Читать книгу Atlan 547: Deccon gegen Deccon - Falk-Ingo Klee - Страница 4
1.
ОглавлениеGelächter und laute Musik erfüllten den Raum, die Stimmung war ausgelassen. Man feierte. Dass dabei auch geistigen Getränken tüchtig zugesprochen wurde, sah man nicht nur an den geleerten Flaschen, sondern auch an den geröteten Gesichtern.
Über hundert Personen hatten sich zusammengefunden. Die Mehrzahl waren Buhrlos, die zweitstärkste Gruppe bildeten die normalen Solaner; auch einige Bordmutanten sowie Extras waren anwesend. Mangels ausreichender Sitzgelegenheiten hockten sie bunt durcheinander, manche mussten sich mit einer auf den Boden gelegten Matte begnügen, doch das tat der guten Laune keinen Abbruch.
Das Gros der Versammelten plauderte über Gott und die Welt, nur wenige Gruppen diskutierten ernsthaft die anstehenden Probleme. Der genossene Alkohol ließ die Unterhaltung verflachen.
»Dass du dieses Zeug aufgetrieben hast, ist großartig, Helzut, wirklich großartig.« Man merkte dem schlanken Mann mit der rötlich schimmernden, glasartigen Haut an, dass er nicht mehr ganz nüchtern war. »Wirklich großartig.«
Er füllte seinen Becher nach, trank einen Schluck und rülpste ungeniert.
»Verzeihung, Helzut, das ist mir so rausgerutscht.« Sein linker Zeigefinger fuhr kreisend durch die Luft. »Aber weißt du, was ich noch großartiger finde? Nein, das weißt du nicht, aber ich weiß es. Willst du wissen, was es ist?«
Sein Gegenüber wackelte mit dem Kopf.
»Dass du das Zeug überhaupt rausgerückt hast. Bist ein prima Kerl, Helzut, wirklich.« Nangt ten Syl machte eine umfassende Handbewegung. »Sind überhaupt alles prima Kerle hier, meinst du nicht?«
»Nur prima Kerle«, bestätigte Helzut Olfen mit schwerer Zunge. »Sogar der High Sideryt.«
»So ist es.« Ten Syl nickte, doch dann stutzte er. »Du, der ist doch gar nicht hier.«
»Stimmt«, brabbelte Olfen. »Wir hätten ihn einladen sollen.«
»Aber trinken können wir trotzdem auf ihn. Der High Sideryt soll leben!«
»Er soll leben!«
Die beiden prosteten sich zu und leerten ihre Gläser.
»An uns denkt ihr wohl überhaupt nicht«, protestierte eine junge Buhrlo-Frau, die neben Nangt saß.
»Natürlich denke ich an dich, mein Liebling. Pausenlos.«
Mit einer unsicheren Bewegung, die deutlich den genossenen Alkohol verriet, legte er dem Mädchen den Arm um die Schultern und gab ihr einen schmatzenden Kuss.
»So, und jetzt trinken wir auf dich und die Frauen.« Der Gläserne hielt Olfen sein Trinkgefäß hin. »Nachfüllen, Helzut, auch bei Viola.«
Der schmächtige Solaner kam der Aufforderung nach und bediente auch sich selbst. Er lachte, als er etwas von der bernsteingelben Flüssigkeit verschüttete und auf seine Hose goss.
»Auf Viola und die Frauen!«
»Auf Viola und die Frauen!«
Die drei kannten Schnaps und seine Wirkung nicht. Wie Wasser stürzten sie das hochprozentige Getränk hinunter.
»Puh«, machte Olfen. Er versuchte, den Buhrlo zu fixieren und kniff die Augen zusammen. »He, Nangt, was ist mit dir los? Warum bist du auf einmal doppelt da? Warum drehst du dich?« Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr er sich durch das kupferrote Haar. »Was ist mit der SOL los? Sie dreht sich auch!«
Unsicher sah sich der Gläserne um.
»Was redest du denn da, Helzut? Alles ist normal.« Er lachte; allmählich benebelte sich auch sein Gehirn. »Nicht ganz normal, mehr ein bisschen verschwommen, aber ich finde es lustig.«
»Und ich sage dir, die Rumpf-SOL dreht sich«, gab der Solaner stockend zurück. »Mir wird ganz übel davon. Rufe in der Zentrale an, Nangt, und sage ihnen, sie sollen damit aufhören.«
Er riss die Augen weit auf und stierte blicklos vor sich hin.
»Sage ... es ...« Olfen schloss die Augen, sein Kopf fiel zur Seite.
»Was hat er bloß?«, erkundigte sich ten Syl bei seiner Gefährtin. Die zuckte die Schultern.
Unbeholfen stand der Buhrlo auf und beugte sich über den anderen. Man merkte ihm an, dass er Mühe hatte, seine Bewegungen zu koordinieren. Ziemlich heftig »tätschelte« er Helzut die Wangen. Ein Schnarcher war die einzige Reaktion.
»Der Kerl ist einfach eingeschlafen«, sagte er ziemlich empört, doch dann kicherte er. »Na, ja, auch gut, dann kann er uns nichts mehr wegtrinken.« Wie ein nasser Sack ließ er sich in den Sitz zurückfallen. »Komm, wir nehmen noch einen Schluck.«
»Nein, ich möchte nicht mehr, Nangt. Mir ist ganz komisch.«
»Dann werde ich mit Bora anstoßen. Sie hat es verdient, dass man auf sie trinkt.« Ten Syl grabschte nach der viertelvollen Flasche und erhob sich schwankend. »Warte hier auf mich, Schätzchen, ich bin bald zurück.«
Unsicher bahnte er sich einen Weg durch die Menge zu Bora St. Felix. Die Sprecherin der Buhrlos hob sich deutlich von den anderen Gläsernen in ihrer Umgebung ab, denn ihre Haut hatte nicht die rötlich schimmernde Transparenz, die üblich war, sondern den dunklen Farbton wie die Solaner negroider Abstammung.
Als der Mann sich ihr näherte, blickte sie auf und lächelte.
»Hallo, Nangt.«
»Hallo, Bora.« Der Buhrlo schwenkte die Flasche. »Ich möchte einen Schluck mit dir trinken, denn schließlich haben wir es deinem Engagement zu verdanken, dass alles wieder in Ordnung kommt.«
»Bitte keine Beweihräucherung, Nangt. Es ist einzig und allein der Entschluss des High Sideryt. Es ist denkbar und sogar wahrscheinlich, dass wir den Anstoß gegeben haben, aber mir als Einzelperson wäre das wohl nicht gelungen«, sagte sie ernst. »Es war unser Zusammenhalt, der den Ausschlag gab.«
»Es ist mir egal, wie du das nennst, jedenfalls warst du diejenige, die unsere Forderungen vorgetragen hat. Niemand ist dazu besser geeignet, und deshalb ist es dein Erfolg.« Er hickste. »Ist es gestattet, an deiner Seite Platz zu nehmen?«
»Natürlich.«
Die Frau rutschte ein wenig zur Seite und deutete einladend neben sich.
»Danke!«
Umständlich setzte sich der Mann, dabei hatte er Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten und nicht auf Bora St. Felix zu fallen.
»Bei allen Raumgeistern – das Zeug geht einem ganz schön in die Beine.« Schwerfällig setzte er das Glas und eine Flasche ab. »Geht es dir auch so?«
»Ich glaube, einen kleinen Schwips habe ich auch, aber wenn ich mir die Flasche ansehe, scheinst du einiges mehr intus zu haben.«
»Hoho, Bora, jetzt verkennst du mich«, sagte er, wobei er sich Mühe gab, seine widerspenstige Zunge zu bändigen. »Was in diesem Behälter fehlt, haben wir redlich durch drei geteilt.«
»Dann will ich nichts gesagt haben.«
»Kannst du ruhig.« Er lachte und versetzte ihr einen freundschaftlichen Stoß in die Seite. »Du kennst nämlich nur die halbe Wahrheit. Vorher musste nämlich schon ein kleiner Krug dran glauben.« Er wieherte vor Vergnügen. »Wie findest du das?«
Die überschlanke, fast dürr wirkende Fünfzigjährige, Mutter von zwei Jungen, ließ sich von der Heiterkeit anstecken; sie lachte ebenfalls. In der letzten Zeit hatte es wenig zu lachen gegeben, um so befreiter konnten sie es nun tun.
»Lass uns miteinander anstoßen, Bora«, bat Nangt ten Syl.
»Gern. Hast du einen Tropfen für mich übrig?«
»Tropfen?«, entrüstete sich der Gläserne. »Wir teilen natürlich. Gib mir dein Glas!«
Die Frau hielt ihm ihren Becher hin. Er goss ihn randvoll und schüttete den Rest Schnaps in sein eigenes Gefäß. Dabei sah man deutlich, welche Mühe es ihm bereitete, die Flasche so zu halten, dass ihr Inhalt auch wirklich in die Gläser floss.
»Auf dein Wohl, Bora!«
»Auf die SOL und alles, was wir lieben!«
Während der Buhrlo einen ordentlichen Schluck nahm, nippte sie nur an ihrem Becher.
»Und jetzt solltest du allen noch einmal vorspielen, was der High Sideryt gesagt hat!«
Bevor die Frau ihn zurückhalten konnte, war er aufgestanden, schwenkte die Arme und rief:
»He, Freunde, gebt mal kurz Ruhe!«
Tatsächlich wurde die Geräuschkulisse schwächer. Jemand stellte die Musik leiser.
»Wisst ihr noch, was der High Sideryt gesagt hat?«
Ein vielstimmiges »Ja!«, war die Antwort.
»Wollt ihr es noch einmal hören?«
Die Zustimmung aus Dutzenden von Kehlen schwoll zu einem regelrechten Orkan an, dazwischen ertönten sporadisch Rufe, die Bora St. Felix hochleben ließen. Sie, die sich durch ziemliche Redegewandtheit auszeichnete, blieb diesmal eine Erwiderung schuldig; dass soviel Aufhebens um ihre Person gemacht wurde, machte sie regelrecht verlegen. Der Buhrlo strahlte.
»Es ist dein Applaus, Bora. Willst du dich nicht erheben?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Aber die Aufzeichnung, die du mitgeschnitten hast, fährst du doch noch einmal ab?«
»Nach deiner Ankündigung wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben«, seufzte sie und nahm das von einem Energieblock angetriebene Gerät in Betrieb.
»Jetzt hört genau zu!«
Es wurde so still im Raum, dass man die berühmte Stecknadel fallen hören konnte. Ten Syl erhob sein Glas.
»Auf Bora, die SOL, den High Sideryt und alles, was wir lieben!«
Die Menge nahm den Trinkspruch begeistert auf. Der Gläserne nickte zufrieden, dann ließ er sich einfach auf den Sitz plumpsen; er hatte auf einmal das Gefühl, dass seine Beine ihm den Dienst versagten.
Halb belustigt, halb ärgerlich blickte die Buhrlo-Frau ihn an.
»Warum hast du das gemacht?«
»Ehre, wem Ehre gebührt.« Der Gläserne machte eine theatralische Handbewegung. »Es war dein Beifall, liebe Bora.«
Bora St. Felix wollte noch etwas erwidern, doch bevor sie dazu kam, erfüllte eine grollende Stimme die Halle.
»Hier spricht der High Sideryt. Ich möchte eine Erklärung abgeben, die euch alle betrifft. Wichtigster Punkt: die SOL muss wieder vereinigt werden.«
Begeisterung kam auf. Wahrscheinlich hatte der Sprecher die Reaktion auf seine Worte richtig abgeschätzt, denn er machte eine Pause, bevor er fortfuhr:
»Man hat mir in der Vergangenheit, insbesondere was die letzten Wochen betrifft, oft Entschlusslosigkeit vorgeworfen, doch ich glaube, dass meine Kritiker von den Ereignissen eines Besseren belehrt wurden. Ich denke dabei nicht nur an diese Robotstation, die es darauf angelegt hatte, unsere Heimat zu vernichten, sondern auch an die zehn Kopien von mir, die das Chaos über die Teil-SOL bringen wollten. Es ist nicht gelungen.«
Die Menge applaudierte begeistert.
»Dass ich mit derartigen Problemen nicht an die Öffentlichkeit treten konnte und wollte, dürfte verständlich sein. Es ist eine meiner vordringlichsten Aufgaben, Schaden abzuwenden und die SOL als unser aller Heimat zu erhalten, nicht aber, die Bevölkerung unnötig zu ängstigen oder durch öffentlich verkündete Teilerkenntnisse in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich bin für Information, aber nicht für die Verbreitung von Halbwahrheiten und Gerüchten – es muss Verantwortung dahinterstecken.«
Irgendwer rief »Bravo!«, einige andere fielen ein.
»Nun, wo innere und äußere Schwierigkeiten bewältigt sind, wird es mein vordringlichstes Anliegen sein, die Rumpf-SOL so schnell wie möglich wieder mit der SZ-2 zu vereinen. Ich glaube, ich spreche für euch alle, wenn ich sage, dass ich mich erst dann wieder wohl fühle, wenn die SOL komplett ist. Gewiss, was wir sehen und um uns haben, ist auch die SOL, doch sie ist nur ein unsymmetrisches Teil, es fehlt einfach etwas – nicht nur ihr, sondern auch mir. Ich weiß, dass ihr genauso empfindet, deshalb verspreche ich euch, alles in meiner Macht stehende zu tun, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.«
Wieder kam Beifall auf.
»Natürlich kann unser Unbehagen über den derzeitigen Zustand nicht Selbstzweck sein. Tausende der Unsrigen befinden sich an Bord – auch Atlan. Wir müssen ihm und den anderen einfach zu Hilfe eilen, das ist unsere Pflicht. Seit etwa zwei Monaten haben wir keinen Kontakt zur SZ-2. Ich weiß nicht, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hat, doch wir werden das klären. Wer auch immer versucht, eine Teileinheit zu bedrängen, wird es mit der ganzen SOL zu tun bekommen.«
Niemand wusste, dass der falsche High Sideryt zu ihnen sprach, und niemandem ging auf, dass eine Politik der Stärke propagiert wurde, die den Realitäten nicht entsprach. Der Angriff der Ysteronen-Station hatte das deutlich gemacht. Eher beiläufig ging der Hüne darauf ein.
»Es hat sich gezeigt, dass unsere derzeitige Position nicht ungefährlich ist. Wenn wir diesen Standort verlassen und der SZ-2 folgen, hat das gute Gründe, erfüllt aber auch gleichzeitig noch den Zweck, die Rumpf-SOL einer denkbaren weiteren Auseinandersetzung zu entziehen. Mein Bestreben und oberster Leitsatz ist es, dass die SOL wieder zu einer Einheit wird. Unsere Heimat muss wieder symmetrisch werden!«
Das Aufzeichnungsgerät schaltete ab. Das feine Klicken ging im allgemeinen Jubel unter. Begeistert wurde die Entschlossenheit des High Sideryt gefeiert. Zumindest vorerst hatte er der Teil-SOL wieder eine Zukunft, ein Ziel gegeben – die Vereinigung mit der abgekoppelten Kugel.
»Ich nehme alles zurück, was ich in der letzten Zeit Negatives über den High Sideryt gesagt habe«, brabbelte Nangt ten Syl. Er kniff die Augen zusammen. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Zwillingsschwester hast, Bora.«
»Ich habe auch keine. Was redest du denn da, Nangt?«
»Helzut hatte Recht, die SOL dreht sich.« Der Buhrlo stand auf, er schwankte. »Ich werde nachsehen, was es damit auf sich hat.«
»Was hast du vor?«
Die Frau versuchte, ihn festzuhalten, doch er entwand sich ihrem Griff.
»Warte es ab, Bora!«
Schwankenden Schrittes entfernte sich der Mann. Sie wollte ihm nacheilen, doch ihre Popularität verhinderte das. Um sie herum hatte sich ein regelrechter Kordon gebildet, der nicht ohne weiteres zu durchbrechen war. Freunde, Bekannte und Mitstreiter umringten sie.
»Mach keine Dummheit!«, rief sie, dann verlor sie ten Syl aus den Augen, weil die Umstehenden sie derart stark in Anspruch nahmen.
Der Gläserne kümmerte sich nicht um das, was um ihn herum vorging. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, nachzusehen, warum sich die SOL drehte, und er wollte es vom Raum aus tun. Dass dieses Vorhaben in seinem derzeitigen Zustand den sicheren Tod bedeuten würde, ging ihm nicht auf. Mit der Beharrlichkeit des Betrunkenen machte er sich daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Torkelnd hielt er auf den Ausgang zu, dabei hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Mal kreiste alles um ihn, dann wieder verschwamm die Umgebung vor seinen Augen oder er sah doppelt. Auch die Beine wollten ihm manchmal einfach den Dienst versagen. Halt suchend krallte er sich dann an Personen oder stützte sich an Tischen ab, wobei er mehr als einmal Gläser und Flaschen umriss, ohne es zu merken.
Endlich stand er draußen auf dem Gang. Erleichtert lehnte er sich an die Wand und schloss die Augen, riss sie aber sofort wieder auf, weil der Boden zu rotieren begann. Als er erschreckt nach unten blickte, war alles wie immer.
»Hier stimmt doch was nicht«, stieß er undeutlich hervor. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, doch der Nebel in seinem Gehirn wich nicht, dafür hätte er um ein Haar das Gleichgewicht verloren. »Aber ich werde es herausfinden.«
Nangt ten Syl stützte sich ab, wartete, bis er das Gefühl hatte, sicher zu stehen und tappte dann den Flur entlang. Er kam nur langsam voran. Das lag nicht nur an seinem unsicheren Gang, bei dem es auch schon mal einen Schritt zurück ging, sondern vor allem daran, dass sein Wahrnehmungsvermögen deutlich getrübt war und die Perspektiven verzerrt wurden. Mal hatte er den Eindruck, dass der Korridor sich krümmte oder verengte, dann wieder sah er ihn mehrfach und verschwommen; mal verformte sich die Decke und ließ die Lichter tanzen, oder Wände und Boden kreisten.
Mehrmals kam er zu Fall und hatte dann jedes Mal erhebliche Mühe, wieder in die Senkrechte zu kommen. Es dauerte eine Weile, bis ihm endlich aufging, dass es das beste war, sich an der Wand entlangzutasten. Das ging auch ganz gut, bis er auf eine Nische traf. Bevor die Information, dass seine Hände ins Leere fassten, vom Gehirn verarbeitet wurde, hatte er bereits den Halt verloren und stürzte vornüber. Den Schmerz nahm er nicht wahr, als er mit dem Kopf anschlug.
Der Wunsch, einfach liegen zu bleiben und zu schlafen, wurde schier übermächtig, doch er kämpfte dagegen an und rappelte sich wieder auf. In seinem umnebelten Hirn hatte sich die fixe Idee festgesetzt, nachzusehen, was mit der SOL war.
Der Bezirk, in dem er sich nun aufhielt, war menschenleer. Anfangs hatte er noch einige Freunde und Bekannte getroffen, allerdings auf ihre Ansprechversuche nicht reagiert. Da die anderen ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern waren, hatten sie sich nicht weiter um ihn gekümmert und angenommen, dass ten Syl sich in seine Unterkunft begeben wollte. Sie ahnten nicht einmal, was er wirklich vorhatte, denn sonst hätten sie ihn notfalls mit Gewalt vor einer solchen Dummheit bewahrt.
Der Buhrlo wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war, aber er erkannte, dass er von seinem Ziel nicht mehr weit entfernt war. Sein Ziel – das war eine kleine Personenschleuse, die bei Reparaturarbeiten an der Außenhaut benutzt wurde und einen Ausstieg besaß, der sich von Hand betätigen ließ. Er wusste nicht, ob es einen Kontakt gab, der das Öffnen in der Zentrale anzeigte, es war ihm auch egal.
In seinem Zustand bereitete es ihm erhebliche Mühe, die richtigen Schalter zu betätigen, doch endlich öffnete sich das Schott. Taumelnd betrat er die Kabine.
Sein Versuch, die Schleusenpumpe in Betrieb zu nehmen, scheiterte. Er probierte es noch mehrmals, bis ihm dämmerte, dass er etwas falsch gemacht haben musste. Mit stierem Blick betrachtete er die winzige Kontrolltafel, die er in doppelter Ausfertigung sah und die zugleich vor seinen Augen verschwamm. Es dauerte fast eine Minute, bis ihm die Bedeutung des roten Warnlichts aufging.
»Klarer Fall von Fehlbedienung«, brabbelte er vor sich hin. »Zuerst ist der Durchlass wieder zu schließen.«
Unsicher tastete er über die Schaltelemente. Das Schott schloss sich wie von Geisterhand bewegt. Als er es nun erneut versuchte, sprang auch die Absauganlage an. An einem Manometer war abzulesen, dass der Luftdruck rapide sank.
Der Körper eines Buhrlos ist – wie jeder andere lebende Organismus auch – eine höchst komplizierte und komplexe Einheit, filigran und doch verzahnt, sensibel und robust zugleich.
Man wusste genau, was sich im Körper abspielte, kannte die Zusammenhänge von Leib und Seele, wusste über Hormone und Stoffwechsel Bescheid, aber verstandesmäßig erfassbar war es eigentlich nicht.
Dieses Konglomerat aus über neunzig Prozent Wasser (H2O), anderen Molekülen, Elementen und Verbindungen daraus war – wollte man es trotz richtigem Mischungsverhältnis nachvollziehen – tote Materie, doch von der Natur zusammengesetzt war es Leben. Alles war fein ausgewogen, alles war genau austariert, und alles funktionierte trotz minimalem Einsatz optimal.
Eine Drüse, die eine zusätzliche Hormonmenge in der Größe eines Zuckerkristalls ausschüttete, konnte den Amoklauf des Individuums bewirken, die entgegengesetzte Reaktion dessen Tod – oder umgekehrt. Egal, ob ein Körper fünfzig oder hundert Kilogramm wog – das, was ihn steuerte, ließ sich nur in Mikro und Milli ausdrücken, wobei noch ein Komma und oft mehrere Nullen dahinter erforderlich waren.
Genau betrachtet ist ein Körper ein Mikrokosmos, der trotz seiner Balance nicht vollständig in sich abgeschlossen ist, sondern auf spezifische Art mit seiner Umwelt kommuniziert – sozusagen als Teil einer größeren Einheit.
Wer mit der Entwicklungsgeschichte vertraut war, wusste, dass die Gläsernen nicht einen neuen Zweig der Menschheit darstellten, sondern eher einer Laune der Natur entsprungen waren. Sie konnten sich für begrenzte Zeit im Weltraum aufhalten, doch sie beherrschten das Medium nicht wie etwa die Vögel die Luft und die Fische das Wasser – sie waren Weltraumamphibien, die zugleich völlig abhängig waren von einer Station; im übertragenen Sinne waren sie weder Fisch noch Frosch.
Dennoch hatte sich Mutter Natur Mühe gegeben, die Gläsernen optimal auszurüsten. Anders als die normalen Solaner konnten sich die Buhrlos ohne Schutzkleidung im Vakuum bewegen, ohne zu erfrieren oder zu ersticken; ein sinnvolles System von körpereigenen Mechanismen und Regulatoren sorgte dafür.
Nangt ten Syl begab sich nicht zum ersten Mal nach draußen. Er war so daran gewöhnt, dass sich sein Körper automatisch auf die extremen Bedingungen einstellte, dass er keinen Gedanken daran verschwendete. Ihn beschäftigte einzig und allein die Vorstellung, dass mit der Teil-SOL etwas nicht stimmte.
Erst als er spürte, dass der Sauerstoff knapp wurde, erkannte er voll Entsetzen, dass die Umstellung nicht funktionierte. Panik ergriff ihn. Er, der sonst im luftleeren Raum instinktiv den Mund hielt, versuchte unter dem verderblichen Einfluss des Alkohols, um Hilfe zu rufen. Damit war sein Schicksal besiegelt. Er war auf der Stelle tot. Nicht das All hatte ihn umgebracht, sondern ein selbstgeschaffenes Vakuum.
*
Der Ausstiegsversuch war in der Zentrale nicht bemerkt worden. Erst ein paar Stunden später wurde bei einem Routinekontrollgang festgestellt, dass jemand die Schleuse in Betrieb genommen hatte. Da das Schott infolge der leergepumpten Kammer automatisch blockierte, konnte von dieser Stelle aus nichts unternommen werden.
Durch einen in der Nähe liegenden Ausstieg gingen ein paar Buhrlos von Bord. Ohne große Schwierigkeiten gelangten sie von außen an das entsprechende Luk und öffneten es. Sie prallten entsetzt zurück, als sie einen der Ihren tot in der Kabine liegen sahen.
Die Erkenntnis, dass das für sie harmlos und vertraute Vakuum einen aus ihren Reihen umgebracht hatte, versetzte ihnen einen solchen Schock, dass sie völlig kopflos reagierten. Sie schieden nicht nur für die Bergung des Toten aus, sondern brachten auch sich selbst in Gefahr.
Eilig wurde ein Ferraten-Trupp mit Raumanzügen ausgerüstet und ausgeschleust. Sie brachten die konfusen Gläsernen an Bord zurück und bargen auch die sterbliche Hülle ten Syls, nachdem sie die Kammer wieder mit atembarer Luft gefüllt hatten.
Während die Buhrlos in psychiatrische Behandlung kamen, nahm man an dem Toten eine Obduktion vor. Die Todesursache ließ sich eindeutig ermitteln. Warum das körpereigene Schutzsystem versagt hatte, ließ sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen; man vermutete jedoch aufgrund der hohen Blutalkoholkonzentration eine dadurch hervorgerufene Fehlsteuerung des Gehirns und des Nervensystems.
Es mochte ganz ähnlich zugegangen sein wie bei einem betrunkenen Menschen, der sich in den Schnee legt; er spürte die Kälte nicht, da die körpereigene Kommunikation gestört, die Aufnahmefähigkeit gemindert und Wahrnehmungen in falsche Kanäle geleitet bzw. abgeblockt wurden – der Mensch erfror.
Der tragische Tod Nangt ten Syls sprach sich in Windeseile unter den Buhrlos herum, und es gab nicht wenige unter ihnen, die sich schworen, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren.
Besondere Vorwürfe machte sich Bora St. Felix. Zwar traf sie keinerlei Schuld, wie ihr von allen Seiten immer wieder versichert wurde, doch vor sich selbst mochte sie das nicht gelten lassen.
Viola, ten Syls Gefährtin, die eigentlich selbst des Trostes bedurft hätte, redete ihr gut zu.
»Du solltest aufhören, dich zu quälen, Bora. Nangt war ein erwachsener Mann. Wer konnte schon ahnen, dass er eine solche Dummheit beging?« Sie fasste nach der Hand der anderen Frau. »Es waren über hundert Leute versammelt. Glaubst du nicht, dass es unmöglich war, für alle den Hüter zu spielen?«
Die Sprecherin der Gläsernen blickte auf.
»Ich danke dir, Viola.«
»Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, die deine ganze Kraft erfordert.« Die Augen der jungen Buhrlo-Frau schimmerten feucht. »Es ist bestimmt ganz im Sinne von Nangt, wenn du dich wie bisher um die Lebenden kümmerst.«
Sie stand auf.
»Gib Nangt einen Platz in deinem Herzen, Bora, aber halte dir den Verstand frei für andere Dinge. Wir alle, die wir jetzt und hier existieren, wir alle brauchen dich noch.«
Niemand vermochte in die Zukunft zu sehen, aber bezogen auf die kommenden Ereignisse war man fast geneigt, Viola seherische Fähigkeiten zuzusprechen.