ruinenfeldes das Aushalten so schwer wie möglich zu machen.

Das Grenadier-Regiment unter dem Befehl des Majors Grätz hat sich in diese Stadt verbissen und verteidigt sie mit grimmiger Entschlossenheit. Der Gegner unternimmt alles, um den Widerstand der Deutschen zu zermürben, die Wachsamkeit zum Erlahmen zu bringen, die Trümmer immer und immer wieder von neuem zu beschießen und das Ausharren zu einer Hölle zu machen.

Das Drama von Stalingrad ist zu Ende gegangen. Stadt um Stadt wurde vom Feind zurückerobert; er wird auch Tscherkassy bekommen, denn er ist stark; dieser Gegner wird immer stärker und kann das in die Schlachten werfen, was die Deutschen nicht mehr oder nur noch in geringer Zahl besitzen: schwere Waffen, Panzer, ausgeruhte Soldaten.

Im Nordteil der Stadt, wo das alte Ziegelwerk liegt, hat sich der II. Zug der 2. Kompanie eingenistet und sichert gegen Nordosten. Wind und Wetter preisgegeben, ausgemergelt, hungrig und müde geworden, harrt der auf einundzwanzig Mann zusammengeschmolzene Kampfhaufen des Feldwebels Martin Hajek aus.

Der Zug liegt in der unmittelbaren Nähe des Ziegelwerkes, auf der lehmigen Böschung; er sichert zum Fluss hin ab, dem ein flaches, sumpfiges, mit Stauden und Baumgruppen bewachsenes Gelände vorgelagert ist. Da und dort ragt ein abgeschossener Baumstumpf wie ein Schwurfinger zum Himmel empor. Der Wind weht unablässig kalt und feucht aus Osten und schlägt die starrenden Gesichter wie mit nassen Lappen. Man friert bis in die Seele hinein. Unweit der in einer lehmigen Mulde stehenden Ziegelei, auf dem oberen Böschungsrand, ist ein MG-Stand angelegt, den man von unten her über ins Lehmreich gestochene Stufen erreichen kann.

In diesem MG-Stand ist der Obergefreite Hermann Klotz auf Posten; er hat den Mantelkragen hochgeklappt und den Stahlhelm tief in die Stirn gezogen. In der Scharte steht das MG auf einem Brett, zugedeckt mit einer schmutzigen, nassen Zeltbahn. Klotz starrt in die Dämmerung, die vor der Stellung dunkle Dunstfahnen vorbeiwandern lässt. Nichts rührt sich. Nur der Ostwind winselt und raschelt im Gras, bewegt ein paar Büsche geradeaus.

Seine Gedanken sind weit weg – daheim. Bei Elsa. Sie hat einen Brief geschrieben, der gestern angekommen ist. Über zehn Wochen war er unterwegs.

Elsa schreibt, dass sie den Buben gut zur Welt gebracht habe; acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer! Ein Prachtexemplar. »Kannst Du nicht Urlaub kriegen, lieber Hermann? Wenn ich wüsste, dass Du kommst, würde ich mit der Taufe warten. Es wäre wunderbar, wenn Du kommen könntest …«

Ja, denkt Klotz und sucht einen Zigarrenstummel aus der Manteltasche. Ja, wunderbar wäre es, aber wie hier wegkommen? Wie Urlaub kriegen?

Klotz will den Zigarrenstummel in den Mund stecken, als es nebenan beim I. Zug zu prasseln anfängt. Trr … trr … trrrrrrr … Dauerfeuer. Dann tritt plötzlich wieder Stille ein.

Klotz hat fest mit den Zähnen auf den Zigarrenstummel gebissen, hat die Zeltbahn vom MG gerissen und die Waffe eingezogen; er schwenkt über das weit unten schon im Dämmerlicht liegende Gelände.

Nichts. Keine Bewegung. Nur der Regendunst wogt. Weit, weit drüben über dem Fluss wummert es wieder.

Klotz deckt wieder die Zeltbahn über das MG und fingert in den Taschen nach dem Feuerzeug.

Halb links werden Stimmen laut.

»Mensch, Greimel, was machst du für ’nen Radau mit deinem Zerstäuber?«

»Ich hab was gesehen, Herr Unteroffizier … dort drüben, bei dem dunklen Huckel.«

Unteroffizier Tischner schaut durch das Glas hinüber zum »Huckel«. Es ist ein schwarzer Wurzelstock. Daneben bewegen sich ein paar Sträucher im Wind.

»Du spinnst«, sagt der Unteroffizier. »Nischt zu sehen, mein Lieber. Wieder hundert Schuss zum Teufel, und wenn wirklich was los ist, dann ist der Bart ab.«

»Mir war’s aber so, Herr Unteroffizier«, sagt Greimel und reibt sich die brennenden Augen. »Es kam mir so vor …«

Es kam ihm so vor, dem Greimel. Die Nerven haben ihm einen Streich gespielt; man sieht überall den Feind heranschleichen, ihn sich irgendwo bewegen, einen dunklen Punkt über einem Grasbüschel auftauchen. Hinter jedem Strauch. Hinter jedem Baum. Zum Kotzen ist das! Mal ausruhen müsste man können. Schlafen. Eine Woche oder einen Monat schlafen! In einem Bett. Oder wenigstens in einem warmen Stall.

Von Mund zu Mund geht es, dass Greimel sich geirrt habe.

»Nischt, Kumpels! Nischt! – Hat wer ’ne Kippe für mich? – Mensch, wenn bloß die Nacht schon um wär …«

Der Obergefreite Klotz lehnt neben dem zugedeckten MG und hustet. Der Zigarrenstummel ist schauderhaft stark. Aber besser den als gar nichts. Klotz sucht den vorhin abgerissenen Gedankenfaden und ist nicht mehr in Tscherkassy sondern daheim in Oberdorf, in der Pelzergasse, wo das kleine Haus im Garten steht. Und die Elsa hat das Kind auf dem Arm und wiegt es. Klotz möchte gern den Brief noch einmal lesen, den er in der Brusttasche trägt. Aber es ist schon dunkel, und die Taschenlampe anmachen – nein, lieber nicht. Nicht mal rauchen sollte man hier. Drüben lauern Scharfschützen. Sie sind unsichtbar. Sie lassen sich Zeit, bevor sie den Zeigefinger krümmen. Wehe dem, der den Kopf zu hoch über den Grabenrand hebt oder an der Schießscharte steht und eine Zigarette raucht. Vor vier Tagen erst hat man den Grenadier Schorschl Blenk mit einem Kopfschuss hinter die Ziegelei getragen und in das Lehmgrab gebettet. Ohne einen Mucks fiel der Schorschl hintenüber, den brennenden Zigarettenstummel noch im Mundwinkel, als das Herz stillstand.

Vierzehn Gräber liegen im Windschatten der Ziegelei; nirgendwo anders lassen sich Gräber so mühelos ausheben wie hier am Stadtrand von Tscherkassy.

Es ist also kein Wunder, wenn einem der Landser die Nerven durchgehen und ein schwarzer Wurzelstock vor der Stellung für einen russischen Scharfschützen gehalten wird. Besser einen MG-Gurt verballern als zu dösen, einzuschlafen und aufzuwachen, wenn der Iwan in der Stellung ist und Rabatz macht.

Woher er kommt?

Über den Fluss, dort, wo er am seichtesten ist. Der Feind sickert durch die mehr oder weniger großen Lücken ein, die der Verteidigungsring aufweist. Nachts kommen die Spezialisten herüber, den Fluss durchschwimmend, wie Marder durch die dünn besetzten Stellungen schleichend und im Flussgelände Verstecke findend, die das moorige, oftmals unzugängliche Flussgelände ausreichend bietet. Je dunkler die Nacht, je nebeliger der Tag, umso gefährlicher ist das Postenstehen und Aufpassen. Jede Nacht, wenn es still ist, wenn der Wind schläft, kann man irgendwo nördlich jäh aufflammenden Gefechtslärm, Schüsse, fernes Geschrei und Bauzen von Handgranaten hören. Man weiß dann, dass der Russe wieder irgendwo in eine deutsche Bunker- oder Verteidigungsstelle eingebrochen ist und die Kameraden mehr oder weniger hohe Verluste erlitten haben.

Klotz raucht den Zigarrenstummel und steht seitlich neben dem MG. Er spitzt die Ohren und horcht hinaus ins sanft abfallende Vorgelände. Als er sich mit dem qualmenden Zigarrenstummel die Lippen verbrennt, ihn wegwirft und mit dem Fuß drauftritt, denkt er an das, was Elsa geschrieben hat. Ob ich vielleicht mal mit dem Leutnant rede? überlegt er. Wenn ich ihm den Brief zeige, wenn ich ihm sage, dass ich Vater geworden bin, und dass Elsa mit der Taufe warten will – ja nun, kann doch sein, dass der Leutnant den Urlaubswisch unterschreibt. Kann sein! Die Gedanken des Obergefreiten werden erneut unterbrochen; draußen ertönen Schritte. Eine steife Zeltbahn raschelt. Jemand kommt in den MG-Stand.

Es ist der Feldwebel Martin Hajek, der die Posten seines Zuges kontrolliert. Hajek ist Jahrgang 1918, Hesse, in Frankfurt am Main zu Hause. In seinen Papieren steht, dass er ledig und von Beruf Heizer ist. Bevor er zum Militär einrückte, war er Angestellter der Frankfurter Stadtwerke. Er ist einer der wenigen, die den Kompaniestamm darstellen. Ein alter, bewährter Kämpfer! Man hat ihn bereits vor drei Jahren mit dem EK I dekoriert. Hinzugekommen sind inzwischen die rumänische Erinnerungsmedaille, die Nahkampfspange und das Verwundetenabzeichen in Silber. Seit dem letzten Nahkampf sind Hajek und Klotz miteinander befreundet und duzen sich. Klotz schlug einen Russen nieder, als dieser die Nagan auf Hajek richtete.

Der Obergefreite meldet keine besonderen Vorkommnisse. »Was war nebenan los, Martin?«, fragt er.

Hajek sagt mit rauer Stimme, ein Landser habe geschossen. »Greimel vom ersten Zug. Er hat wiedermal weiße Mäuse gesehen.«

Er nähert sich vorsichtig der Schießscharte, hebt das Glas und schaut eine Weile ins Gelände hinaus. Der Obergefreite steht schweigend daneben.

»Du hast Post von daheim bekommen, wie?«, fragt Hajek und schiebt das Glas unter die klamme Zeltbahn.

»Ja.«

»Gute Nachrichten?«

»Bin Vater geworden, Martin.«

Hajek schlägt ihm auf die Schulter. »Mensch, das erfahre ich erst jetzt?«

»Ich wollte mich erst ’ne Weile ganz allein darüber freuen, Martin.«

»Was ist es denn, Bub oder Mädl?«

»Ein Bub. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm. Die Elsa hat bestimmt schwere Arbeit gehabt.«

»Mensch, ich gratuliere dir!« Hajek schüttelt Klotz die Hand. »Darauf müssen wir einen heben, Hermann.«

»Meine Ration ist alle«, sagt Klotz.

»Dafür hab ich noch was!« Hajek lacht. »Ein Püllchen Dreistern. Dem schlagen wir den Kopf ab, das ist doch klar!«

Sie reden eine Weile von dem Ereignis.

»Wie schaut’s mit Urlaub aus?«, fragt Klotz dann.

»Belämmert«, erwidert Hajek. »Der Alte lässt keinen weg. Und das ist irgendwie verständlich«, meine ich. »Wir sind wenig geworden, Hermann, jeder Mann wird doppelt gebraucht.«

»Ja, schon«, brummt Klotz, »aber nicht jeder ist Vater geworden, Martin. Wenn ich demnächst eine verpasst kriegen sollte, ärgere ich mich schwarz, weil ich meinen Jungen nicht gesehen hab. Ich würde mich ja auch nicht vordrängeln, wenn ich schon drei oder vier Kinder hätte … aber ’s ist halt das erste, Martin, und da möchte man doch …« Klotz bricht ab.

Draußen steigt auf der Feindseite eine gelbliche Leuchtkugel hoch.

»Achtung!«, ertönt es halblaut links und rechts in den Stellungslöchern.

Klotz stellt sich hinter das MG, nimmt die darüberliegende Zeltbahn weg und legt sie ohne Hast zusammen. Hajek steht daneben und späht angestrengt ins Vorfeld hinaus, das vom Feindlicht erhellt wird.

»Was die bloß vorhaben«, murmelt er. »Ich fress ’n Besen, dass sich da was zusammenbraut.«

Das Signallicht verlöscht. Die Dunkelheit gähnt wieder. Brennende Augen starren den grasigen Hang hinunter, der in Sumpf und dunkle Baumgruppen übergeht. Nichts regt sich. Auch die die feindliche Artillerie schweigt. Der Feind ist immer dann am gefährlichsten, wenn er schweigt. Hajek lehnt neben dem schussbereiten MG und sagt plötzlich: »Ich werde mal mit Warnicke reden, Hermann. Kann sein, dass ich ihn rumkriege. Du warst wann zuletzt daheim?«

»Januar.«

»Also vor knapp zehn Monaten«, murmelt Hajek.

»Du willst es wirklich probieren?«, fragt Klotz. Seine Stimme klingt heiser vor Freude, denn er weiß, dass Hajek beim Alten eine gute Nummer ist. Was Hajek sagt, gilt etwas.

»Ich werde es jedenfalls mal probieren«, sagt Hajek.

Klotz tastet nach Hajeks Hand und drückt sie dankbar. »Mensch, wenn dir das gelingt, Hermann … wenn du wirklich ein paar Tage Urlaub für mich rausschinden könntest, dann …«

»… tät’s mich selber wundern«, nimmt Hajek ihm das Wort vom Mund, klopft ihm auf die Schulter und schiebt sich aus dem MG-Stand. Das schmatzende Geräusch der sich im Schlamm entfernenden Schritte verliert sich in der Dunkelheit.

Klotz lehnt sich an den MG-Tisch und ist plötzlich hoffnungsfroh gestimmt; er möchte am liebsten singen, aber das lässt man besser bleiben.

Ein feiner Mensch, dieser Hajek, denkt er. Wenn er es schafft, dass ich heimfahren kann, werde ich es ihm nie vergessen. Ich werde Elsa sagen, dass wir den Jungen »Martin« taufen werden. Martin Klotz! Hm … klingt nicht schlecht. Elsa wird damit einverstanden sein.

Die Dämmerung hat sich in ein nasskaltes Dunkel verwandelt. Das ist die Zeit, in der es drüben in der Stadt zu rumoren anfängt. Verhalten nur, gedämpft. Irgendwo zwischen den Trümmern murrt ein Motor.

Die Russen haben ihr Störfeuer eingestellt, aber es kann jeden Augenblick wieder einsetzen.

Von der Ziegelei weg führt ein Trampelpfad zum Stadtrand. Es ist der Verbindungsweg zwischen den bei der Ziegelei liegenden Kompaniezügen und dem Kompaniegefechtsstand. Der Kompaniegefechtsstand ist in einem von MG-Garben und Granatsplittern zerhackten Haus untergebracht. Es kauert zwischen Ruinen und ausgebrannten Häusern. Die Haustür hängt schief in den Angeln, die Fensterlöcher sind mit Zeltbahnen verhängt. Neben dem Hauseingang steht ein langer Schatten, der manchmal hustet und ausspuckt.

Grenadier Otto Friemelt vom Nachrichtenzug ist heute zur Wache eingeteilt und steht seine zwei Stunden ab. Als in der Dunkelheit Schritte laut werden und aus dem Trümmerfeld herankommen, lässt er den Karabiner von der Schulter rutschen.

»Halt! Parole?«

»Sommernachtstraum«, erwidert eine bekannte Stimme.

»Ach, Sie sind’s, Herr Feldwebel«, sagt Friemelt und schultert den Karabiner.

»Ist der Leutnant da?«, fragt Hajek.

»Jawohl. Er hat sich hingelegt und schläft.«

»Wieder voll?«

»Nicht zu knapp«, sagt Friemelt. »Hat ’n Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps getrunken.«

Leutnant Albert Warnicke, sechsundzwanzig Jahre alt, Sohn des Studienrats Alexander Warnicke, trinkt.

Er trinkt, seit er seinen Bruder, den Hauptmann Egon Warnicke, bei Charkow verlor. Hauptmann Warnicke fiel bei einem Stoßtruppunternehmen Partisanen in die Hände. Man fand ihn und ein paar seiner Leute als massakrierte, zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen. Und seither trinkt Leutnant Warnicke. Alle drei Wochen passiert es, dass er die Landser um Schnaps angeht oder verlangt, ihm welchen zu beschaffen. Ein hohlwangiges Gespenst läuft dann umher, mit dem man nicht reden darf. Dann übernimmt der Kompaniespieß Wastl Wohler die Befehlsgewalt und überlässt den Leutnant sich selber.

Hat Leutnant Albert Warnicke, im Juni 1943 mit dem Ritterkreuz dekoriert, die Flasche Kognak oder das Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps ausgetrunken, sich hingelegt und genau zwei Stunden geschlafen, dann steht ein neuer Warnicke auf: straff, sicher, soldatisch. Er ist das, was man im Kameradenkreis ein »armes Schwein« und einen »feinen Kerl« nennt. Jeder weiß, warum er zum Quartalstrinker geworden ist, und jeder versucht, ihm dann das Betäubungsmittel zu beschaffen. Das Ritterkreuz erhielt er, als er während der Kämpfe im Donezraum mit seiner Kompanie einen Stützpunkt hielt und somit die Absetzbewegungen der ganzen Division ermöglichte. Über hundert Tote lagen vor den Stellungen, elf verkohlte Sowjetpanzer; die Höhe, die er tagelang hielt, räumte er erst als der Befehl dazu kam.

Im Gefechtsstand brennt ein Hindenburglicht auf dem wackeligen Tisch. Höhn, der Funker, bastelt eine neue Batterie in das Gerät, die beiden Melder liegen in der Ecke auf muffigem Stroh und schlafen. Am Tisch sitzt Spieß Wastl Wohler, ein bulliger Bayer, und schreibt eine Liste.

In der hintersten Ecke des trüb erhellten Raumes liegt eine Gestalt auf dem Feldbett und schnarcht. Der Raum riecht nach Spiritus oder so etwas Ähnlichem.

Als Hajek hereinkommt, schaut Wastl Wohler auf, grinst und sagt halblaut: »Servus, Martin. Was gibt’s?«

Hajek wirft einen Blick zu dem Feldbett, sieht Wohler an, vollführt stumm die Geste des Trinkens, worauf Wohler nickt.

»Wie schaut’s bei euch aus?«, fragt Wohler gedämpft. »Vorläufig herrscht noch Pause«, erwidert Hajek und setzt sich auf eine Kiste. Er deutet mit dem Kopf in Richtung des schnarchenden Kompaniechefs: »Wollte mit ihm was bereden, aber das wird wohl noch ’ne Weile dauern, wie?«

Wohler schaut auf die Armbanduhr. »Er wird bald aufwachen. Schläft jetzt schon fast zwei Stunden.«

»Nachrichten eingetroffen?«, fragt Hajek.

»Ja. Das zweite Bataillon meldet verstärkte Feindtätigkeit. Bei der Furt sind Übersetzversuche abgeschlagen worden. Der Iwan macht sich wieder mausig.« Wohler grinst stoppelbärtig. »Es kommt mir vor, als gäbe es in den nächsten Tagen wieder eine Mordsschweinerei.«

Einer der beiden schlafenden Melder lallt etwas im Traum und dreht sich auf die andere Seite. Höhn klappert mit seinem Gerät, worauf Wohler »Psssst …« zischelt.

»Du, Urlaubsmöglichkeiten gibt es wohl keine?«, fängt Hajek nach einer Weile an.

»Du spinnst wohl!«, erwidert Wohler. »Oder wolltest etwa du selber …?«

»Ich nicht, nein!« Hajek schüttelt den Kopf und holt das Päckchen Feinschnitt und das Zigarettenpapier unter dem nassen, lehmverschmierten Mantel hervor. »Klotz hat von daheim Nachricht gekriegt. Er ist Vater geworden. Ein Junge ist es. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer.«

Der Spieß verzieht sein rundes Holzschnittgesicht. »Respekt«, grinst er. »Acht Pfund sind ein schönes Gewicht. Als ich zur Welt gekommen bin, hab ich bloß sechs Pfund gewogen.«

In diesem Augenblick ertönt ein hohles Rauschen. Fast gleichzeitig wummst es, und dann ein fürcherlicher Knall, ein Luftstoß löscht das Licht. Dreck rieselt von der Zimmerdecke herab. Die Granate muss ganz in der Nähe eingeschlagen haben.

Die Dunkelheit riecht nach Pulvergestank und Staub. Irgendwo prasselt etwas, als würfe man eine Handvoll Kies gegen die Hauswand.

Dann folgt Stille.

»Hallo!«, ertönt eine heisere Stimme. »Hallo, Jungs, ist was passiert?«

»Nix passiert, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohlers tiefes Organ.

Ein Streichholz flammt auf. Staub wirbelt im kargen Lichtschimmer. Der Funker zündet das Hindenburglicht wieder an und geht dann hinaus. Vor dem Feldbett steht eine lange, hagere Gestalt im zerknitterten Mantel, einen grauen Wollschal um den Hals gewürgt. Aus einem knochigen, stoppelbärtigen Gesicht schauen ein Paar helle, auffallend klare Augen. Vor zwei Stunden stierten sie noch. Jetzt sind diese Augen wach. Sie schauen unter dichten, schwarzen Brauen hervor.

»Liegt was Besonderes vor, Wohler?«, fragt Warnicke und geht zu dem winzigen Holzkohlenofen, den der Funker Höhn aus einem Marmeladeneimer gebastelt hat, und hält die knochigen Hände darüber.

»Nichts Neues, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohler.

An der Tür ertönt Gepolter. Der Funker Höhn kommt herein, klappt lasch die Hacken zusammen und meldet, dass die Granate schräg gegenüber in die Trümmer eingeschlagen habe. Mit einem kurzen Blick auf den Leutnant geht Höhn in die Ecke, wo ein zweiter Tisch steht, und gießt Tee in einen Trinkbecher.

»Bitte, Herr Leutnant«, sagt der Funker freundlich.

Warnicke nimmt den Trinkbecher, murmelt ein »danke« und schüttet den kalten, dünnen Tee in sich hinein.

»Aaaah …« macht er dann und wischt sich mit dem Handrücken über den stoppelbärtigen Mund.

Warnicke scheint erst jetzt Hajek zu bemerken. Er nickt ihm zu und sagt:

»Ach, Sie sind ja da, Hajek. Was ist los bei euch drüben?«

Hajek steht auf. »Nichts Ungewöhnliches, Herr Leutnant.«

Der Leutnant reibt sich die Hände und starrt in die Glut des kleinen Holzkohlenfeuers.

Soll Hajek jetzt von Urlaub reden? Ist Warnicke schon so weit, dass man mit ihm reden kann und dass er begreift, worum es geht? Hajek wirft einen fragenden Blick auf den Spieß. Dieser nickt ihm aufmunternd zu.

»Herr Leutnant«, sagt Hajek ohne Schwung.

Warnicke blickt schief herüber. »Na …? Was ist?«, fragt er und grinst.

Hajek gibt sich einen Ruck. »Der Klotz ist Vater geworden, Herr Leutnant. Das erste Kind. Seine Frau schreibt, sie will mit der Taufe warten –«

Schweigen.

Einer der beiden Melder richtet sich auf und reibt sich die Augen. Leutnant Warnicke starrt in die Glut und reibt sich noch immer die langen Hände.

»Ich bin dafür, dass wir den Klotz für ein paar Tage heimschicken, Herr Leutnant. Ich befürworte den Sonderurlaub. Klotz … ich meine, man sollte bei ihm eine Ausnahme machen.«

»Hm …« Mehr antwortet Warnicke nicht. Dann lässt er die vorgestreckten Hände sinken, knöpft den zerknitterten Mantel auf. Am Hals funkelt etwas, halb verdeckt von dem langen grauen Schal. Noch bevor Hajek etwas erwidert, rasselt das Feldtelefon. Höhn nimmt den Hörer ab und meldet sich unter dem Decknamen der Zwoten. »Jawohl«, murmelt er, und legt den Hörer wieder hin. »Ein Melder zum Bataillon«, sagt er dann. Und sich zu den beiden im Stroh liegenden Leuten umdrehend: »Max, mach dich auf die Socken zum Bataillon!«

Der Landser rappelt sich hoch und legt die graue Decke zusammen. Leutnant Warnicke hat eine Weile in die Glut des Holzkohlenofens gestarrt, ist sich einmal mit der Hand übers Gesicht gefahren. Jetzt sagt er entschlossen zum Spieß:

»Wohler, machen Sie die Urlaubspapiere für den Klotz fertig. Vom fünfzehnten elften bis siebten zwölften. Sonderurlaub. Grund: Regelung wichtiger Familienangelegenheiten. Ich unterschreibe dann gleich.«

Wohler grinst, und Hajek geht zu Leutnant Warnicke, haut die Hacken zusammen und sagt:

»Danke, Herr Leutnant. Im Namen meines Kameraden Klotz!«

»Schon gut«, murrt Warnicke, geht zur Wand, nimmt den Stahlhelm und das Pistolenkoppel vom Nagel, schnallt um, stülpt den Stahlhelm auf das kurzgeschorene, bürstenartige Haar und verlässt den Gefechtsstand mit der gemurmelten Bemerkung: »Ich bin beim ersten Zug.«

Die lange Gestalt geht gebückt aus dem Raum. Man hört draußen Stimmen. Friemelt meldet etwas, dann wird es wieder still.

»Feiner Kerl«, sagt Hajek. »Hätte nie gedacht, dass er den Klotz weglässt.«

»Es geschehen halt noch Zeichen und Wunder, mein lieber Freund«, erwidert Wastl Wohler. »Du kannst dem Klotz sagen, dass er morgen früh abhauen kann.«

Hajek nickt, wirft die selbstgedrehte Zigarette in den Holzkohlenofen und verlässt den Gefechtsstand.

Die Nacht ist still. Kein Schuss fällt. Weit in der Ferne, nordöstlich von Tscherkassy, rumort die Symphonie des Todes, grollt die Kriegsfurie.

Es nieselt, und die Dunkelheit ist kalt und feucht. Friemelt, der Posten, lehnt neben dem Hauseingang und fragt Hajek, wie spät es ist.

Hajek sagt ihm die Uhrzeit.

»Danke, Herr Feldwebel«, erwidert Friemelt. »Das ist vielleicht ein Mistwetter, wie? Die Stunden ziehen sich wie Kaugummi.«

»Mach’s gut«, sagt Hajek.

»Wünsche angenehme Nachtruhe, Herr Feld«, erwidert Friemelt.

Hajek schlägt den Trampelpfad zur Ziegelei ein. Unterwegs denkt er an den Leutnant. Das ist ein Mensch, oh ja! Ein prima Kerl! Da weiß man immer, wofür man da ist, und warum man sich mit Leib und Seele einsetzt! Nicht nur fürs sogenannte Vaterland, nicht nur für die daheim! Für den, der neben dir geht – für so einen, wie Warnicke es ist! Hut ab vor Warnicke!

Hajek stolpert über ein Hindernis und flucht halblaut. Als er das Gleichgewicht gefunden hat, ist es ihm, als patsche irgendwo geradeaus, in Richtung der Ziegelei, ein Schuss.

Hajek stapft durch den Dreck zur Ziegelei zurück, vorbei an der Stelle, die von drüben eingesehen wird. Jetzt, im Dunkeln, kann man sie gefahrlos passieren.

Es ist so dunkel, dass man kaum die Hand vor den Augen sieht. Und ein Sauwetter! Brrr. …!

Hajek denkt an seine Männer, die draußen liegen. Im offenen Graben! Im Dreckloch!

Hermann wird sich vor Freude überschlagen, denkt er. Der Glückliche! Morgen kann er abhauen! Fort aus dieser Hölle! Heim! – Wann war denn ich das letzte Mal daheim? überlegt er. Es ist auch schon wieder fast ein Jahr her … als ich den Beinschuss erhielt! Wenn es nur immer bei einem Beinschuss bliebe! Aber meistens kommt es schlimmer!

Die Umrisse der Ziegelei tauchen auf. Der abgeschossene Schornsteinstummel ragt wie ein schwarzer Riesenfinger zum Himmel; und dieser Himmel ist finster und vergießt Nässe.

Ich werde Hermann meine aufgesparte Schnapsration mitgeben, denkt Hajek, als er auf die Ziegelei zustolpert. Für die Taufe! Ja, für die Taufe! Oder soll ich das Püllchen lieber für Warnicke aufheben, wenn er wieder seine Tour kriegt? Das wird in drei Wochen sein! – Ach, was wird in drei Wochen sein! Hermann kriegt das Püllchen! Hajek schlittert auf dem Lehmboden zur Ziegelei. Im ehemaligen Ofenraum ist es gut trocken, dort kann man einigermaßen gemütlich hausen. Hier halten sich die wachfreien Landser des II. Zuges auf. Eine Stalllaterne steht am Boden und leuchtet trübe. Ein Dutzend in Decken gewickelte Gestalten liegen da und schlafen. Nur Epel, der Gefreite und Gruppenführer, ist wach und sitzt im Lichtkreis der Stallfunzel, um einen Brief zu schreiben.

»Guten Abend, Feld«, grüßt er, als Hajek hereinkommt. »Was Neues?«

»Der Klotz fährt morgen auf Sonderurlaub«, erwidert Hajek und geht zu seinem Lager, holt das Sturmgepäck hervor, kramt darin herum und bringt eine kleine Flasche Dreistern hervor.

»Junge, Junge«, hört er Epel sagen, »so ein Schwein müsste man wieder mal haben: Sonderurlaub.«

Draußen peitschen Schüsse. Die am Boden liegenden Gestalten sausen hoch.

»Los – raus!«, schreit Hajek und rennt, die Maschinenpistole an sich reißend, hinaus.

Über der Ziegelei liegt kreidiges Licht. Zwei MG 42 rasen im Dauerfeuer. Geschrei in Richtung der Zug-Stellungen. greift der Russe an? Oder was ist sonst los?

Hajek, gefolgt von ein paar Leuten, stolpert in den Laufgraben hinein, prallt plötzlich mit jemandem zusammen.

»Herr Feld, sind Sie’s?«, keucht eine Stimme.

»Ja. Was ist los?«

»Den Klotz hat’s erwischt! So ein Schweinehund von Scharfschütze hat ihn abgeknallt.«

»Was sagst du da?«, brüllt Hajek und stößt den Mann zur Seite, stolpert in den MG-Stand.

Drei Erdstufen, die hinunterführen, nimmt Hajek mit einem Satz. Er reißt die Taschenlampe vom Mantelknopf. Blaues Licht tastet über den feucht schimmernden Boden. Hinter Hajek schieben sich die anderen heran und keuchen.

Am Boden liegt, vom Blaulicht der Taschenlampe erhellt, Klotz. Er stöhnt. Er windet sich hin und her und presst beide Hände gegen das Gesicht. Blut rinnt durch seine Finger. Schauderhaft viel Blut!

Hajek kniet neben ihm nieder.

»Hermann«, bringt er hervor. »Du armes, armes Luder …«

Klotz brüllt jetzt dumpf und wälzt sich hin und her. Blut spritzt auf den Erdboden.

»Sprenggeschoss«, sagt jemand und will Klotz die Hände vom Gesicht ziehen.

»Sani her!«, keucht Hajek. »Schnell den Sani!«

»Ist schon da!«, ertönt es vom Eingang, und der Sanitäter kommt herangehastet, wirft seine Tasche hin und versucht, den sich am Boden windenden Klotz festzuhalten.

»Bleib ruhig, Hermann …« Hajeks Stimme klingt heiser. »Ich bitte dich, Hermann, bleib doch liegen, wir wollen dir doch helfen.«

Klotz liegt jetzt still. Man hat seine Hände heruntergezogen. Zwischen den Brauen klafft ein riesiges Loch, aus dem es dunkel und unaufhaltsam quillt. Schweigen herrscht. Kein Schuss fällt. Die Landser knien oder stehen mit zuckenden Gesichtern um den Sterbenden.

»Nicht mehr viel zu machen«, murmelt der Sani und öffnet seine Tasche.

Hajek verspürt ein Würgen in der Kehle. Er schluckt es weg. Er nimmt Klotz’ Kopf in den Arm, streichelt ihm das blutverschmierte Haar aus der zerschossenen Stirn. »Martin«, ächzt der Sterbende, »bist du’s?«

»Ja, ich bin bei dir, Hermann.« Und denkt: Stirb doch! Stirb doch schon! Das ist ja entsetzlich … das ist das Entsetzlichste, was ich in den vier elenden Jahren erlebte!

»Er liegt … liegt draußen … in der Nähe der Bachmulde«, sagt Klotz mit verlöschender Stimme.

Der Sani zieht eine Spritze auf. Er wechselt mit Hajek einen Blick. Hajek runzelt die Stirn, dann nickt er.

»Komm, Kamerad«, murmelt der Sani und sticht die Nadel durch Mantel und Uniformtuch in den Oberarm des Sterbenden.

Klotz liegt ganz ruhig. Er atmet stoßhaft. Das Blut rinnt und rinnt, und die Spritze wirkt so langsam.

Das kreidige Licht ist erloschen. Ein MG fängt kurz und böse zu prasseln an. Stille folgt.

»Martin …« Klotz spricht so leise, dass Hajek sich tief an den flüsternden Mund beugen muss. »Martin … hörst du mich?«

»Ja, Hermann.«

Klotz’ Hand krallt sich in Hajeks Arm. »Gib’s dem Kerl, Martin …« Klotz richtet sich zitternd auf. Er flüstert mit geschlossenen Augen. »Schreib du es der Elsa … mein Bub … du, der Bub …”

Er sinkt mit einem matten Seufzer zurück.

»Aus«, murmelt der Sani und packt die Spritze ein. Die Landser stehen stumm um den Toten. Sie weinen nicht, sie ahnen, dass das Sterben die Erlösung ist.

Einer bleibt am MG zurück, die anderen tragen den Toten aus dem Bunker und legen ihn hinter der Ziegelei unter das überhängende Dach. Klotz liegt in einer Zeltbahn. Vom Dach tröpfelt es leise auf das steife Tuch.

Drinnen, im Ofenraum, brennt die Stalllaterne. Die Männer reden nichts, setzen sich oder legen sich hin, doch sie können nicht schlafen. Hajek, steinern ruhig, hat das Püllchen wieder ins Sturmgepäck getan, schnürt es zusammen, verharrt ein paar Augenblicke in tiefem Nachdenken, steht dann auf und geht zum Fernsprecher.

Das Surren des Apparates stört die Stille. Hajek wartet starr auf den Gegenruf. Dann kommt er.

»Hier ist Dotterblume, Hajek. Klotz ist von einem Scharfschützen abgeschossen worden. Sprenggeschoss.«

Am Drahtende bleibt es eine Weile still. Dann ertönt Warnickes heisere Stimme:

»Der Klotz? – Tut mir leid. Wachsamkeit erhöhen, Hajek. Feind ist durch die Linie gesickert. Es müssen ein paar Russen vor unserer Stellung liegen.«

»Möchte nachschauen, Herr Leutnant«, sagt Hajek.

Die Landser heben die Köpfe und schauen erschrocken zu ihm auf.

»Kommt nicht in Frage, Hajek«, ertönt es im Hörer. »Kommt nicht in Frage, hören Sie!«

»Ich hab’s Klotz versprochen, Herr Leutnant.«

Warnicke brüllt: »Nein! Sie bleiben bei Ihrem Zug! Das ist ein dienstlicher Befehl, Hajek, verstanden!«

»Ich will den Burschen haben, der Klotz umgelegt hat, Herr Leutnant.«

»Sind Sie taub?«, brüllt es im Apparat. Hajek hält den Hörer von sich weg. »Ich verbiete Ihnen, die Stellung zu verlassen und etwas auf eigene Faust zu unternehmen! Hören Sie, Hajek, ich verbiete es Ihnen!« Kurzes Schweigen. Dann Warnickes ruhige Stimme: »Lassen Sie das, Hajek, es ist zu dunkel, Sie erwischen den Kerl sowieso nicht. Außerdem könnten es mehrere sein.«

»Dann warte ich bis zum Hellwerden, Herr Leutnant.«

»Hajek, ich habe Ihnen einen dienstlichen Befehl erteilt, ist das klar?«

Hajek legt den Hörer auf den Apparat. Sein steinernes, bartstoppeliges Gesicht verrät nichts. Er steht auf, überlegt kurz, geht in die Ecke, schnürt das Sturmgepäck noch einmal auf, reißt die kleine Kognakflasche heraus, schlägt ihr den Hals ab und trinkt. Der bräunliche Saft rinnt ihm in die dunklen Bartstoppel. Und dann – ganz plötzlich und mit einem wüsten Fluch – schleudert er die Flasche an die rötliche Lehmwand.

Die Landser reagieren nicht. Sie wissen, was in Hajek vorgeht; er war mit Klotz sehr gut befreundet. Was Hajek jetzt vorhat – nun, davon kann ihn niemand zurückhalten. Auch Warnicke nicht.

»Herr Feldwebel«, sagt einer, »es schneit jetzt.«

Hajek nickt, zerrt das schmutzig-weiße Tarnhemd hervor und zieht es über; dann nimmt er vier Eierhandgranaten aus der Kiste und steckt sie ein, geht zur Wand, an der eine russische MPi hängt, schiebt ein Magazin ein und lädt durch. Der Sicherungsvorgang knackt wie ein Schuss durch die Stille.

»Jungs«, sagt Hajek, am Ausgang stehend und jeden ansehend, »ich hab’s dem Hermann versprochen. Ihr wisst es doch, oder …?«

»Ja, wir haben es gehört«, sagt Epel. »Kommen Sie gut zurück, Herr Feldwebel.«

»Obergefreiter Ebner!«

»Hier«, meldet sich die untersetzte Gestalt des Oberschnäpsers und nimmt, was er sonst selten tut, militärische Haltung an.

»Sie übernehmen während meiner Abwesenheit den Zug.«

»Geht in Ordnung, Herr Feldwebel.«

»Komm mit«, murmelt Hajek und geht hinaus.

Der Obergefreite folgt ihm wortlos.

Nichts rührt sich draußen. Es schneit dünn. Die Flocken fallen in ihre Gesichter und werden zu Wasser.

Mit raschen Schritten gehen sie zum MG-Stand, zwängen sich durch den schmalen Zugang, tappen die drei Erdstufen hinunter und treten an die Schießscharte.

Lange starrt Hajek in das dunkle Vorfeld hinaus, in dem sich nichts rührt. Ganz weit drüben, auf der anderen Seite des Flusses, steigt eine gelbliche Leuchtkugel hoch, bleibt ein paar Augenblicke in der Luft hängen und verlischt dann.

»Ebner, notfalls gibst du mir Feuerschutz«, sagt Hajek ruhig und nestelt an dem Tarnhemd, hängt sich die russische MPi um den Hals und schnallt den Stahlhelmriemen fester unterm Kinn.

»Jawohl«, antwortet der Obergefreite. »Aber was soll ich dem Leutnant sagen, wenn er …«

Hajek schneidet mit der Hand durch die Luft. »Ich muss den Kerl kriegen«, murmelt er. Dann huscht ein mattes Grinsen über sein Gesicht. »Du kannst Warnicke sagen, dass er gegen mich einen Tatbericht schreiben soll. Gehorsamsverweigerung oder so … Mir Wurscht, was er macht.« Er tritt noch einmal an die Schießscharte und späht hinaus ins Dunkel. »Bei der Bachmulde«, murmelt er und dreht sich um, nickt den beiden Landsern zu und verlässt den MG-Bunker.

»Alles Gute, Herr Feld!«, ruft ihm einer der Landser nach.

Ebner tritt zum MG, prüft den eingelegten Gurt und klappt den Verschlussdeckel leise zu.

Der andere steht da und starrt auf die Blutlache am Erdboden. »Wir müssen das wegwischen«, sagt er mehr zu sich selber und scharrt mit, dem Fuß den dunklen Fleck in die Breite.

Ebner schaut sich um. »Streu Erde drauf.«

Hajek hat sich über den aufgeworfenen Erdwall abgerollt und liegt jetzt still. Er hält den Atem an. Hört aber nur dumpfes Sprechen, das aus der Erde zu kommen scheint. Es sind die Kameraden in den Bunkern, die leise miteinander reden.

Das Gelände senkt sich dem Fluss zu, wird etwa zweihundert Meter weiter unten flach und geht in buschbewachsenes Moorland über. Niedrige Bodenwellen erstrecken sich bis zum Dnjepr, und ein Bach durchzieht das Gelände von Ost nach West. Büsche und Bäume wachsen verstreut, aber augenblicklich ist nichts weiter zu sehen als eine weiße Fläche, die sich sanft neigt.

Hajek spürt nicht die Nässe, die seine Kleider ansaugt, spürt nicht die klamme Kälte der Nacht. Er liegt noch immer reglos und spannt die Sinne an.

In der Nähe des Bachlaufes muss er liegen, denkt er, ohne dass seine Nerven beben. Der alte, erprobte Kämpfer ist in ihm erwacht. Dass er sein Leben aufs Spiel setzen will, kommt ihm nicht eine Sekunde lang zu Bewusstsein.

Er schiebt sich auf den Ellenbogen und Zehenspitzen weiter, den Leib gespannt wie eine Stahlfeder. Der Neuschnee ist wässerig und verursacht beim Gleiten ein leises Schmatzen. Aber der Wind, der von Osten weht, hat die stärkere Stimme: Er winselt und jammert in der Dunkelheit.

Die Flachstelle ist erreicht. Hajek verschnauft kurz, hält den Atem zurück, stößt ihn in die Beuge des Armes hinein. Weiter vorn beginnt die erste Bodenmulde; der Bach muss gleich dahinter sein. Wo liegt der Scharfschütze? Man sieht diese Burschen nie. Sie sind Meister im Tarnen. Gemein, mit Sprengmunition zu schießen! Das ist eine neue Einführung, die fleißig geübt wird! Hajek will nicht nur den Scharfschützen, sondern, wenn es irgendwie geht, auch dessen Gewehr. Es sollen außergewöhnlich gute Gewehre sein, mit der neuesten Zieloptik ausgerüstet.

Hajek lauscht eine Weile, dann bewegt er sich schlangengleich weiter. Wenn die Russen Meister der Tarnung sind, ist Hajek ein Meister im Anschleichen.

Die dahinwindende Gestalt ist kaum zu erkennen. Jetzt verschwindet sie in der Mulde.

Wieder hält Hajek inne und horcht. Er hört leises Schmatzen, aber es ist nur der Bach. Er muss ganz nahe sein.

Um dem Obergefreiten Hermann Klotz das Sprenggeschoss zwischen die Augen zu bringen, hat der Sowjetschütze vorher eine Leuchtkugel hochgehen lassen. Ihr Licht erreichte sein Gesicht in der Schießscharte. Dann traf Klotz das fürchterliche Geschoss.

Hajek ist ein alter Fuchs – bewährt in unzähligen Gefahrenmomenten, eiskalt in seinen Überlegungen. Er weiß, wie der Gegner kämpft; er weiß aber auch, was ihm blüht, wenn er vorzeitig von ihm entdeckt wird, wenn etwas schiefgeht.

Jetzt hat er den Bach erreicht. Es ist nur ein schmales Rinnsal, das dahinschmatzt und verträumt gluckst. Hajek hebt den Kopf und späht durch den dünnen Schneevorhang, der lautlos niedersinkt. Weiter vorn ist etwas Dunkles. Eine Buschgruppe. Von dort muss der gut gezielte Schuss gekommen sein. Aber Scharfschützen pflegen ihre Stellung nach dem Schuss sofort zu wechseln. Hajek schlängelt sich langsam auf die Buschgruppe zu.

Er erreicht sie, bleibt liegen, spannt die Sinne an und horcht. In der Ferne brodelt das Frontfeuer. Dort, wo die Trümmerstadt liegt, ist heute ausnahmsweise einmal Ruhe. Eine verdächtige Ruhe.

Hajek denkt plötzlich an Warnicke. Das wird einen ganz schönen Anpfiff geben, oh ja! Man mag mit Warnicke gut befreundet sein, eine noch so gute Nummer bei ihm sein, aber eine Befehlsverweigerung lässt er nicht durchgehen. Niemals! Aber geht es diesmal nicht um etwas ganz anderes?

Hajeks Gedankenfaden reißt ab. Es ist ihm, als höre er ein Geräusch. Ganz nah. Hinter dem Strauch. – Ja, Schnee schmatzt unter einem leisen Tritt!

Hajek nimmt die Russen-MPi, legt sich halb darauf und entsichert sie, tastet in die Taschen, wo die Eierhandgranaten stecken. Er überlegt schnell: Soll er Handgranaten werfen oder Dauerfeuer in Richtung des Geräusches loslassen?

Er wartet noch, schiebt sich etwas nach links, um am Busch vorbeispähen zu können.

Ungefähr zwanzig Meter entfernt bewegt sich ein Hauch von einem Schatten. Jetzt ist er wieder weg. Weiter, befiehlt sich Hajek und schiebt sich ein paar Meter vor.

Eine Buschgruppe erscheint.

Hajek weiß, dass der Feind ganz in der Nähe ist; er spürt ihn geradezu, er wittert ihn.

Zum Busch hin, denkt Hajek und legt das letzte Stück im Schneckentempo zurück. Unheimlich langsam. Dann hat er die Buschgruppe erreicht.

Er lauscht.

Er vernimmt jetzt ein verhaltenes Hüsteln, das in ein krampfhaft unterdrücktes Husten übergehen will. Der Russe scheint sich verkühlt zu haben. Nun ja, bei dem Sauwetter! Auch Russen kann so etwas passieren.

Der da hüstelt, hat bestimmt schon oft Schießerfolge gehabt. Vorhin den Hermann, unlängst den Schorsch Blenk und vielleicht sogar auch den Alfred Rangel.

Hajek nimmt zwei Handgranaten aus der Tasche, zögert einen Augenblick, zieht die erste mit den Zähnen ab, zählt in Gedanken langsam bis drei und wirft. Gleich darauf die zweite. Er schnellt hoch, krümmt den Finger und schießt Dauerfeuer durch das Buschwerk. Er schwenkt die MPi hin und her. Er hört das Krachen der beiden Explosionen. Sieht die beiden Blitze.

Jetzt springt er vor und stürzt in Richtung des Pulvergestankes.

Die Leute in den Stellungen haben die Detonation und das Rattern der Maschinenpistole gehört.

Ebner hält das MG schussbereit und schreit: »Jetzt hat er ihn! Er hat ihn, Max!«

Feldwebel Hajek hat den Scharfschützen. Er liegt vor ihm. Eine zweite Gestalt, die ein paar Meter entfernt liegt, richtet sich jetzt auf und rennt davon. Mit ein paar Sätzen ist Hajek bei dem Russen und schlägt ihm die leer geschossene MPi über den Kopf. Der Russe bricht zusammen.

Hajek stürzt sich über ihn, packt ihn, reißt ihn hoch und beutelt ihn wie irr.

»Du Schuft!«, brüllt er. »Du gemeines Schwein!« Hajek ist wie von Sinnen. Er weiß nicht, was er tut. Die Gestalt in seinen Fäusten gibt keinen Laut von sich. Schwankt hin und her. Ein weißvermummter Kopf wackelt haltlos nach beiden Seiten, nach hinten und vorn.

Da stößt Hajek den Russen weg. Der Russe fällt aufs Gesicht, erhebt sich langsam, nimmt die Arme halb hoch und lallt:

»Kamerad … Kamerad …«

Hajek schüttelt den Bann ab, geht auf den Russen zu, versetzt ihm Püffe und Stöße und treibt ihn zu den Stellungen hinauf, laut kommandierend: »Marsch! Vorwärts! Dawai, dawai!« Und der Russe stolpert voran, fällt hin, rappelt sich wieder hoch und wankt weiter, mit einer Hand seinen Hinterkopf haltend, den anderen Arm ergeben hochhaltend.

Sie kommen an dem Toten vorbei, der im Schnee zwischen zwei dunklen Flecken liegt. Hajek hebt zwei Gewehre auf. Der Russe geht von allein weiter, mit weichen Knien, taumelnd.

Eine Viertelstunde später ist Hajek wieder in der Ziegelei. Warnicke ist da. Er sagt kein Wort, er schaut nur den Russen an, der taumelnd im Lichtschein der Stalllaterne steht und sich aufrecht zu halten versucht. Es ist ein junger Kerl mit einem gut geschnittenen Gesicht, aus dessen Mundwinkel ein dünnes Blutrinnsal tropft.

Der Russe bewegt die Lippen.

»Mama … oh Mama«, stammelt er, und dann sinkt er zusammen.

Hajek steht mit hängenden Armen da, völlig durchnässt, schmutzig; er atmet schwer. Wie gemein das alles ist, denkt er. Wie gemein! Warum ist dieser Krieg bloß so gemein?

In diesem Augenblick empfindet Martin Hajek keinen Grimm für den geschlagenen Gegner. Ein Gefühl von Leere ist in ihm. Er lässt den Kopf sinken.

»Bringt den Kerl zum Gefechtsstand«, hört er Warnickes heisere Stimme.

Zwei Landser treiben den Russen hoch, packen ihn und schubsen ihn hinaus. Die anderen stehen im Lichtkreis der Stalllaterne und besichtigen die beiden Beutegewehre.

Warnicke geht zu Hajek und rüttelt ihm die Schulter.

»War ’ne riskante Sache«, sagt er. »Schwein gehabt, wie?«

»Ja«, murmelt Hajek. »Wieder mal Schwein gehabt.«

Die beiden Männer sehen sich stumm an. Warnicke nickt unmerklich, etwas wie ein Lächeln huscht über sein knochiges Gesicht, dann murmelt er:

»Will mir alles noch überlegen, Hajek. Sie wissen, was?«

»Jawohl«, murmelt Hajek.

Leutnant Warnicke verlässt den Ofenraum und schlingt den grauen Wollschal um den Hals.

Am 15. November gelingt es den Sowjets, nördlich von Tscherkassy den Flussübergang zu erzwingen und das Grenadier-Bataillon in Richtung der Bahnlinie zurückzuwerfen. Der Flussübergang bringt den roten Sturmtruppen empfindliche Verluste, denn die Deutschen weichen erst nach verbissenem Widerstand.

Dieser Feinddurchbruch bedroht die linke Flanke des Grenadier-Regiments Grätz. Wenn es nicht gelingt, die Russen zurückzuwerfen, ist Tscherkassy nicht mehr zu halten.

Man zieht daher eine Batterie 15-cm-Feldhaubitzen ab und schickt sie an die Bahnlinie. Ein Zug Infanteriegeschütze muss, so schwer es auch fällt, aus der Verteidigungslinie herausgezogen und ebenfalls zur Einbruchstelle abkommandiert werden.

Östlich der Stadt – jenseits des Dnjepr – drängt der Feind mit schweren Waffen heran und versucht, den Flussübergang zu erzwingen. Aber die am östlichen Stadtrand liegenden Verteidiger verhindern jeden Übersetzversuch. Dreimal setzt der Russe zu einem Gewaltstreich an, dreimal wird er blutig zurückgeschlagen. Die sowjetischen Sturmboote, in denen sich die Sturmtruppen ducken, werden durch schweres Granatwerferfeuer und im Direktbeschuss mit Pak und Maschinengewehrgarben zerlöchert. Die Schreie der Getroffenen und in den kalten Wellen mit dem Tode Ringenden geht im rasenden Gehämmer der Kleinwaffen unter.

Nach diesem Übersetzversuch schicken die Sowjets Flugzeuge und decken den Trümmerhaufen Tscherkassy mit Bombenteppichen zu. Es ist, als würde die gemarterte Stadt immer wieder mit einem riesigen Spaten umgegraben – von unten nach oben. Von oben nach unten. Die Toten in der Erde finden keine Ruhe, die Lebenden erwarten den Tod.

Es ist die Hölle.

Kaum, dass die Bomber abgeflogen sind, setzt wieder schweres Artilleriefeuer ein. Im Gefechtsstand der 2. Kompanie rasselt das Feldtelefon. Leutnant Warnicke, seit einigen Tagen vollkommen nüchtern und mit seiner gelichteten Kompanie aufs engste verbunden, nimmt den Bataillonsbefehl entgegen: »Alte Stellung sofort räumen und neue Verteidigungslinie nordwärts der Bahnlinie beziehen.«

Eine Dreiviertelstunde später rückt die nur noch aus einundachtzig Mann bestehende Kompanie ab.

Es schneit, es ist bitter kalt. Mit hängenden Köpfen trotten die Landser in loser Marschordnung Richtung Bahnlinie. Niemand spricht. Gleichgültig geworden, abgestumpft gegen Not und Tod, in zerlöchertem Schuhwerk, in steif gefrorenen Mänteln, schwer beladen mit Munition und Handfeuerwaffen – so schlurft die Kompanie nach Norden. Zur Bahnlinie Tscherkassy–Smjela.

Aus dem Matschwetter ist Frostwetter geworden. Der Schnee ist zu einer harten Decke gefroren, auf der jeder Schritt dumpf poltert. Ein bitterkalter Wind bläst durch die Kleider bis auf die Haut. Die Gesichter der Landser sind blaugefroren, stoppelbärtig, seit Wochen nicht mehr gewaschen.

Die zugewiesene Verteidigungslinie verläuft längs der teilweise aufgerissenen, mit umgeknickten Telegrafenmasten gesäumten Bahnstrecke. Schnee bedeckt die Gleise. Im Westen erheben sich weiße Hügel. Nach Norden verläuft eine schmale verschneite Straße, die in einem Hügeleinschnitt verschwindet.

Warnicke bezieht ein trostlos leeres und halbverfallenes Bahnwärterhäuschen als Gefechtsstand. Die Strippenzieher traben los und legen Leitungen zu den Zügen und zum Bataillon, das zwischen Bahnlinie und Tscherkassy liegt.

»Eingraben!« lautet der Befehl, und die Landser schnallen die Feldspaten vom Koppel und versuchen, in die knochenhart gefrorene Erde so etwas Ähnliches wie ein Deckungsloch zu buddeln. Ein paar findige Köpfe zerren Eisenbahnschwellen aus dem harten Schnee und bauen damit notdürftige Unterstände.

Die Arbeit macht warm und taut die Geister auf. Flüche werden laut. Da und dort lacht sogar jemand. Die Widerstandskräfte sind mobilisiert, man ist nicht unfroh darüber, sich jetzt in einer anderen Richtung verteidigen zu müssen.

Der II. Zug des Feldwebels Hajek ist an die rechte Flanke der Kompanie geschickt worden, in die Nähe der nach Norden verlaufenden Straße. Sie führt schnurgerade auf den Hügeleinschnitt zu und verschwindet dann. Rechts der Straße liegt ein kleiner verlassener Bauernhof, den Hajek als Unterschlupf bezieht. Die muffige Stube ist fast leer, zurückgelassen wurde nur ein zerbrochener Tisch, ein dreibeiniger Stuhl und, weil man ihn nicht mitnehmen konnte, der Lehmofen, der der Familie als Schlafplatz gedient haben mochte. Die Fenster sind viereckige Löcher, die Tür fehlt. Ebner inspiziert den Hof, in der Hoffnung, ein verlassenes Huhn zu finden, um es für den Kochtopf zu präparieren. Aber es ist kein Huhn da. Im Stall stinkt es nach Schimmel.

Wenn man nach Osten blickt, sieht man die rauchenden Trümmer von Tscherkassy, hört man das Wummsen der Einschläge. Der Himmel ist schneeträchtig und hängt tief.

Trostloses Russland!

In Hajeks Ohren klingt noch Warnickes Ermahnung: »Sie sind an einer wichtigen Stelle, Feldwebel. Sie sind die Rückendeckung. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht vom Feind überrascht und überrollt werden. Höchste Wachsamkeit!«

Als ob man nicht andauernd daran dächte, sich durch Wachsamkeit am elenden Leben zu erhalten!

Wenn es den Sowjets gelänge, Tscherkassy in den Rücken zu fallen, ist alles aus!

Jeder weiß das, und jeder will sein Bestes tun, um den Kameraden in der Trümmerstadt den Rücken freizuhalten.

Hajek ruft seine Leute zusammen. Er ermahnt die Gruppenführer und erklärt ihnen genau die Lage. Dann teilt er den Vorposten ein. Der Gefreite Gimmler und der Obergefreite Alsdorf werden zum Hügeleinschnitt, den die Straße durchläuft, geschickt.

»Bezieht Stellung und passt auf«, sagt Hajek. »Sobald ihr was hört oder seht, sofort zurückkommen und Meldung erstatten.«

Die beiden Stammleute trotten mit einem MG und den Munitionskästen davon. Der kalte Wind schiebt sie ihrem Ziel entgegen. Als sie am Hügeleinschnitt ankommen, sehen sie, dass die Straße in ein paar Krümmungen einem Waldstück entgegenführt. Vom Hügeleinschnitt aus kann man gut zum Wald hinüberschauen. Bis dorthin sind es etwa zwei Kilometer. Es ist nichts zu sehen. Der Wind treibt dünne Schneestaubwolken durchs Gelände.

Gimmler und Alsdorf schnallen den Spaten ab und buddeln sich warm. Eine Stunde brauchen sie, bis sie ein Loch geschafft haben, in dem sie mit dem MG liegen können. Sie ziehen zwei Zeltbahnen über das Loch und schützen sich somit lediglich gegen den kalten Wind.

»So«, sagt Gimmler, als sie unter der Zeltbahn liegen, »jetzt gibt’s was Spezielles für die fleißigen Knaben. Er holt eine flachbauchige Kognakflasche aus der Manteltasche, küsst sie zärtlich und sagt: »Von meiner Emmi. Bei jedem Schluck soll ich an sie denken. – Prost, Emmi!« Gimmler trinkt und reicht Alsdorf die Flasche.

»Prost, Emmi«, sagt auch er und trinkt.

Danach drehen sie sich mit klammen Fingern Zigaretten aus Krüllschnitt und Zeitungspapier. Unter der Zeltbahn riecht es nach verbranntem Papier. Die beiden Landser schauen ins Gelände und schweigen.

Plötzlich kichert Gimmler.

»Was lachst du?«, fragt Alsdorf.

»Ich muss daran denken, wie ich mit meinem Persilkarton eingerückt bin. Da hat man mir doch wörtlich gesagt: »Meine Herren, mit den Russen geht’s genauso ruckzuck wie mit den Franzosen. Die hauen wir genauso schnell in die Pfanne.«

Alsdorf nickt.

»Das war vor zweieinhalb Jahren«, fährt Gimmler fort. »Und solange raufen wir uns jetzt schon mit dem Iwan rum. Er haut uns in die Pfanne, und nicht wir ihn. Oder bist du anderer Meinung?«

Alsdorf kaut auf der Zigarette und schüttelt den Kopf. »Den Krieg haben wir schon verloren«, murmelt er. »Seit Stalingrad geht’s abwärts mit der Großdeutschen Wehrmacht. Nur ein Vollidiot glaubt noch an den Endsieg.«

»Und solche gibt es noch jede Menge, mein Lieber.«

Sie schweigen und klopfen mit den Stiefelspitzen den harten Boden, um die Füße warmzuhalten. Es fängt zu schneien an. Dünn. Stetig. Zwischen Höheneinschnitt und dem Waldstreifen drüben sinkt ein immer dichter werdender Vorhang nieder.

»Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie es wird, wenn der Iwan uns einkassiert«, sagt Alsdorf und saugt den Rest der Selbstgedrehten mit spitzen Fingern. »Sibirien soll ziemlich das Ende sein … ich meine, nicht nur das Ende der Welt.«

»Denken wir nicht daran«, murmelt der Gefreite, »sonst hau ich gleich in den Sack.«

»Wälder soll es dort geben«, fährt Alsdorf nach einer Weile fort, »die noch keiner betreten hat, richtige Urwälder. Man wird zu Holzarbeiten geschickt und geht nach einem Jahr auf irgendeine Weise ein.«

»Hör auf!«, raunzt der andere. »Wir kommen durch.«

Aber Alsdorf redet weiter: »Ich kann mir nicht mehr vorstellen, Franz, dass wir immerzu Glück haben und nichts verpasst kriegen. Irgendwann erwischt es uns auch wie den Blenk oder wie vor vierzehn Tagen den Klotz. Ich bin nicht zimperlich, Franz, nee, bestimmt nicht, ich bilde mir ein, eine dicke Haut zu haben, aber wenn ich an einem Stahlhelm vorbeikomme, der auf einem Astknüppel hängt, stelle ich mir manchmal vor, dass ich es bin, der da im Loch liegt … mit dem Astknüppel und meinem Stahlhelm über mir.«

»Mensch, dir ist wohl der Schnaps meiner Emmi in die Birne gestiegen?« Gimmler lacht heiser.

»Komm«, sagt Alsdorf, »fahr Emmis Geschenk noch einmal her, nehmen wir noch einen Schluck.«

Gimmler zieht die Flachbauchige, reicht sie Alsdorf, und der schraubt den Verschluss auf, riecht, macht »Hm …« und trinkt einen kleinen Schluck.

Es wird langsam dunkel und schneit noch immer dünn und stetig. Alsdorf schiebt den zerfransten Mantelärmel zurück und schaut auf die Armbanduhr.

»Sechse ist es schon«, murmelt er. Er wirft einen Blick nach draußen. »Scheint nischt los zu sein. Alles ruhig.«

»Aber der Iwan soll durchgebrochen sein«, erinnert Gimmler. »Wenn er da ist, steckt er dort drüben im Wald und wartet ab, bis es dunkel geworden ist.«

»Horchen wir mal«, schlägt Alsdorf vor. Und er nimmt den Stahlhelm vom Kopf, fährt sich mit der Hand durch das zottelige, langgewachsene Haar und macht den Hals lang. Auch Gimmler horcht.

Im Norden, fern und grollend, hört man Frontdonner. Dort, wo Tscherkassy liegt, rückwärts also, paukt es in unregelmäßigen Zeitabständen.

Plötzlich vernimmt man in nordöstlicher Richtung MG-Feuer. Kurz. Dann anhaltend. Dann verstummt es plötzlich.

»Bei der Ersten scheint was los zu sein«, sagt Alsdorf. Und seufzt. »Mensch, wie das bloß ausgehen soll! Mir ist es manchmal, als wären wir schon in einem Sack drinnen, der nur noch nicht zugeschnürt ist.«

»Du unkst heut ganz schön, mein Lieber!« Gimmler grinst herüber. »Ich werde froh sein, wenn uns die Kumpels ablösen. Mit dir ist heute einfach nischt los.«

Alsdorf schaut noch einmal auf die Uhr. »Eine halbe Stunde noch«, murmelt er, »dann kommt die Ablösung. Lausig kalt ist es.« Er pocht mit den Fußspitzen auf die Erde.

Plötzlich fährt Gimmlers linker Arm herüber. »Du – schau mal!«, ruft er erregt. »Da vorne ist doch was!«

Alsdorf späht hinaus, hebt mit der Hand den flatternden Zeltbahnzipfel hoch und kneift die Augen zu einem Spalt.

»Ich seh nischt«, murmelt er. »Wo soll was sein?«

»Ganz drüben – beim Wald«, flüstert Gimmler, als wäre der Feind schon dicht herangekommen. »Ich hab ein paar dunkle Punkte gesehen!«

»Vielleicht sind’s Rehe.«

»Rehe! Du Spinner! Wo sollen hier Rehe sein?«

Die beiden Landser schweigen und starren in die Dämmerung, in der das dünne Geflocke niedersinkt. Aber man kann doch ziemlich weit schauen – die Straße entlang, die ein paar sanfte Biegungen beschreibt und dann im Wald verschwindet. Die Kälte ist jetzt spürbar geworden, die beiden Landser frieren und trommeln mit den Fußspitzen auf den Boden.

»Los«, sagt Alsdorf, »stehen wir auf, sonst werden wir Eiszapfen. Ich hab kein Gefühl mehr in den Knochen.«

Gimmler und Alsdorf kriechen aus dem Loch und richten sich auf. Sie tragen schmutzig-weiße, schon halbzerfetzte Tarnhemden. Ihre Stahlhelme sind gekalkt.

Plötzlich stutzen die beiden Landser und horchen. Es ist ihnen, als klirre in der Dunkelheit etwas – gedämpft nur, mit dumpfen Brummtönen vermischt.

»Das sind Panzer«, stammelt Alsdorf. »Du meine Fresse«, entfährt es dem Gefreiten, »auch das noch!«

Sie horchen angestrengt. Das Geräusch ist wieder verschwunden. Ruhig fällt der Schneevorhang ins dämmerige Dunkel.

»Einer von uns beiden muss Meldung machen«, sagt Gimmler.

»Willst du …?«, fragt Alsdorf.

»Nee«, sagt Gimmler, »lauf du los. Ich bin schlecht zu Fuß.«

Alsdorf fängt zu rennen an. Er rennt nicht nur wegen des verdächtigen Geräusches, sondern weil ihm endlich wieder warm werden und das gestockte Blut rascher zu kreisen beginnen soll.

Im alten Bauernhof ist Hajek gerade dabei, sich frische Fußlappen um die Füße zu wickeln, als die

angelehnte Tür aufgerissen wird und Alsdorf hereinstolpert.

»Herr Feld«, keucht er, »Panzer sind im Anmarsch … auf der Straße … vom Wald her … wir haben Panzergeräusch gehört!«

Hajek beeilt sich, die Knobelbecher an die Füße zu kriegen. »Habt ihr euch nicht getäuscht, Alsdorf?«

»Nee. Ich kann einen Panzermotor recht gut von einem Sachsmotor unterscheiden, Herr Feld.«

Hajek nickt nur. Höhn und Friemelt schauen verstört auf den Zugführer.

»Sollen wir das Bataillon verständigen?«, fragt Höhn.

»Seid ihr noch nicht dabei, ihr lahmen Hühner!«, knurrt Hajek und läuft hinaus.

Gleich darauf trillert ein Pfiff. Längs des Bahndammes wird es lebendig. Ein paar Gestalten kommen angerannt.

»Unteroffizier Reischach, Obergefreiter Ebner – los, Leute holen und rauf zur Straßenhöhe!«, befiehlt Hajek. »Panzer sind im Anmarsch. Beeilt euch!«

Dann traben Hajek und Alsdorf über den hartgefrorenen Schnee, den eine dünne Schicht Neuschnee bedeckt, durch die Dämmerung zur Straßenanhöhe hinauf.

Gimmler kommt aus dem Deckungsloch gekrochen.

»Wo sind die Panzer?«, schnauft Hajek.

Gimmler hat sich die ganze Zeit über die Augen ausgeschaut, hat wie ein Luchs hingehorcht, aber seit zehn Minuten ist alles still.

»Sie sind wieder weg«, sagt Gimmler etwas verlegen. »Aber es waren bestimmt Panzer, Herr Feld.«

»Ich hab sie auch gehört«, versetzt Alsdorf.

Hinter ihnen poltern laufende Schritte, ertönt Gekeuche. Die erste und die zweite Gruppe kommen angerannt. »Wo brennt’s?«, schnauft Unteroffizier Reischach; er ist auch einer der wenigen, die noch zum Stamm der Zwoten gehören.

»Gimmler und Alsdorf wollen Panzergeräusche gehört haben«, sagt Hajek, und dann schickt er die beiden Gruppen links und rechts auf die Hügelkammlinie und befiehlt ihnen, in Stellung zu gehen. Hajek will selber mal nachschauen, schauen was vorne los ist. Als er gehen will, erbietet sich Alsdorf, ihn zu begleiten. Hajek ist einverstanden. Ein paar Augenblicke später verschwinden sie im leichten Schneetreiben.

Schweigend traben sie die Straße hinunter, verfallen aber bald in langsameren Schritt. Die Straße beschreibt eine sanfte Rechtsbiegung; man kann ihren weiteren Verlauf nicht sehen, da sie um einen verschneiten Hügel herumführt.

Hajek biegt nach rechts ab, und dann waten die beiden Gestalten durch angewehten Neuschnee auf den Hügel zu, wühlen sich durch eine überhängende Schneewächte hinauf und bleiben, oben angekommen, keuchend im Schnee liegen.

Von dort aus kann man wohl ein Stück der Straße sehen, aber der Rest, der bis zum Wald hinreicht, wird durch das schneetreibende Dunkel verhüllt.

»Habt ihr euch auch nicht verhört?«, fragt Hajek. »Kam das Panzergeräusch – wenn es wirklich eins war – nicht aus dem Waldstück dort drüben?«

»Nee, Herr Feld – wir haben uns bestimmt nicht verhört«, erwidert Alsdorf und schleckt Schnee gegen den Durst.

Hajek späht durch das Dunkel, strengt das Gehör an, vernimmt keinen verdächtigen Laut, der auf die Nähe der Panzer schließen ließe. Es ist alles still; nur der schneetreibende Wind winselt über die Hügelkuppe.

Wenn es wirklich Panzer sind, denkt Hajek, wenn sie sich zum Angriff aufstellen, kommen sie heute nicht mehr. Sie werden den Tag nutzen … also morgen erst.

Hajek wird von dem unbehaglichen Gefühl beschlichen, dass in der Dunkelheit irgendetwas lauert, dass die Russen sich irgendwo bereitstellen. Weiter vorn in einer Mulde oder drüben im Wald. – Hingehen und kundschaften? – Nein.

Hajek hat das absolut sichere Gefühl, dass dieser Erkundungsgang sinnlos wäre. Wozu etwas unternehmen, das keine Chance zum Gelingen bietet, nicht die geringste Chance! »Los«, befiehlt er Alsdorf, »ab und zurück. Wir richten hier nichts aus.«

Sie schlittern den Hang hinunter und gehen zur Straßenhöhe zurück.

»Na, was gibt’s?«, fragt Unteroffizier Reischach, als Hajek und Alsdorf ankommen.

»Nichts zu hören und zu sehen«, erwidert Hajek. »Aber wir bleiben hier. Richtet euch für die Nacht ein.« Unteroffizier Tischner denkt an den vor drei Stunden erbauten Unterstand aus Schienenschwellen. Zum Teufel, das wird eine kühle Nacht werden! Aber es ist ja nicht die erste, die man in diesem lausigen Land erlebt!

In dieser Nacht, die zwei Gruppen des II. Zuges auf dem zugigen, eiskalten Hügelrücken verbringen, passiert nichts. Aber kaum dass der Morgen graut, bricht geradeaus ein dumpfes Dröhnen und Mahlen los, vermischt mit jenem rasselnden Geräusch, das fahrende Panzer verursachen.

Es schneit noch immer dünn, der Morgen ist fahlgrau, und die Sicht reicht nicht bis zum Wald hinüber. Und dort drüben haben sich die Sowjets für den Angriff bereitgestellt. Die Geräusche, die am Abend vorher von den beiden Landsern vernommen wurden, waren wirklich von Panzern verursacht.

Jetzt rollen sieben hintereinanderfahrende T 34 wie Elefanten heran, gefolgt von drei flacher gebauten Sturmgeschützen. Infanterie hängt wie Trauben an den Ungetümen. Infanterie trabt in den Zwischenräumen.

»Panzer!«, brüllt es auf der Straßenhöhe. »Panzer von vorn!«

»Was hab ich gesagt!«, schreit Alsdorf blass und hysterisch wütend. »Sind das Panzer oder Mistfuhren?«

Zwei MG beginnen zu schießen. Dauerfeuer. Ein paar Gestalten purzeln aus den Trauben auf den Panzern und bleiben liegen.

»Rotlicht schießen!«, brüllt Hajek.

Drei Rotlichter taumeln in den grauen Himmel, flammen auf, bleiben ein paar Sekunden stehen und fallen wie verlöschende Sterne. Der Feind greift an!

Die Funker brüllen in die Mikrofone, dass Panzer angreifen; die Fernsprecher kurbeln wie verrückt die Sprechapparate: »Feind greift über Straßenhöhe an! Feind greift an!«

Hajek hat eingesehen, dass zwei MG und patschendes Schützenfeuer sieben T 34, drei Sturmgeschütze und aufgesessene Infanterie nicht aufhalten oder gar zurücktreiben können. Er befiehlt Stellungswechsel.

Die Leute hasten zum Bahndamm zurück. Ein Melder ist losgerannt und stürzt in das Bahnwärterhäuschen.

»Herr Leutnant, Herr Leutnant, Panzer greifen an!«

Warnicke ist vollkommen ruhig, er nickt, schlingt den grauen Wollschal fester um den Hals und geht hinaus, dem Melder auf die Schulter klopfend: »Nur ruhig Blut, mein Junge! Immer ruhig bleiben! Häng dich an mich, ich werde dich noch brauchen.«

Der Gefechtslärm verstärkt sich. In das langanhaltende Rattern der deutschen Maschinengewehre dröhnen die trockenen Schläge mehrerer Panzerkanonen.

Und während Leutnant Warnicke die Leute des III. Zuges zwischen ein paar rostenden, halb zerschossenen Güterwaggons in Stellung befiehlt und ermahnt, mit der Munition vorerst sparsam umzugehen, erkennt Feldwebel Hajek, dass die durch die Hügelschneise durchrollenden Sowjetpanzer nach links und rechts auszuscheren beginnen und die Infanterie dicht nachfolgt. Es ist jetzt klar, dass die Sowjets Tscherkassy von rückwärts angreifen wollen.

Links, dicht hinter der Ruine des Bahnhofes, steht eine 15-cm-Batterie in Stellung. Bisher hat sie nach Osten geschossen, jetzt sind die Kanoniere dabei, die Geschütze um hundertachtzig Grad herumzudrehen und in Feuerbereitschaft zu bringen.

»Direktbeschuss!«, brüllt ein Offizier durch das Megafon. »Feuer frei!«

Hajek versucht, zwei Züge beisammen zu halten, um ein massiertes Abwehrfeuer zu haben.

»Auf die aufgesessene Infanterie halten!«, brüllt er den MG-Schützen zu und rennt von Gruppe zu Gruppe. »Auf die Infanterie halten, Leute! Das ist wichtig! Die Panzer können wir mit MG nicht aufhalten!«

In dem Augenblick, als die Sowjetpanzer und die drei Sturmgeschütze fächerartig auseinandergeschwärmt sind und den Angriff beginnen, verstärkt sich plötzlich das feindliche Artilleriefeuer jenseits des Dnjepr. Lage auf Lage rauscht in die Stadt hinein, reißt schwarze Sprengpilze hoch und wirbelt Trümmer durcheinander. Schwere Kaliber schlagen auf dem Bahngelände ein.

Der Morgen ist erfüllt vom Krachen und Bersten, vom Reißen der Granaten, vom wilden Hämmern der Maschinengewehre, vom Krachen der feindlichen Panzerkanonen, in dem das Schützenfeuer der deutschen Grenadiere kläglich untergeht.

Der Tanz hat begonnen. Es ist das geschehen, was man allgemein befürchtet hat: Tscherkassy wird von zwei Seiten angegriffen. Und während das II. Bataillon mit zwei Kompanien nach Norden und Osten abzuschirmen versucht und sich mit verbissener Wut verteidigt, sieht sich Leutnant Albert Warnicke vor die Tatsache gestellt, mit einer dezimierten und nur mit Handfeuerwaffen ausgerüsteten Kompanie einen überstarken Gegner aufzuhalten. Sieben T 34 mit nachfolgender Infanterie und drei Sturmgeschütze sind ausgeschwärmt und greifen Tscherkassy aus westlicher Richtung an. Die 15-cm-Batterie kommt gar nicht dazu, den Feind im Direktbeschuss abzuwehren und ein paar der heranwalzenden Ungetüme abzuschießen. Die Kanoniere packen ihre Karabiner und laufen in die Trümmer zurück, um sich von dort aus zur Wehr zu setzen.

Anscheinend zu spät prescht ein Pak-Zug heran und geht hinter den Bahngleisen zwischen Ruinenmauern und Trümmern in Stellung. Die Panzerjäger sind fixe Burschen. Es dauert nur Sekunden, bis der erste Schuss das Rohr verlässt. Beim vierten bleibt der erste Panzer liegen und beginnt zu qualmen. Aber sechs andere rollen weiter und schießen wie wild. Aus dem Getöse bricht matt klingendes Geschrei.

Bis auf hundertfünfzig Meter sind Panzer und Infanterie herangekommen. Sie machen es nach dem Schema: Schieß du, ich fahre! Während jeweils drei Panzer stehend feuern, rollen die drei anderen mit Höchstfahrt weiter, halten und schießen, der nachfolgenden Infanterie Feuerschutz gebend.

»Feuer auf Infanterie!« Leutnant Warnicke, selber hinter einem MG liegend, schreit den Befehl. Dann drückt er den Finger auf den Abzug und visiert die beweglichen Punkte an, die hinter oder neben den Panzerungetümen laufen.

Auch Hajeks Zug schießt auf die feindliche Infanterie. Als plötzlich ein zweiter Panzer mit einer grellen Stichflamme auseinanderbirst, ertönt da und dort heiseres Freudengebrüll.

»Pak! Wir haben Pak! Wir schaffen es!«

Das feindliche Artilleriefeuer verlegt sich zurück. Die Panzer vor dem Bahngelände rollen weiter vor. Sie feuern zwischen die Waggons, aus denen Mündungsblitze zucken. Das Dauerfeuer eines MG verstummt jäh. Ein anderes meckert in irrem Takt weiter.

Unteroffizier Reischach liegt bei der zweiten Gruppe und hilft dem MG-Schützen beim Einlegen des Gurtes. Plötzlich schmeißt sich jemand neben Reischach.

»Egon, das hat keinen Sinn. Feuer einstellen. Wir müssen die Brüder ein Stück in die Stadt reinlassen und dort packen.«

Es ist Hajek. Seine hellen Augen im wettergebräunten Gesicht funkeln. Die Bartstoppeln scheinen sich gesträubt zu haben.

»Wohin?«, fragt Reischach.

»In die Trümmer! Nähe Bahnhofsgebäude!«

»Ist das Restaurant geöffnet?«, witzelt Reischach, aber Hajek rennt bereits geduckt zur nächsten, zur übernächsten Gruppe und fordert die Leute auf, sich in die Trümmer zurückzuziehen und sich die Panzer vorzunehmen.

Dort, wo die Güterwaggons stehen, prasselt noch immer ein MG. Der III. Zug muss es sein.

Hajek stolpert über die verschneiten Gleise, schlägt hin, rappelt sich auf und kriecht das letzte Stück auf allen Vieren. Unter dem Güterwaggon liegt Leutnant Warnicke hinter dem MG. Rechts von ihm liegt eine Gestalt auf dem Bauch. Regungslos.

»Herr Leutnant«, schreit Hajek. »Wir müssen zurück!«

Aber Warnicke hört nicht, er rutscht auf dem Bauch mehr nach links, um nach rechts halten zu können – rüber, wo eben ein Schwarm Sowjets über die Gleise rennt.

»Herr Leutnant!« Hajek rüttelt Warnicke am Fuß. »So hören Sie doch schon: Wir müssen zurück!«

Warnicke nimmt den Finger vom Abzug, schaut sich um. Plötzlich zuckt er zusammen und kippt zur Seite.

Blut rinnt ihm von der Stirn über das rechte Auge; sein Mund steht halboffen, böse grinsend.

Hajek starrt den Toten an. In Sekunden ziehen Erinnerung vorbei: Stalingrad … finstere Nachtmärsche … Warnicke an der Spitze seiner Kompanie … Warnicke betrunken … Warnicke, der von seinem toten Bruder redet … Warnicke, Warnicke, Warnicke! Wieder einer der Besten dahin!

Hajek hört das Krachen der Panzerkanonen nicht mehr, hört nicht das heisere Geschrei der Russen, hört nicht das Wüten der Artillerie in der Trümmerstadt; er dreht den Toten auf den Rücken, streichelt ihm über das stoppelbärtige, blutige Gesicht, nestelt das Ritterkreuz vom Hals frei, zerrt es mit einem wütenden Ruck vom Band, knöpft dem Toten Mantel und Uniform auf und holt die Erkennungsmarke von der warmen Haut.

Da klirrt es, und ein Querschläger pfeift in das Holz des Waggons. Jetzt wieder.

Hajek schiebt Warnickes Ritterkreuz in die Tasche, packt das MG und einen Munitionskasten und läuft geduckt den Trümmerhäusern entgegen.

Von diesem Augenblick an weiß Feldwebel Martin Hajek nicht mehr genau, was geschehen ist. Was immer er auch tut, er weiß es später nicht mehr oder nur ganz verschwommen. Er sieht irgendwo Gestalten, die schreien und schießt … und schießt … er ist plötzlich zwischen Trümmern und sieht ein paar Leute, denen er Befehle gibt. Er sieht Tote herumliegen, über die er hinwegspringt, das MG in der Hüfte. Schießend auf erdgraue Gestalten, die irgendwo rennen.

Die Sowjets haben jetzt das Bahngelände erreicht und treiben ein paar Gestalten hoch, die einige Schritte laufen, nach vorn kippen und liegenbleiben. Panzerkanonen krachen, Motoren brüllen dumpf. Eisen klirrt auf Eisen. Die Panzer mahlen jetzt über die Gleise der Bahnanlage. Sie dringen in den Stadtrand ein, überwalzen eine Pak-Stellung, wuchten durch Häuser, die wie Kartenblätter zusammenfallen.

Wo ist die 2. Kompanie? Wo sind Tischner, Ebner, Alsdorf, Reischach? Wo sind sie geblieben?

Da und dort rennt ein deutscher Landser ziellos voran, verschwindet oder fällt mit dem Gesicht auf den hartgefrorenen Boden. In der Luft rauscht und pfeift es. Schwere Einschläge reißen Trümmer hoch und bauen Rauchpilze in die Luft.

Am östlichen Stadtrand wütet MG-Feuer und bauzen kleinere Geschützkaliber.

Niemand weiß mehr, wer zu wem gehört.

Hajek hat kein MG mehr. Es ist leergeschossen und daher wertlos. Irgendwo trifft er in einem Ruinenwinkel Gesichter, die ihm bekannt vorkommen. Leute der Zwoten. Kameraden.

»Warnicke ist tot«, sagt er mit einer Stimme, die ihm selber fremd vorkommt.

»Dann ist der Bart ab«, erwidert jemand. »Kameraden, zusammenpacken und …«

»Halt die Schnauze!«, brüllt Hajek. »Wehr dich, sonst bist du erledigt! Oder denkst du, die machen Gefangene?«

Es ist Reischach, den Hajek anbrüllt. Der Unteroffizier lässt das Kinn auf die Brust sinken.

»Es ist doch alles sinnlos, Martin«, murmelt er.

»Holt die Leute zusammen«, befiehlt Hajek. »Was noch Beine und Arme hat – hierher, zu mir!«

Und während hinter dem Trümmergrundstück Panzermotoren brüllen und Kanonenschläge krachen, versammeln sich etwa dreißig Mann um Hajek. Möglich, dass irgendwo noch ein paar leben, aber jetzt sind erst dreißig Mann da.

»Ich übernehme die Kompanie«, sagt Hajek. »Wir müssen die Panzer erledigen. Handgranaten sammeln! Leute, wir haben ja noch jede Menge Handgranaten!« Er lacht heiser, boxt Reischach in die Seite und muntert ihn auf: »Los, alter Uhu! Wir haben unser Handwerk gelernt!«

Die Leute kriegen wieder Mut. Reischach verschwindet mit sechs Mann zwischen den Trümmern. Hajek winkt den Rest zu sich, gibt kurze Instruktionen und läuft in Richtung der Hauptstraße.

Dort kurven zwei T 34 und schießen wahllos in die Ruinen und wo immer sich etwas regt. Die Feindartillerie hat ihr Feuer jetzt zurückverlegt und bepflastert den Ostrand der Stadt, wo ein wilder Abwehrkampf gegen übersetzende Sturmboote im Gange ist. Zwei dieser Boote treiben kieloben flussab. Ertrinkende schreien, Arme recken sich hoch und verschwinden im lehmfarbenen Wasser.

Hajek und drei Mann hasten durch die Schuttberge. Plötzlich sehen sie die Straße. Keine zehn Meter vor Hajek feuert ein T 34 auf den Marktplatz, von wo ein MG prasselt. Ein Bündel Handgranaten fliegt dem Panzer gegen die linke Seite. Sekunden später ein reißender Knall. Die Panzerkanone schweigt. Schwarzer Rauch qualmt aus den Ritzen. Jetzt eine mächtige Stichflamme, ein ohrenbetäubender Schlag. Der wievielte Panzer ist es, der erledigt ist? Niemand weiß es. Der andere T 34 macht mit einem wilden Ruck kehrt und wackelt mit brüllendem Motor zurück.

Wo sind sie geblieben

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