Читать книгу Herr Gutermann - Fabian Fischer - Страница 6
Montag: Celeste, Agua Huta
ОглавлениеGenauer gesagt erwachte er in einem kleinen gemauerten Haus am Rande des Dorfes Agua Huta. Im Haus von Celeste Mamani und ihrer Mutter Cristina.
Das Haus stand direkt neben einem kleinen Supermarkt und verfügte über einen Garten mit Hühnern und einen Acker zur Selbstversorgung.
Celeste lag in ihrem Bett und streckte sich.
Oh mein Gott, wo bin ich hier gelandet? Geht der Traum nun wirklich so weiter? Ist das, bin ich nun in dieser Frau? Kann sie mich hören? Hallo, ... ähm ... Hallo, Celeste?
Wie Herr Gutermann beschrieben hatte, konnte Manuel im Körper von Celeste Mamani zwar klar denken und bekam alles mit. Eingreifen in das Geschehen konnte er aber nicht. Er versuchte es natürlich, hob seinen Arm, hob sein Bein, schüttelte mit dem Kopf, schrie laut. Celestes Aktionen wurden davon nicht gelenkt oder beeinflusst. Er fühlte sich so machtlos wie noch nie. Das einzige, was ihn in der Situation zumindest etwas beruhigte war der feste Glaube daran, in einem Traum festzustecken. Irgendwann würde er schon aufwachen. Und solange musste er das Spiel mitmachen. Und Celeste sein.
So sah er zu, wie sie sich nackt aus dem Bett schälte – das fand er noch ganz amüsant –, er begleitete sie zur Morgentoilette und beim Duschen und bekam einen Einblick in ihre tägliche Routine, Pachamama, Mutter Erde, für ihr Leben zu danken.
Manuel brauchte mehr als zwei Stunden, um sich seiner ausweglosen Lage hinzugeben. Er versicherte sich weiterhin, in einem Traum zu stecken und beobachtete dann aufmerksam, wie Celestes Leben so verlief. Immerhin könnte es laut Herrn Gutermann bald sein Leben sein.
Celeste stand gerade auf den Treppen vor ihrem Haus und atmete tief ein. Manuel spürte die frische, saubere Bergluft in Celestes Lungen. Sie streckte sich noch etwas und blickte dann hinüber zur Kapelle. Von dort lief ein Mann geradewegs auf sie zu und winkte ihr.
»Guten Morgen, Celeste. Bist du schon lange wach?«
»Guten Morgen, Evo. Ich bin mit der Sonne aufgestanden, ich schätze mal vor rund drei Stunden. Heute wird ein anstrengender Tag. Wohin bist du unterwegs?«
»Runter zum Fluss, ich will angeln. Hast du heute Termine? Schade, ich hatte gehofft, dass du mich begleitest. Ich sehe dich kaum noch. Geht es dir gut?«
»Aber ja, Evo. Mir geht es sehr gut. Dank Pachamama. Ich kann dich ein Stück begleiten, ich muss zum Bürgermeister und da kann ich auch am linken Flussarm entlanglaufen.
Da willst du doch sicher angeln, oder? An deiner Lieblingsstelle. Wo die Fische immer ein Stück größer sind als im rechten Arm.«
Celeste warf ihre langen braunen Haare nach hinten und lachte laut. Evo, ihr ältester Freund, grinste sie an.
»Du kennst mich zu gut, Celeste. Und es stimmt wirklich: Erst letzte Woche habe ich einen viel größeren Fisch als mein Bruder geangelt. Und der war zeitgleich am rechten Arm. Was machst du bei Felipe? Willst du ihm die Leviten lesen?«
Evo wusste, dass Celeste das konnte. Und dass sie das auch schon des Öfteren getan hatte.
»Nein nein, er begleitet mich, also ich begleite ihn zu einem Interview mit einem Fernsehsender. Die Reporter kommen extra aus Santa Cruz hierher. Felipe wird etwas zu den Gesetzen sagen und ich bin für inhaltliche Fragen rund um das Schutzgebiet dabei. Sie finden die Kombination aus Umweltschutz und Tourismus spannend und für unser Projekt können wir jede laute und einflussreiche Stimme gut gebrauchen.«
In Celestes Augen blitzte es auf. Sie wirkte kämpferisch, entschlossen. Auch Manuel bekam das mit. Er fühlte einen deutlich stärkeren Energiefluss in Celestes Körper als er es jemals bei sich selbst gespürt hatte.
»Wollen wir los?«
»Gern.«
Celeste griff nach ihrem Handy, steckte ihren Hausschlüssel in die Tasche und folgte Evo auf die Dorfstraße hinaus.
»Es ist schön, dass wir uns sehen. Ich hoffe aber, dass du nicht an meinem Haus vorbeigekommen bist, weil du Angst um mich hast?«
Evo blickte zu Celeste rüber, während sie nebeneinander die Straße entlangliefen.
»Angst? Nein, das nicht. Aber ich sorge mich natürlich trotzdem um dich. Die Geschichte vor drei Wochen will nicht aus meinem Kopf.«
»Evo, lass gut sein. Heute ist doch so ein schöner Tag und ich will keine schlechten Gefühle. Sonst fängst du keinen Fisch und ich vermassle das Interview. Also, wie geht es deinen Eltern? Und Bartolina?«
Celestes positive Einstellung fand Evo immer schon beeindruckend. Es gab eine Zeit, da war er von ihr nicht nur beeindruckt gewesen. Aber die Zeit war lange vorbei.
Sie hatte ihm damals klargemacht, dass sie keine Zeit für Liebeleien oder dergleichen hatte und dass er doch lieber mit der kleinen Bartolina aus der Nachbarstraße ausgehen sollte. Sie wäre in ihn regelrecht verschossen und auch in einem passenden Alter, um irgendwann seine Frau zu werden und ihm Kinder zu gebären. Nach langem Hin und Her war Evo ihrem Rat gefolgt.
Seitdem waren sie wieder nur sehr enge Freunde.
»Allen geht es gut, danke. Bartolina wird meiner Mutter immer ähnlicher. Das kann gut, aber auch schlecht sein. Wir werden sehen. Nun gehe ich aber erst einmal angeln. Und wie läuft dein Projekt am Fluss? Das ist schon das, worüber du mit dem Sender sprechen wirst, oder?«
»Ja, genau. Wir können bald damit beginnen, denke ich.
Evo, ich bin schon sehr aufgeregt. Wenn der Sender die Informationen landesweit ausstrahlt, ist das ein Sieg auf ganzer Linie. Ich werde berichten. Soll ich morgen mal zu euch kommen? Ich kann mein berühmtes Pique Macho mitbringen, was sagst du? Das magst du doch so gern.«
Was reden die denn hier? Pique Macho? Ich kenne nur Machu Picchu. Bartolina? Und was denn für ein Projekt?
Manuels Neugierde war geweckt. Als stiller und passiver Beobachter konnte er aber nichts weiter tun, als still und passiv zu beobachten. Er war positiv überrascht, dass Herr Gutermanns Spiel so gut angelaufen war.
»Das klingt fabelhaft, Celeste! Gegen Mittag würde es uns gut passen.«
Celeste nickte Evo zu.
Dann liefen sie die nächsten fünf Minuten wortlos nebeneinander her. An einer Stelle am Fluss, wo das Gras schon stark zertrampelt war, verabschiedeten sich die beiden und Evo begann sogleich, seinen Rucksack mit den Angelutensilien auszupacken. Celeste sah noch zwei Mal zu ihrem Freund zurück und lief dann schneller zum Haus am Hang.
Dort residierte Felipe, ein ehemaliger Lehrer von Celeste und Evo und mittlerweile Bürgermeister von Agua Huta. Er war im Großen und Ganzen eine gute Besetzung für das Dorfoberhaupt, auch wenn er sich gelegentlich den ein oder anderen Patzer erlaubte oder auch mal konträre Positionen zu Celeste vertrat. Direkt vor dem Haus des Bürgermeisters stand auch schon ein Kastenwagen des Fernsehsenders aus Santa Cruz. Celeste eilte zur offenen Haustür und trat ein. Im Salon fand sie den Bürgermeister, dessen Frau und das Kamerateam samt Reporter vor.
»Guten Tag in die Runde. Entschuldigt bitte, dass ich etwas spät bin. Ich bin vom Dorf hierhergelaufen und habe den Weg unterschätzt.«
» Celeste! Das ist kein Problem. Wir haben gerade erst begonnen, das Interview vorzubesprechen.«
Felipe winkte Celeste zu sich her.
»Das hier ist Luis Arroy, der Reporter. Herr Arroy, Celeste Mamani. Unser Star, unser Motor.«
»Guten Tag, Frau Mamani. Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wissen Sie, in Santa Cruz sind Sie ja schon recht bekannt. Dank Ihrer ganzen Initiativen.
Kontrovers, sicher. Aber auch erfolgreich, nicht wahr?«
»Guten Tag, Herr Arroy. Sie meinen das in Oruro? Das war wirklich genial, wenn ich das mal so sagen darf. Aber wir sprechen doch heute über das Proyeto Caluyo, oder?«
»Jaja, aber natürlich. Trotzdem ist es immer nett, zu Beginn des Interviews einen guten Aufhänger zu haben. Wenn Sie erlauben, würde ich Sie zu Beginn in einigen wenigen Sätzen vorstellen, etwas von Ihren vergangenen Aktionen erzählen und dann können wir zu Ihrem neuen Projekt sprechen. Der Herr Bürgermeister hat dem Ablauf schon zugestimmt, Sie doch hoffentlich auch?«
Celestes Augen wanderten zu Felipe rüber.
Sie kannte das Mediengeschäft wie keine Zweite.
Nachdem sie acht Jahre in Potosí für ein großes Bergbauunternehmen und zwei Politiker Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht hatte, kannte sie viele Tricks und Kniffe, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die man wollte oder brauchte. Inhaltlich hatte sie diese Arbeit aber nie befriedigt, weswegen sie irgendwann wieder bei ihrer Mutter angeklopft hatte. Im Gepäck hatte sie damals ausreichend Bargeld und viele Visionen für ihr Dorf.
Eine davon würde sie heute vorstellen.
»Ich nehme an, dass Sie zu Beginn auch ein paar Fotos von mir einblenden möchten, korrekt? Von meinen Aktionen? Nun, wenn der Herr Bürgermeister schon zugestimmt hat, stimme ich natürlich auch zu. Aber nehmen Sie Fotos, auf denen meine Brustwarzen nicht allzu sehr zu sehen sind.«
Luis Arroy und der Bürgermeister grinsten.
Brustwarzen? Fotos? Wo bin ich denn nun gelandet?
»Aber selbstverständlich, Frau Mamani. Wir nehmen nur schöne Fotos für die Berichterstattung. Wollen wir nun starten? Mit Maske und Lichttests können wir, denke ich, in einer knappen Stunde mit dem Interview beginnen.«
»So machen wir’s.«
50 Minuten später führten Celeste Mamani und Bürgermeister Felipe das Interview mit dem zweitwichtigsten Fernsehsender im Land.
»Frau Mamani, ich freue mich sehr, Sie und den Bürgermeister dieses wirklich schönen Dorfes interviewen zu dürfen. Sie sind keine Unbekannte im Land, trotzdem möchte ich Sie unseren Zuschauerinnen und Zuschauern gern vorstellen. Sie sind 39 Jahre alt und hier in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Sie haben an der Universidad Andina Simón Bolívar in Sucre studiert und mehrere Jahre in Potosí gelebt und gearbeitet. Unter anderem haben Sie auch für die Estaño-Gesellschaft für Zinnschmelze gearbeitet, ein, sagen wir mal, umstrittenes Unternehmen in der Region. Anfangs vertraten sie noch sehr wirtschaftsliberale Ansätze, beispielsweise haben Sie ...«
Celestes Laune hatte sich seit Beginn des Interviews zunehmend verschlechtert, daher nickte sie nur leicht und lächelte Luis Arroy an. Sie war davon ausgegangen, dass sie vor allem über ihr neues Projekt sprechen würden, das sanften Tourismus im Dorf und den angrenzenden Tälern ermöglichen sollte. Das Schutzgebiet, in dem sie lebte, war bedroht und darüber wollte sie sprechen.
Stattdessen sprach Arroy schon seit zehn Minuten über diesen alten Hut in Potosí. Sie wusste genau, worauf er mit seiner Einführung hinauswollte und hörte ihm deswegen nicht mehr richtig zu.
»Und dort haben Sie dann aus Protest gegen ein neu erlassenes Bergbaugesetz und die Umsiedlung von Anwohnern gekündigt und ...«
Aber Celeste war Profi.
Man merkte ihr keineswegs ihr Desinteresse an dieser oft erzählten Geschichte an. Sie nickte und grinste ihn an, warf ihre Haare immer mal wieder nach hinten und lachte an den passenden Stellen.
»... und sind dann vor das Abgeordnetenhaus gefahren, haben sich bis auf einen Slip ausgezogen und zwei Behälter voller Wasser vor die ... vor die Brüste gehalten. In einem Behälter war sauberes Trinkwasser, in dem anderen Wasser aus einem Absetzbecken aus der besagten Gegend. Die Bilder sind um die Welt gegangen und die Aufmerksamkeit hat letztendlich dazu geführt, dass das Gesetz zurückgenommen wurde. Ein voller Erfolg, wenn ich das mal so sagen darf.«
Der Reporter zog ein großes Foto aus der Tasche, das Celeste vor dem Abgeordnetenhaus mit den zwei Wasserbehältern zeigte. Natürlich hatte er das Bild genommen, auf dem ihre rechte Brustwarze sehr deutlich zu sehen war.
Er hielt es direkt in die Kamera und grinste sie dabei an.
»Ein nicht nur voller Erfolg, sondern auch ein wirklich schöner Erfolg, wenn ich das so sagen darf.«
Das sehe ich auch so. Wir können uns schon sehen lassen.
Celeste brodelte innerlich, das bekam auch Manuel mit.
Der Reporter war wie die meisten Männer im Land.
Brüste zählten oft mehr als Inhalte. Sie war kurz davor, ihm vor laufender Kamera eine Ohrfeige zu geben.
Doch sie wusste, was alles von einem positiv verlaufenden Interview abhing. Also behielt sie die Contenance und sprach noch einige einordnende Sätze zu diesem Ereignis.
Dann schaffte sie es sehr galant, das Thema zu wechseln und auf ihr neues Projekt zu sprechen zu kommen.
»Es heißt Proyeto Caluyo. Caluyo ist der alte Name des Flusses, der hier direkt unterhalb des Hauses vorbeifließt. Er ist ökologisch gesund und eine wichtige, ach was, die wichtigste Lebensader in der Gegend.
Aber nun kommt dieses Unternehmen aus der Stadt und will einen Damm bauen. Hören Sie, das soll kein kleiner Damm werden, sondern der drittgrößte im Land. Das ist nicht verhältnismäßig!«
Celeste fuchtelte wild mit den Armen und wurde lauter. Nun zog sie das Interview an sich.
»Die kleinen Seitentäler hier sollen geflutet werden und das heißt dann wohl auch, dass unser Dorf in den Fluten versinkt. Und wozu? Offiziell um Strom zu gewinnen. Aber der Strom soll exportiert werden. Haben wir denn nichts anderes zum Exportieren? Müssen wir dafür unsere Natur, unseren Lebensraum opfern? Ich will dieses zerstörerische Projekt stoppen. Und ich möchte unserer Wirtschaft etwas anderes anbieten. Wir sind ein armes Land, wir brauchen also Einnahmequellen. Nur keinen blöden Strom, herrje.«
Der Reporter beugte sich in einer dramatischen Geste zu Celeste vor und setzte ein interessiertes Gesicht auf.
»Und was schlagen Sie als alternative Einnahmequelle vor, Frau Mamani?«
Celeste warf ihre Haare nach hinten und grinste. Mit ihrem Zeigefinger machte sie eine bedeutungsschwere Geste und setzte dann an: »Tourismus. Genauer gesagt ökologischer Tourismus. Im Einklang mit Pachamama.«
Sie grinste gleich noch mehr.
»Sehen Sie, das ist doch für uns alle die Ideallösung: Unser Dorf wird nicht zerstört, unsere Natur wird nicht zerstört, unsere Kultur wird nicht zerstört. Es wird alles erhalten. Wir könnten unser traditionelles Kunsthandwerk aufblühen lassen. In Sucre und Santa Cruz kann man unsere Keramiken für viel Geld kaufen, wieso nicht hier direkt vom Erzeuger? Und wenn die ganzen Touristen aus dem Ausland hierherkommen, sehen sie, wie wunderschön es hier ist. Das ist doch ein perfektes Aushängeschild. Sogar für das gesamte Land. Und was den Bergbau angeht ... wir haben hier in den vergangenen Jahrhunderten zwei große Bergwerke gehabt. Da könnten wir manche Schächte wiederherstellen und begehbar machen und unsere Geschichte erzählen. Und über die Gefahren durch den Bergbau aufklären.«
Felipe war in diesem Interview zu einem Statisten geworden. Seitdem Celeste begonnen hatte, von Proyeto Caluyo zu erzählen, war die Kamera nur noch auf sie gerichtet.
Als sie aber auf die Gefahren des Bergbaus zu sprechen gekommen war, hatte sich Felipe geräuspert und dem Reporter ein Zeichen gegeben, dass er sich nun auch äußern wollte. Er nickte ihm zu, fokussierte sich aber sofort wieder auf Celeste.
»Gefahren des Bergbaus? Was meinen Sie damit? Dass Schächte manchmal einstürzen?«
Celeste formte ihre rechte Hand zu einer Faust und streckte dann wieder den Zeigefinger nach oben.
»Aber nein, nicht das. Ja, auch das vielleicht, das ist natürlich auch richtig. Aber ich meine damit die ganzen Umweltzerstörungen, die mit dem Bergbau zusammenhängen.
Schlamm, dreckiges, verschmutztes Wasser, viel zu hohe Mineralienansammlungen, Schutt, Dynamit und eben auch Staudämme.«
Felipe räusperte sich wieder, er wollte erneut ansetzen.
Manuel sah, dass der Bürgermeister seine Hand auf Celestes Unterarm gelegt hatte, um sich bemerkbar zu machen. Doch Celeste sprach weiter, ohne auf ihn zu achten:
»Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, dass die Presa Corporación hier nicht ihren verkackten Staudamm bauen wird! Sie haben schon genug Leid über die Menschen in Valle Rima und Santiago de Orina gebracht. Da sterben die Leute wie die Fliegen, weil Presa seinen Profit maximieren möchte!«
Der Reporter grinste. Genau diese Emotionen hatte er sich von dem Interview mit Celeste erhofft.
Dass Felipe bei ihrem Ausruf ganz erschrocken geschaut hatte, war niemandem, allerhöchstens dem Beleuchter und Manuel aufgefallen. Die Kamera war nun in Nahaufnahme auf Celeste gerichtet, die ein martialisches und siegreiches Gesicht aufsetzte. Mit zwei sich in die Länge ziehenden Sätzen brachte der Reporter schließlich das Interview zu einem Ende.
Er bedankte sich bei seinen zwei Gesprächspartnern Celeste und Felipe und erwähnte noch gegenüber seinem Millionenpublikum Thema und Gästeauswahl seiner kommenden Sendung.
Als das Licht ausging und die Sendermitarbeiter allmählich begannen, das ganze Equipment einzupacken, nahm Felipe Celeste zur Seite. Er war außer sich.
»Wieso hast du das gesagt? Wieso hast du das so gesagt?
Das war nicht gut. Es war abgemacht, dass du über das Projekt sprichst, aber niemanden anklagst oder angreifst.
Ich bin richtig sauer. So viel Aufmerksamkeit brauchen wir nun auch nicht.«
Felipe war sauer. Das hätte Celeste auch gemerkt, wenn er es ihr nicht gesagt hätte. Sie überlegte, ob sie etwas von dem, was sie gesagt hatte, bereute. Als sie das verneinen konnte, streichelte sie Felipe über die Schulter und setzte ein zuckersüßes Lächeln auf.
»Felipe, ärger dich nicht. Sei nicht böse. Ich habe das doch nur für unser Dorf gesagt. Du wirst schon sehen, wie schön das alles wird. Der Damm wird nun sicher nicht gebaut. Und du willst doch auch keine Zustände wie in Rima oder Santiago, oder?«
Felipe sah seine ehemalige Schülerin an. Sie war damals die Klassenbeste gewesen. Stolz, unabhängig, laut. Und dann hatte sie das Dorf zum Studieren verlassen. Er hatte damit gerechnet, sie subtil dazu auch ermuntert. Was hätte sie mit ihren Fähigkeiten im Dorf auch machen können?
So war sie fortgegangen und nur noch zwei Mal pro Jahr nach Agua Huta gekommen, um ihre alleinstehende Mutter zu besuchen. Er hatte sich sehr gefreut, als er Jahre später von ihrer permanenten Rückkehr ins Dorf gehört hatte.
Ein Jahr zuvor war er zum Bürgermeister gewählt worden, doch bestand sein ganzes Büro nur aus Jasagern und unfähigen Altlasten seines korrupten Vorgängers. Celeste hatte ihn seitdem oft beraten. Nicht in offizieller Funktion, sondern als Vertraute.
Sie hatte recht mit dem, was sie im Interview gesagt hatte. Wie so oft. Aber wenn sie sich in Rage redete, fielen manchmal Wörter, die er bereut hätte. Aber sie nicht. Sie war eine stolze, unabhängige, laute und mittlerweile auch erfolgreiche Frau. Er bewunderte das, er bewunderte sie.
»Ist in Ordnung, Celeste. Genug Aufmerksamkeit haben wir nun, soviel ist klar. Ich muss nun hinüber ins Dorf, soll ich dich mitnehmen?«
Celeste winkte ab.
»Nein, danke. Ich laufe wieder am Fluss zurück und schaue mal, was Evo so alles gefangen hat.«
»Ist gut, dann sehen wir uns heute Abend auf der Versammlung? 19 Uhr?«
Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, griff Felipe zu seinem Sakko und umarmte Celeste noch schnell zur Verabschiedung. Dann lief er zu seiner Frau, die die ganze Zeit an der Wand beim Kamin gestanden hatte, gab ihr einen Kuss und ging in Richtung Ausgang.
»Ich werde da sein. Bis dann, Felipe.«
Celeste verabschiedete sich mit großen Umarmungen von Felipes Frau und verließ auch umgehend das Haus.
Sie wollte sofort zu Evo und ihrer Mutter und den beiden vom Interview berichten. Sie lief die Schotterstraße zum Flussufer hinunter und bog dann rechts ab. Im Gehen malte sie sich schon die neue Realität aus.
An diesem Flussarm würden vier Häuser hinpassen, ohne die Landschaft zu zerstören. Am anderen Arm wäre sogar Platz für sechs Unterkünfte. Und auf der Insel dazwischen würde das Casa Artesanal, das Zentrum mit dem ganzen Kunsthandwerk stehen, in dem vier oder fünf Einheimische Arbeit finden könnten.
Manuel gefiel die Idee, die Celeste vor ihren Augen zeichnete. Er hatte bislang nur über Ökotourismus gelesen, dafür gezahlt hätte er ungern. Celestes Vorstellungskraft hatte ihn schnell von ihrem Vorhaben überzeugt. Er konnte sich die Realisierung gut vorstellen, mit der unberührten Natur, der guten Luft und dem kleinen touristischen Angebot.
Er begriff die Sinnhaftigkeit des Projekts. Und mit diesem Bild vor Augen umkam ihn ein Gefühl der Zufriedenheit.
Celeste lief weiter am Fluss entlang und bestaunte die kleinen Stromschnellen. Sie würden verschwinden, wenn der Damm gebaut werden würde. Und nicht nur sie würden verschwinden.
Von Weitem sah sie schon Evo mit seiner Angel. Er unterhielt sich gerade aufgeregt mit zwei Personen. Dann machten sie kehrt und gingen in Richtung Dorf.
Als Celeste schließlich Evo erreicht hatte, waren die beiden nicht mehr zu sehen.
»Hallo, Evo. Mit wem hast du dich denn da unterhalten?«
»Hallo, Celeste. Die beiden? Ach, das waren ...«
In dem Moment begann sich die Angel zu biegen.
Evo sprang zu ihr, um sie festzuhalten.
»Siehst du, Celeste, wie sie sich biegt? Das ist ein richtiger Brummer, den ich da gefangen habe!«
Celeste lachte.
»Du hast ihn doch noch gar nicht gefangen. Sieh zu, dass du ihn schnell rausziehst und totmachst. Ich will nicht, dass er lange leiden muss.«
Sie ging ihrem Freund zur Hand. Gemeinsam schafften sie es, den Fisch aus dem Fluss zu ziehen.
Evo zog ihm ein Holzknüppel über den Kopf und legte ihn in eine kleine Box. Dann umarmten sich beide vor Freude und lachten dabei. Celeste war mit ihrem Interview zufrieden, Evo mit seinem Fang. Manuel wusste nicht, wie er die ganzen Eindrücke verarbeiten sollte.
Diese pure Freude, unglaublich.
Er musste sich erst einmal hinsetzen.
»Kommst du heute Abend auch zur Versammlung? Dann berichten Felipe und ich über das Interview. Soviel kann ich schon vorwegsagen: Es lief großartig.«
»Nein, heute Abend will ich mit den Jungs Fußball spielen. Ich bin hier sowieso fertig. Wollen wir nicht zusammen zurückgehen und du erzählst mir davon?«
Celeste gefiel der Vorschlag.
Keine zehn Minuten später hatte sie ihm alles berichtet. Groß geschockt von ihren Aussagen war Evo aber nicht, er kannte Celeste nun schon fast sein ganzes Leben.
An der großen Kreuzung beim Dorfeingang trennten sich schließlich ihre Wege. Allerdings nicht für lange.
Gleich morgen wollten sie gemeinsam überlegen, welche Rolle Evo bei Proyeto Caluyo spielen könnte. Er war nicht nur Familienvater und ein passabler Angler, er kannte auch viele Geschichten und Sagen über das Tal. Vielleicht hätten Touristen Interesse daran, mehr darüber zu erfahren?
Celeste schritt zur Stelle, an der sich die beiden Flussarme vereinten und blickte zufrieden ins Tal. Ihm stand eine verheißungsvolle Zukunft bevor. So wie ihr selbst.
Auch Manuel war beschwingt. Die Landschaft, die Natur, das Rauschen am Fluss, das alles gefiel ihm sehr gut.
Er war gespannt, was nun als nächstes kommen würde. Wie die Versammlung am Abend laufen würde. Und auch, wie es nun mit dem Ökotourismus im Dorf weitergehen würde.
Doch das alles erfuhr er nicht mehr.
Aus einem der alten Stollen am Talschluss schoss auf einmal schwarzer Nebel. Celeste schien das nicht zu bemerken, obwohl sie direkt in Richtung Stollen blickte.
Brennt es im Berg? Celeste, siehst du nicht den Rauch?
Binnen Sekunden war das ganze Tal verhüllt und Manuels Kopf wurde schwer.
Als er wieder aufwachte, war er nicht in Bolivien auf 3800 Metern Höhe.
Er war auch nicht in seiner Wohnung in der Nähe der windgepeitschten Klippen.
Er war in Herr Gutermanns Wohnzimmer und saß auf einer der beiden Parkbänke.
Ihm gegenüber saß der Spielemacher und grinste ihn an.
»Na du? Wie geht’s dir? Wie war es, erzähl mir alles.«
Manuels Laune verschlechterte sich sofort.
Er hatte im Laufe des Tages völlig vergessen, dass er nicht Celeste war. Und dass er auch nicht in Bolivien lebte.
Er hatte völlig verdrängt, dass er sich in einem Spiel mit Herrn Gutermann befand.
»Oh man, das kann doch nicht wahr sein. Das war gerade so schön und nun bin ich wieder hier, in diesem ... was auch immer es ist.«
»Na na, also das ist mein Wohnzimmer, das weißt du doch. Und ich mache nicht die Zeit, dafür gibt es andere.
Wenn du willst, dass der Tag 29 Stunden hat, wende dich direkt an sie. Aber erzähl mal, wie war’s? Auch wenn du jetzt schon wieder am Meckern bist, machst du mir einen recht zufriedenen Eindruck?«
Manuel grinste.
»Ja, du hast recht. Es war super. Diese Celeste ist richtig klasse. Ich habe mich als ich, also als Manuel, noch nie so stark gefühlt. Das hat überall gekribbelt.
Und dann diese herrliche Natur. Und diese Sinnhaftigkeit.
Sie will in ihrer Region Ökotourismus betreiben, weißt du? Ich find’s klasse.
Die Gebete an diese Pachamama fand ich etwas schräg, aber das würde ich in Kauf nehmen. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass wir gleich heute ein neues Leben für mich gefunden haben. Sie ist auch genauso alt wie ich. Und Mann oder Frau ist mir eigentlich egal.«
»Jaja, diese Infos kenne ich alle. Ich habe doch ihr Buch in meinem Regal stehen. Aber für mich spannend ist das, was du über dich gesagt hast. Ein Kribbeln, ja? Du hast dich stark gefühlt. Interessant.«
Nun grinsten sich beide an.
»Ja genau. Und ich finde es super, dass sie so viel Zuspruch für ihre Arbeit bekommt. Wenn ich daheim ein Projekt erfolgreich zu Ende bringe, dankt mir kaum jemand.
Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich auf der Arbeit unbeliebt bin, aber so richtig gesehen werde ich auch nicht.
So ein bisschen Ruhm und Ehre könnten mir nicht schaden. Ich bin echt überrascht, wie einfach dieses Spiel ist, gleich am ersten Tag jemanden gefunden. Sehr effizient, ich muss schon sagen. Ein guter Traum, obwohl ich anfangs eher einen Albtraum erwartet hatte.«
Manuel malte sich schon aus, wie er von Herrn Gutermann zurück in die Anden gebracht würde. Wie er zusammen mit Felipe der versammelten Dorfgemeinschaft von Proyeto Caluyo erzählen würde. Und wie er mit Evo das Projekt dann auch umsetzen würde.
Herr Gutermanns Mund zog sich nach unten.
»Nein, ich halte das für keine gute Idee. Du solltest nicht in Celestes Körper schlüpfen.«
Manuels Gesicht versteinerte. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit einem Baseballschläger direkt ins Gesicht geschlagen.
»Was? Aber wieso denn nicht? Wieso sagst du das?«
»Nun, zunächst einmal ist das hier kein Traum. Es ist lustig, dass du das noch nicht begriffen hast, aber nun wäre ein guter Zeitpunkt, das nachzuholen. Du schläfst nicht, du bist hier bei mir, in Fleisch und Blut. Also erwarte ich auch eine gewisse Ernsthaftigkeit in der Sache.«
Herr Gutermann beugte sich zu Manuel vor und kniff ihm fest in den Oberarm.
»Aua, bist du bescheuert?«
Herr Gutermann warf Manuel einen verächtlichen Blick zu.
»Na na, nicht ausfällig werden. Sonst muss ich andere Saiten aufziehen. Der Kniff sollte dir bewusst machen, dass du in keinem Traum steckst. Sonst wärst du schon längst aufgewacht. Können wir jetzt fortfahren?«
Manuel strich über den schmerzenden Oberarm und nickte Herrn Gutermann zu. Er glaubte immer noch nicht daran, in keinem Traum zu stecken, allerdings wollte er weder erneut so fest gekniffen werden noch Herrn Gutermanns andere Saiten kennenlernen.
»Wunderbar, also zurück zu Celeste! Pachamama fände das ganz und gar nicht lustig, wenn ich ihr jemanden schicke, der sie komisch findet. Sie kann recht nachtragend sein und am Ende muss ich zu Kreuze kriechen. Du weißt, ich hab’s nicht so mit Religionen, aber mit Freunden will ich es mir definitiv nicht verscherzen. Aber abgesehen davon: Du weißt, dass ich ihr Buch habe. Und wenn ich nun Seite 191 aufschlage, warte kurz ... wenn ich die Seite aufschlage, ist bei ihr nun ungefähr vier Uhr nachts. Celeste ist erst vor zwei Stunden nach Hause gekommen und hat sich schlafen gelegt. Die Versammlung war ein voller Erfolg. Und nun schlummert sie so vor sich her und träumt von diesem Projekt am Fluss. Aber schau, um 4:10 Uhr wird das Fenster im Bad geöffnet. Von außen. Und um 4:17 Uhr ist Celeste tot. Schau, sie wurde gerade erschossen. Von zwei Fremden, die erst gestern früh ins Dorf gekommen sind und nun wieder unbemerkt abreisen. Eine Kugel in den Kopf, eine in den Hals. Die erste hätte auch gereicht, aber was soll’s.«
Manuel war geschockt.
»Was ... Celeste ist tot? Ich, ich meine sie wurde umgebracht? Aber von wem? Wieso? Und wieso hast du das nicht verhindert?«
»Verhindert? Wieso sollte ich das verhindern, wenn ich es könnte? Das ist doch mein Geschäft. Unter anderem natürlich, ich bin ja sehr vielseitig und tanze auf verschiedenen Hochzeiten. Mein Lieber, das Schicksal kann niemand ändern, nicht einmal ich. Myrrdin hat das einmal versucht und sich dabei ordentlich die Finger verbrannt.
Kennst du eine Firma namens Presa? Naja, nicht so wichtig. Celeste ist also raus. Dann müssen wir dir für morgen wohl doch jemand anderen suchen, nicht wahr?«
Manuel schüttelte heftig mit dem Kopf. Seine Freude von eben wich purer Fassungslosigkeit.
»Ich versteh’s nicht: Wieso schickst du mich in den Körper einer Person, die sowieso am nächsten Tag umgebracht wird? Was macht das für einen Sinn?«
Herr Gutermanns Miene änderte sich sofort. Seine Augen rollten von links nach rechts, während er seine Hände in die Hüften stemmte.
»Herrje, du bist schwierig. Schau doch mal, wie glücklich Celeste war. Wie euphorisch. Du hast doch selbst von diesem Kribbeln in deinem Körper gesprochen. Sie wusste nichts von ihrem Unglück und ihr ging es gut. Sie hat sogar von ihrem Projekt geträumt, als sie erschossen wurde. Was Besseres kann einem doch gar nicht passieren. Also was Besseres, wenn man sowieso auf der Abschussliste steht. Das ist doch der beste Tod, wenn man sofort vom Fahrrad fällt oder einfach so umkippt und nichts mehr mitbekommt. Nicht mehr leiden muss. Glaub mir, dein Tod an der Klippe hätte sich definitiv länger hingezogen als die zwei Kugeln in Celestes Körper. Und mal abgesehen davon: Auch wenn sie weitergelebt hätte, wäre sie nicht die Richtige für dich gewesen. Du hast nur von den schönen Aspekten gesprochen. Die Natur, die Menschen. Fehlt nur noch, dass du ihre ordentlichen Titten angesprochen hättest.
Aber du hast kein Wort über die Strapazen und Mühen verloren, die Celeste auf ihrem Weg auf sich genommen hat. Du hast nicht verstanden, was Celeste alles in Bewegung setzen musste. Und welche Opfer sie bringen musste. Sie und ihre Mutter. Du hast dich gar nicht richtig mit ihr als Mensch auseinandergesetzt, sondern nur darauf geachtet, was für dich rausspringt.«
Herr Gutermann klappte Celestes Buch zu, legte es auf einen Baumstumpf neben der Parkbank und stand auf.
»Aber das kann ich noch sagen: Ihr Tod war nicht umsonst. Der schafft so viel Aufruhr, dass der Staudamm auf keinen Fall gebaut wird. Der Vorteil im Nachteil, nicht wahr? Willst du mit in die Bibliothek? Wir können es auch so machen, dass du auf ein Buch zeigst und wir nehmen das dann mit? Wäre doch lustig.«
Manuel war sauer. Weil ihm die Aussicht auf Celestes Leben genommen wurde. Und weil er von Herrn Gutermann so getadelt wurde. Natürlich hatte er darauf geachtet, was für ihn dabei rausspringt. Es ging doch auch nur um ihn. Oder nicht?
»Nein, such du raus. Du weißt wahrscheinlich eh besser, wer gut für mich ist.«
»Schon recht. Ich muss später mal Frau Holle anrufen und sie korrigieren: Nicht ich, sondern du bist der Griesgram. Dann kann sie sich einen neuen Spitznamen für mich ausdenken. Warte kurz, ich bin gleich wieder zurück. Ich setze dann auch schon mal Teewasser auf, was meinst du?«
Manuel zuckte mit den Schultern.
Was soll ich denn auch sonst sagen? Ich darf diesen Ort hier nicht verlassen, ich muss eine zweite Person kennenlernen und ich muss diesen Tee trinken. Ich habe doch eh keine Wahl. Außer natürlich, aufzuwachen. Aber das will mir irgendwie auch nicht gelingen. In den Arm zwicken hat ja auch nicht funktioniert.
Manuel lehnte sich zurück und dachte nach.
Herr Gutermann hatte irgendwo schon recht: Ich habe mich nicht wirklich mit ihr und ihrer Vorgeschichte befasst. Was für Opfer haben sie und ihre Mutter wohl gebracht?
Seine Gedanken wanderten zu seinen Eltern. Er fragte sich, was sie wohl gerade machten. Ob sie auch eingefroren waren, so wie er? Celeste war bei ihrer Mutter wieder eingezogen. Das konnte er sich bei bestem Willen nicht mit seinen Eltern vorstellen. Sie waren gute Eltern gewesen. Nein, sie waren immer noch gute Eltern. Immer auf sein Wohl bedacht. Immer ein wenig zu viel darauf bedacht. Und er war immer ein wenig zu wenig auf ihr Wohl bedacht. Er überlegte, wann er sie zuletzt angerufen hatte.
Eine Antwort darauf fiel ihm spontan nicht ein.
Sieben Minuten später kam Herr Gutermann mit einem Buch zurück. Es war braun und unscheinbar. Aber es war dicker als Celestes Buch.
»Da schau, das ist Sabines Buch. Ja, ich weiß, wieder eine Frau. Aber das war dir ja egal, nicht wahr? Sabine ist ein bisschen älter als unsere kleine Bolivianerin. Man könnte aber auch sagen, dass sie Celeste schon mal um neun Jahre überlebt hat. Alles Ansichtssache.
Also, Sabine lebt in Frankfurt am Main, ist gelernte Einzelhandelskauffrau, blond, etwas pummelig vielleicht. Ach so, sie ist seit neun Jahren obdachlos und immer mal wieder drogenabhängig. Aber sie ist eine ganz liebe Person, jeder im Bahnhofsviertel dort mag sie. Okay, fast jeder. Aber das liegt nicht an ihr.«
Manuel sprang von der Parkbank auf.
»Was? Eine drogenabhängige Obdachlose?
Was soll das denn nun? Willst du mich verarschen?
Da kann ich dir gleich sagen, dass ich nicht in diese Person schlüpfen möchte. Nie und nimmer mach ich das.«
Herr Gutermann grinste.
»Na, du hast aber Vorurteile. Alkohol ja, Zigarren ja, Heroin nein? Diese komischen roten Linien, die ihr zieht.
Etwas bigott, meinst du nicht auch? So wie bei der Kirche: Frauen? Können die Kirche putzen. Können dort auch gerne etwas anderes wienern. Homosexuelle? Ab auf den Scheiterhaufen. Aber Pädophile? Die schützt die Kirche und macht sie zum Kardinal oder Erzengelbischofblablabla. Ihr Menschen seid verrückt.«
Damit hatte Herr Gutermann recht, das musste Manuel ihm zugestehen. Obwohl er Heroin und die Flasche Bier, die er sich öfter am Abend genehmigte, nicht unbedingt in einen Topf schmeißen wollte.
»Also, zurück zu Sabine. Die nehmen wir. Auf, sag schon zu! Du hast eh keine Wahl. Aber ich brauche trotzdem deine Zustimmung.«
Manuels Blick verfinsterte sich.
Er verschränkte seine Arme und neigte sich so weit nach hinten, bis er an der Rückenlehne anstieß. Dann biss er sich immer wieder auf die Unterlippe, kaute darauf regelrecht rum.
Du kannst nichts machen, Manuel. Ich weiß.
Er entspannte seinen Oberkörper und schnaufte aus.
»Das dachte ich mir schon, dass ich keine Wahl habe. Ich find’s echt doof. Und ich weiß auch nicht, wieso ich das machen muss. Ich bin doch schon genug gestraft. Aber gut, muss ich noch etwas wissen?«
»Natürlich! Klasse, dass du fragst. Du erwischst Sabine in einem guten Zustand, sie ist gerade clean. Und was so deine Vorurteile angeht: Sie war früher richtig bürgerlich, fast schon bieder. Ich sehe da gewisse Ähnlichkeiten zu dir.
Sie hat zwar schon immer gern getrunken, aber nach der zweiten Fehlgeburt ist sie einfach abgestürzt. Erst war der Freund weg, dann der Job, dann die Wohnung. Zack, alles innerhalb von einem halben Jahr. So schnell kann’s gehen, nicht wahr? Mehr musst du erst einmal nicht wissen.
Aber bitte tu mir den Gefallen und setz dich mit ihr auseinander. Hör auf ihre Gedanken, sieh durch ihre Augen, riech mit ihrer Nase. Nicht nur Fokus auf dich, in Ordnung? Lass dir den Tee schmecken, wir sehen uns.«
Manuel schnaufte aus, hob die Tasse hoch und trank einen ersten Schluck daraus. Der Inhalt schmeckte anders als gestern. Herber, intensiver. Mit einem leichten Raucharoma. Er musste husten, verzog sein Gesicht und setzte erneut an.
Nach dem zweiten Schluck war er eingeschlafen.
Die Tasse fiel auf den Boden, zersplitterte aber nicht.
Herr Gutermann hob sie auf und lief mit ihr grinsend und eine Melodie summend in seine Küche.