Читать книгу Ein Traum aus Sand und Regen - Farsana Roya - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеAn einem heißen Sommertag, als die Sonne den Zenit beinahe erreicht hatte, stachen ihre grellen Strahlen auf die Dächer der ältesten und tiefstgelegenen Stadt der Welt ein. Die Palmenoase war an einer wasserreichen Quelle errichtet, an welcher eine uralte Karawanenstraße vorbei führte.
Die unerträglich trockenen Mittagsstunden kündigten sich gerade an, als zwei junge Frauen hastig durch ihr Elternhaus polterten.
»Rya, du faules Stück! Wenn du nicht in fünf Minuten unten bist, fahr ich ohne dich los.« Der ermahnende Schrei Sakines hallte durch die offene Eingangstür, die Treppe hinauf, in das Zimmer ihrer jüngeren Schwester. Diese tauschte gerade einige Kleidungsstücke aus ihrem Koffer wieder aus, von denen sie glaubte, sie seien unnötig.
»Ich bin ja gleich fertig, warte noch einen Augenblick!«, rief Rya den hinaufstampfenden Schritten Sakines entgegen. Schnell schloss sie ihren Koffer und schnappte sich Reiseklamotten aus dem Schrank, sodass der verärgerte Kopf ihrer Schwester, der sich kurz darauf durch den offenen Türspalt schob, sie nicht beim Umpacken erwischen konnte.
»Du bist langsamer als eine Schildkröte«, zischte Sakine der unschuldig dreinblickenden Rya zu, ehe sie sich wieder zurückzog und auf den Weg nach unten machte.
»Das habe ich gehört, Schwesterherz!«, empörte sich Rya gespielt, während sie ihre gemütlichen Klamotten gegen die legere Kleidung tauschte. »Weißt du eigentlich, was eine Schildkröte sagt, wenn sie auf einem Kamel sitzt?«, schrie Rya durchs Haus, als sie vor dem Spiegel im Bad stand und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Ihre Schwester, die wohl in der Küche und im Wohnzimmer alles auf seine Richtigkeit überprüfte, gellte wenige Sekunden später:
»Nein, was sagt sie denn?«
Rya musste grinsen, denn sie würde Sakine die Pointe des Witzes nicht verraten. »Tut mir leid, Schwesterherz, mein Kopf ist zu langsam, um sich daran zu erinnern. Ich bin wohl echt eine Schildkröte.«
Ein Seufzen war die Antwort Sakines aus dem Erdgeschoss, die bereits mit fertig gepackten Koffern in der Eingangstür stand. »Dann eben nicht. Ich werde im Auto auf dich warten.« Ihre Worte begleitete ein dumpfes Poltern, mit dem sie ihren Koffer nach draußen schleppte.
Rya und Sakine wollten zurück in die Stadt fahren, die auf der anderen Seite der Landesgrenze lag. Dort wohnten die Schwestern im Haus ihres verstorbenen Großvaters, denn Ryas Oma brachte es nicht übers Herz, es zu verkaufen, und so konnten Rya und Sakine es während ihrer Studienzeit nutzen.
Sakine war 23 Jahre alt und somit zwei Jahre älter als ihre Schwester. Sie studierte Kunst, während Rya Politik vorzog, doch momentan hatten sie Semesterferien.
Noch genau 41 Tage.
Kritisch blickte Sakine in den Seitenspiegel ihres Autos und zupfte an ihrem länglichen Kinn. Sie war keineswegs eine Schönheit, dennoch hatte es über die vergangenen Jahre einige Avancen junger Männer gegeben, die um ihre Hand gebeten hatten, denn sie war intelligent und selbstbewusst. Sakine jedoch hatte jeden Bewerber abgewiesen. Sie bewunderte einen ihrer Kommilitonen, der jedoch nichts von seinem Glück ahnte.
Bei diesem Gedanken beschlich ein Lächeln ihre Züge und musste sich eingestehen, dass sie tatsächlich für ihn schwärmte. Immer, wenn sie ihn in der Uni sah, betrachtete Sakine ihn mit rasendem Herzen und bewunderte seine Ausstrahlung, angezogen von seiner schüchternen und doch gleichzeitig maskulinen Art.
Als sich ihre kleine Schwester schnaufend in den Kieshof schleppte, den schweren Koffer mit einem Arm vor sich hievend, kam Sakine nicht umhin, sie für ihr schönes Gesicht zu bewundern. Die kleine Stupsnase, die dunklen Mandelaugen, aus denen Diamanten ihre Lebensfreude hinausposaunten und ihre gütige, liebenswerte Mimik.
Nachdem Rya ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, setzte sie sich auf den Beifahrersitz und Sakine drückte aufs Gaspedal. Sie entfernten sich gemächlich von ihrem Zuhause, fuhren durch enge Gassen und breite, überfüllte Straßen, auf denen Hupkonzerte stattfanden. Ihr Weg führte sie ins Stadtzentrum und anschließend wieder hinaus. Über baufälligen Asphalt, verunstaltet durch hitzebedingte Schlaglöcher.
Vorbei an der berühmten Palastanlage ihrer Heimatstadt. Zinnen und Türme, Kuppeln, Pagoden und Spitzdächer ragten zu einem unvergleichlichen Gebilde hinauf, in der Mitte eine Moschee, umgeben von Gärten und Parks.
Jedes Mal, wenn ihr Weg sie an diesem majestätischen Zeugnis menschlicher Kunst vorbeiführte, hielten die Schwestern für einen Moment die Luft an und bestaunten den Ausblick. Doch ein Atemzug nur, und Sakine musste sich wieder auf den Verkehr konzentrieren, der sie zum Stadtrand führte.
Als sie die letzten Häuser der Stadt langsam hinter sich ließen, mehrten sich die Mandelbäume an den Straßenrändern, ebenso wie die Hütten der Viehtreiber, die ihre Ziegen und Schafherden über die Wiesen leiteten.
Sakines Auto holperte über die immer baufälligeren Straßen und die Gegend wurde immer karger, bis sie die bergige Steinwüste passierten und die Landschaft sich immer weiter veränderte. Als hätten sie plötzlich eine unsichtbare Grenze überschritten, sahen sie vermehrt giftige Tiere, besonders die schwarzen Jericho Skorpione, über den weichen Kies flitzen.
Der Tag schritt voran, die Schwestern wussten nicht, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, doch irgendwann verließen sie ihr Heimatgebiet.
Beide waren erleichtert, denn die Straßen auf dieser Seite der Grenze waren weitaus besser erhalten und machten das Fahren somit zu einer weitaus geringeren Tortur. Aus dem Radio ertönte ein arabisches Lied, als der laue Nachmittagswind Sakine dazu antrieb, das Gaspedal durchzutreten. Sie genoss das schnelle Fahren, das Schnurren des alten Motors, während eine angenehme Brise durch beide geöffneten Seitenfenster die Luft im Auto zirkulieren ließ.
Schläfrig sank Rya in ihrem Sitz zurück, lehnte einen Arm aus dem offenen Fenster und spielte mit dem Widerstand des Winds auf ihrer Haut. Die lange Reise in der schwülen Hitze war ermüdend und kräfteraubend, doch vor allem war sie für die tatenlose Rya langweilig. Gedankenverloren spähte sie durch den Wagen, bis ihr Blick auf Sakine fiel, an welcher etwas silbrig Glänzendes Ryas Aufmerksamkeit erregte.
Schelmisch grinsend näherte sich ihre Hand der Haarpracht ihrer Schwester, ehe sie vorschnellte und das graue Haar mit einem Ruck ausriss. Erschrocken zuckte Sakine zusammen, der Motor heulte ebenfalls kurz wehleidig auf, während seine Fahrerin sich empört an den Kopf griff.
»Was zur Hölle …?«, entfuhr es ihr atemlos, den Blick abwechselnd auf Rya und die Straße gerichtet, beide mit vernichtendem Ausdruck aufspießend.
»Ein graues Haar. Du wirst langsam alt«, frotzelte die Jüngere mit triumphierendem Ausdruck. »Das bedeutet, du bist bald dran mit Heiraten, Schwesterherz. Aber wenn ich mir deine heimliche Liebe so ansehe …«
Sie ließ den Satz im Raum stehen, brachte Sakine dazu, ertappt und zugleich empört aufzuatmen, bevor sie weitersprach. »Der scheint viel zu nett für dich zu sein. So wie er sich kleidet, ist er bestimmt ein Muttersöhnchen.
Ich hätte dir eigentlich mehr zugetraut, als dich in jemanden zu verlieben, dessen Kleidung geschmackloser ist als Tantes Suppe«, stichelte Rya grinsend ihre Schwester und vertrieb somit auch den letzten Rest Langeweile aus der Luft.
Schnaubend schüttelte Sakine den Kopf, während sie das Auto trotzig aufheulen ließ. »Was genau soll denn an ihm auszusetzen sein?«, schmollte sie vorwurfsvoll, während sie ihre Schwester aus den Augenwinkeln betrachtete. »Er ist gebildet und reif, was ja nicht gerade typisch für das andere Geschlecht ist. Und ich finde, nur darauf kommt es an. Auf den Charakter. Was er anzieht ist gleichgültig«, verteidigte Sakine mit wachsender Vehemenz ihre heimliche Liebe.
Das versteckte Lächeln Ryas quittierte sie mit einem beiläufigen Augenbrauenhochziehen. Mit gespitzten Lippen fügte sie noch hinzu: »Wir können es uns wenigstens leisten, auf dem Heiratsmarkt wählerisch zu sein.«
»Nein, mein Schwesterherzblatt. Mit deinen 23 Jahren bist du wirklich reif für die Ehe. Andere Mädchen tragen schon längst einen Ring am Finger«, widersprach Rya und grinste dabei zufrieden vor sich hin.
Ihre Schadenfreude über das Wortgefecht wurde jäh gehemmt, als Sakine ihr einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte. »Wenigstens habe ich jemanden in Aussicht. Mit deiner losen Zunge wirst du in zehn Jahren keinen Mann finden, der sich mit deiner Frechheit arrangieren kann.«
Den verärgerten Blick ihrer Schwester ignorierte Sakine, denn nun war sie es, die stolz lächelte. »Noch ist er nicht dein Ehemann«, verteidigte Rya sich, bevor sie ansetzte: »Erst dann hast du einen Grund, zu behaupten, du hättest ihn in Aussicht. Und selbst wenn ich noch zwanzig Jahre warten muss – wozu die Eile? Ehe ist nicht die Essenz unseres Lebens.« Sie bemerkte zu spät, dass ihre Worte all den Belehrungen ihrer Mutter widersprachen, doch ehe Sakine sie dessen erinnern konnte, räusperte Rya sich laut.
»Lass uns besser das Thema wechseln, dieses lässt noch jeden Baum seine Blätter abwerfen.«
»Einverstanden«, stimmte Sakine ihr dankbar zu.
Bevor eine der Beiden jedoch die eingekehrte Stille durchbrechen konnte, spottete Rya ein letztes Mal: »Eines jedoch musst du dir wirklich eingestehen. Die Kleidung deines Geliebten ist wirklich geschmackloser als Tantes Suppe.«
Obwohl die Worte ein widerwilliges Kichern in ihrer Kehle aufsteigen ließen, knuffte Sakine ihrer Schwester ermahnend in die Seite.
»Er ist trotzdem ein attraktiver Mann«, quietschte die Geschlagene abwehrend und rutschte anschließend so tief in ihren Sitz, dass sie kaum mehr über das Armaturenbrett linsen konnte.
Sakine schwieg auf dieses Thema demonstrativ und konzentrierte sich auf die leere Straße. Die erdrückende Stille, die wieder in dem Auto einkehrte, ließ sie beiläufig gähnen. Nach einigen Minuten wurde sie der gespannten Atmosphäre müde und fragte ihre Schwester ganz beiläufig: »Was sagt denn nun eine Schildkröte, wenn sie auf einem Kamel sitzt?«
Rya grinste, ehe sie verschwörerisch antwortete: »Das verrate ich dir vielleicht ein anderes Mal.«
Der frühe Abend war bereits angebrochen, als sie die Zielstadt endlich erreicht hatten und am Haus ihrer Großmutter ankamen.
Eine zweistöckige Steinhütte mit Spitzdach erhob sich hinter dem ausladenden Garten, der Omas ganzer Stolz war. Sattes Gras wucherte wild auf den Grünflächen, die den Kiesweg hinter dem Tor zur Straße flankierten. Tomatensträucher wuchsen aus ihnen empor, lockten mit ihren reifen, roten Früchten, riefen den Mädchen ihren Duft entgegen, als diese ihre Koffer über den Weg zum Haus zogen.
»Ob sich wohl etwas verändert hat, seit wir das letzte Mal hier waren?«, murmelte Sakine verträumt, nachdem sie den Schlüssel im rostenden Schloss umgedreht hatte und die Tür ins Innere aufstieß.
Die Antwort bot sich ihnen, als eine stickige, heiße Staubwolke ihnen entgegenschlug. Sofort öffneten die Mädchen alle Fenster im Erdgeschoss und betrachteten dabei nostalgisch die bescheidenen, alten Möbel. Den wackligen Holztisch im Wohnzimmer, die wehenden, schlammfarbenen Gardinen. Sie erinnerten sich, wie sie in ihrer Kindheit stundenlang auf den roten Perserteppichen gesessen hatten und die verschnörkelten Muster nachgefahren waren.
»Am Besten, wir packen schnell aus und stauben dann ein wenig ab«, schlug Rya seufzend vor, nachdem sie sich wieder bei ihren Koffern in der Eingangstür getroffen hatten. Sakine quittierte ihren Vorschlag mit einem Nicken und sie beide sputeten sich, ihre Zimmer im Obergeschoss einzuräumen, bevor sie sich dem Saubermachen widmeten.
Als der Himmel sich bereits dunkel färbte und die ersten Sterne am nächtlichen Horizont erschienen, ließen sich die Schwestern schwitzend und erschöpft auf der Terrasse vor dem Haus nieder. Sakine entpackte die Dosen, die sie vor ihrer Abreise mit Hackfleischbällchen und Sesambrot gefüllt hatten und gierig verschlangen sie das köstliche Abendmahl.
Stille hatte sich über die Häuser der Stadt gelegt und hüllte auch die Mädchen in einen seltsamen Frieden. Lediglich vereinzelte Vögel sangen aus ihren Baumkronen dem Mond entgegen und Grillen zirpten im Dickicht.
In der Ferne waren vereinzelte Motorengeräusche zu vernehmen, doch das Stadtzentrum lag weit entfernt von ihrem Haus und so störten sie diese kaum.
Sehnsuchtsvoll blickte Rya in den tiefblauen Himmel und betrachtete die leuchtenden Punkte, die ein prächtiges Gefilde bildeten. ›Die Sterne leben in Frieden. Sie spüren weder Schmerz noch Leid‹, dachte sie sich im Stillen, während ihre dunklen Augen von einem Stern zum anderen sprangen und unsichtbare Linien zwischen ihnen zogen. ›Wieso können wir Menschen keine Sterne sein? Dann würden wir uns nicht selbst kaputt machen …‹
Sie musste seufzen, was Sakine, die neben ihr auf einem der Liegestühle lümmelte, aufhorchen ließ. Doch bevor sie ihre Schwester auf deren Trübseligkeit ansprechen konnte, hatte Rya bereits das Wort ergriffen.
Den Blick immer noch starr nach oben gerichtet, den Kopf im Nacken, murmelte sie, mehr zu sich selbst: »Es ist doch bemerkenswert. In einer Stadt, die seit ihrer Erbauung so umstritten, so umkämpft war, ist nun endlich Ruhe eingekehrt. Zumindest fühlt es sich für mich so an. Was für ein Glück wir haben …«
»Das haben wir wirklich«, pflichtete Sakine der anderen bei, bevor sie es Rya wieder gleichtat und ebenfalls emporschaute. »Wir haben Glück, hier leben zu dürfen und zu studieren.«
»Ja, in einer Stadt, wo du nur einmal abbiegen musst, um in eine andere Kultur eintauchen zu können. Wo Angehörige dreier Weltreligionen friedlich miteinander leben und einander respektieren, so, wie es sein sollte.« Rya musste abermals seufzen. Die Liebe zum alleinigen Gedanken von einem solchen Frieden hatte sie dazu animiert, Politik zu studieren.
»Und erst die Basare! Viel schöner als Zuhause«, lenkte Sakine schwärmend vom Thema ab und brachte Rya somit zum Schmunzeln. Ihre Schwester liebte es, zu kochen, und sie liebte es, einkaufen zu gehen. Auch Rya konnte sich dem Zauber der orientalischen Basare kaum entziehen, daher nickte sie nur gedankenverloren auf Sakines Anmerkung: »Wo solch berauschende Orte existieren, muss es doch einfach harmonisch sein. Es geht nicht anders.«
»Wir können ja gleich morgen auf den Markt gehen! Die Schränke müssen eh aufgefüllt werden und auf dem Weg könnten wir auch gleich dem Tempelberg einen Besuch abstatten. Ich wollte die berühmte Klagemauer schon immer einmal sehen«, schlug Rya mit wachsendem Enthusiasmus vor und schaffte es endlich, ihr Gesicht dem Himmel abzuwenden und stattdessen vorfreudig ihrer Schwester zuzuwenden. Diese lächelte nur stumm und besiegelte das Ganze mit einem Nicken.
Zufrieden verschränkte Rya die Arme hinterm Kopf.
Die nächsten Wochen würden unvergesslich werden. Frei von Sorgen oder Pflichten, frei von unnötigen Grenzen und Verboten.
Ungefähr um dieselbe Zeit, zu der sie am Vortag aufgebrochen waren, schlugen Rya und Sakine den Weg zum nahe gelegenen Bazar ein. In Sakines Armbeuge hing ein geflochtener Korb, bereit, mit allerlei Köstlichkeiten gefüllt zu werden.
In ihrem Kopf ging sie akribisch die imaginäre Liste durch, nach der sie den Markt absuchen würde, während Rya an ihrer Seite mit staunenden Augen durch die Straßen schlenderte.
Sie absorbierte jeden Eindruck, der flüchtig ihre Sinne streifte.
Männer in Jeans und Shirt, die als Zeugnis ihres Glaubens die Kippa auf dem Kopf trugen, ebenso wie elegant gekleidete Damen mit Hijab.
Quengelnde Kinder, die an den Seiten ihrer Eltern liefen und regelmäßig an ihrer eigenen, ungemütlichen Kleidung und den Armzipfeln ihrer Mütter zerrten.
Dann und wann drehte Rya sogar ihren Kopf, um einer besonders interessanten Person hinterher zu blicken, oder einem der streunenden Tiere, die blitzartig um Häuserecken huschten und Schutz im kühlen Schatten suchten.
Sie hatten den Bazar fast erreicht, als ein gebrechlicher, alter Mann ihren Weg kreuzte. Er schob einen Holzkarren vor sich her, auf dem Tongefäße zu einer gefährlich wackligen Pyramide aufgestapelt waren. Zwischen dem Gedränge der Menschenströme, die auf den staubigen Straßen in alle Richtungen stoben, schien jeder leichte Windhauch seine Ware zu Fall bringen zu können.
Auch er schritt in Richtung Bazar und Rya beobachtete ihn neugierig dabei, wie er es tatsächlich heil dorthin schaffte. Im dichten Gedränge des Marktes verlor sie schnell den Blickkontakt mit dem Karren, doch schon wurde ihre Aufmerksamkeit von allerlei anderem auf sich gezogen.
Hölzerne Stände mit provisorischen Strohdächern reihten sich zu einer Allee aneinander, überall standen kindergroße Leinensäcke, in denen sich Obst, Gemüse oder Gewürze stapelten. Menschen jeden Alters und Geschlechts drängten sich an die Verkäufer, deren Stimmen laut durcheinander riefen, allesamt ihre Waren anpreisend.
»Frische Beeren! Ganz billig, nur heute zu einem Sonderpreis!«
»Wassermelonen, süße Wassermelonen!«
Die satten Farben der Lebensmittel schienen das Farbspektrum zu sprengen, die würzigen, scharfen, süßen und manchmal stechenden Gerüche Ryas Sinne zu betäuben. Ihr war, als wäre sie gefangen in einem wahren Strudel aus herrlichsten Eindrücken.
Blind für ihr eigentliches Ziel folgte sie Sakine, die zu einem Falafelstand lief, wo sie sich vor dem angehenden Einkauf eine Stärkung gönnen wollte.
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt inzwischen erreicht und kein Wölkchen trübte den azurfarbenen Himmel, als in der Ferne der Muezzin zum Gebet rief.
Diesen Ruf nahmen die Schwestern als Stichwort, um mit ihrer Suche zu beginnen. An einem Gemüsestand blieben sie stehen und während Sakine mit dem älteren Verkäufer über die Preise für verschiedenstes Grünzeug diskutierte, betrachtete Rya weiterhin gedankenverloren ihre Umgebung.
Sie wog gerade eine blutrote Paprika in den Händen, als ihr Blick von einem gutaussehenden, jungen Mann gefesselt wurde. Sein Schritt war schnell und bestimmt, als hätte er ein genaues Ziel vor Augen.
Rya konnte nur einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht erhaschen, doch dieser genügte, um ihren Eindruck von ihm zu bestätigen. Die Züge des Unbekannten waren gezeichnet von Entschlossenheit, sein schwarzes Haar modisch nach hinten gekämmt. Er marschierte mit erhobenem Kopf, seine schlanke Gestalt bewegte sich geschmeidig durch die Menge hindurch.
Er hielt nicht an, um zu feilschen, seine Augen wanderten nicht. In Jeans und Shirt gekleidet machte er einen eher gewöhnlichen Eindruck, doch seine Ausstrahlung brachte Rya dazu, gedankenverloren einen Schritt zur Seite zu machen, um ihn in dem Gedränge nicht aus den Augen zu verlieren. Der blaue Rucksack auf seinem Rücken war ihr dabei ein Wegweiser.
›Wer bist du nur? Was führt dich hierher? Du kaufst nicht ein … triffst du dich mit jemandem?‹ Rya musste die Zähne zusammenbeißen, bei diesem Gedanken. Ein Mann wie er würde ihr niemals seine Aufmerksamkeit schenken. Er hatte sie noch nicht einmal bemerkt.
›Wie magst du wohl heißen? Wo führt dich dein Weg wohl hin?‹ Sie fragte sich, ob sie ihn vielleicht wieder sehen würde. Menschen trafen sich immer zwei Mal im Leben, das hatte ihre Mutter ihr eingeschärft.
Ihr Herz klopfte schneller bei der Vorstellung, ihn kennen zu lernen. Richtig zu treffen, mit ihm zu reden. Er war schon fast verschwunden, nur noch entfernt konnte sie seinen Rucksack ausmachen. Ein scharfes Gefühl von Realität schwappte über sie, als sie sich dessen bewusst wurde.
Gleich würde er fort sein, sie würde ihn nicht wiedersehen. Der kurze Moment von Euphorie und Aufregung, der sie bei seinem Anblick überkommen war, würde schwinden und zurück würde nur die bittere Erinnerung bleiben.
›So ist das Leben. Auf Licht folgt die Dunkelheit.‹ Er war fort. ›Doch nur im Schatten vermag man es, die Sonne auch zu erkennen.‹ Seufzend drehte Rya sich zurück zum Stand und legte die Paprika wieder auf den Sack, in dem ihre Artgenossen ruhten.
Neben ihr stritt sich Sakine immer noch mit dem armen Mann, der langsam die Geduld zu verlieren schien. Rya musste schmunzeln, als sie den bärtigen Verkäufer mitleidig betrachtete.
Dann, einem plötzlichen Impuls folgend, drehte sie sich wieder nach links. In die Richtung, in die der Unbekannte eben untergetaucht war.
›Habe ich es nur geträumt, oder habe ich ihn tatsächlich gesehen?‹, wunderte sie sich im Stillen, ein Runzeln auf ihrer schmalen Stirn. ›Ich weiß es nicht mehr. Das Einzige, was im Leben gewiss ist, das ist der Tod. Er verhindert, dass Geschehenes ungeschehen gemacht werden kann. Kann man die Zeit zurückdrehen? Vor einem Augenblick habe ich ihn noch betrachtet und doch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit.‹
Sie biss sich auf die Lippe, als sie sich wieder abwandte und ein kleiner, schwarzer Punkt auf den roten Paprika ihre Aufmerksamkeit erregte. Rya beobachtete die kleine Ameise dabei, wie diese sorglos über das Gemüse spazierte.
›Für dich ist ein einziger Tag vielleicht wie ein ganzer Monat. Für mich ist eine Sekunde der Liebe vielleicht die Ewigkeit.
Wenn das Schicksal es so will, werden wir uns wieder sehen.‹ Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihr aus und neuer Mut beflügelte die junge Frau.
Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Knall ihre Gedanken. Hysterische Schreie zerschnitten die Luft. Es roch verbrannt.
Eine dunkle Rauchwolke stieg über dem Marktplatz auf, Stände fingen Feuer, Männer und Frauen rannten wild durcheinander, jeder auf sein eigenes Wohl bedacht.
Entsetzen und Furcht ergriffen von Rya Besitz, doch ihr blieb keine Zeit, um zu empfinden. Etwas fiel auf sie nieder. Der Gemüsestand riss sie nach unten, ihr Kopf knallte heftig auf den dreckigen Boden. Es ging zu schnell, sie konnte nicht reagieren, zu schockiert, dann zu schwach ihre Stimme zu erheben, laut nach Hilfe zu rufen.
Bunte Paprika rollten aus dem Sack neben ihr und verteilten sich neben ihrem Körper. Die letzte Stimme, die sie vernahm, war der verzweifelte Ruf ihrer Schwester, welche die Luft erfüllte: » Oh mein Gott! Rya!«