Читать книгу Mari reitet wie der Wind - Federica de Cesco - Страница 4
Оглавление2. Kapitel
Das Sonnenlicht funkelte mild, als Mari sich im Windschatten der Dünen niederkauerte. Der Strand lag grau und verlassen da. Mari kannte alle Wege, alle Mulden in den Dünen. Sie konnte mit geschlossenen Augen überall hingehen und brauchte nur mit nackten Füßen den Boden zu berühren, um zu wissen, wo sie war. Nun wartete sie, geduldig und kaum außer Atem im Sand sitzend, die Arme um die Knie geschlungen. Das Salz brannte auf ihren Lidern und Lippen, das Rauschen von Wind und Meer dröhnte ihr in den Ohren. Die Weide befand sich auf der anderen Seite des Kanals. Bei Trockenheit war das Wasser nicht tief und die Pferde taten, was sie wollten: Weil sie die Nähe des Meeres liebten, überquerten sie immer wieder den Kanal und liefen zum Strand. Nach einer Weile holten die Gardians sie ein, trieben sie auf die Weide zurück. Auch diesmal wartete Mari nicht umsonst. Unvermittelt durchbrach ein dumpfes Pochen die Stille. Einen Vogelschwarm aufwirbelnd, sprengte eine Gruppe von Pferden aus dem Buschwerk. Mit fliegender Mähne galoppierten sie über den Strand. Am Ufer verlangsamten sie ihren Schritt, wateten durch die Pfützen oder trabten, ihren Schweif schwingend, im Kreis herum. Einige warfen den Kopf zurück und wieherten; es hörte sich wie ein tiefes Lachen an. Ein Füllen stand am Rand eines Tümpels, der sein Spiegelbild zurückwarf. Maris Herz klopfte wild. Paloma! Sie war nicht gedrungen, wie Camargue-Pferde es oft sind, sondern schlank und hochgewachsen. Ihr Hals war in anmutiger Linie gebogen, ihre Beine erstaunlich feingliedrig. Ihre dichte, lange Mähne fiel weit über die großen, dunkel glänzenden Augen. Der Schweif war so lang, dass er fast den Boden berührte. Und weil das weiße Pferd fast bläulich schimmerte, hatte Mari der Stute den Namen »Paloma« – Taube – gegeben. Das Tier hatte es in sich. Mari gehorchte es zwar wie ein Pony, aber sobald sich ihm ein Fremder näherte, schlugen seine Hufe wie Keulen durch die Luft. Einmal hatte ihm ein Viehhüter die Kandare anlegen wollen. Paloma hatte nach seinem Handgelenk geschnappt, die Pulsader nur um Haaresbreite verfehlt. Auch jetzt hielt Paloma sich abseits; ihr Spiegelbild leuchtete im blauen Tümpel. Es war, als bewegten sich zwei Tiere – eines in der Luft und eines im Wasser – in vollkommenem Gleichklang miteinander. Ein Lächeln flog über Maris finsteres Gesicht. Sie richtete sich vorsichtig auf, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, der wie der Ruf eines Vogels klang. Sofort hob die Stute den Kopf, schüttelte die Mähne, spitzte die Ohren. Mari pfiff ein zweites Mal. Dieser zweite Ton war kurz und deutlich, doch ohne Schärfe. Palomas linker Vorderhuf scharrte im Sand. Dann setzte sie sich in Bewegung, trabte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Leicht und anmutig bewegte sich der Schimmel auf das Mädchen zu. Die Mähne und der Schweif wehten und flatterten in der Luft. Mari vergewisserte sich mit einem Blick, dass kein Viehhüter in der Nähe war, bevor sie durch den lockeren Sand lief. Sie hatte einen Klumpen Salz mitgebracht, den sie Paloma entgegenhielt. Die Stute war jetzt so nahe, dass Mari die Wimpern ihrer dunklen Augen sehen konnte. Als sie das Salz von Maris flacher Hand leckte, fühlten sich ihre Lippen weich wie Samt an. An ihren Nüstern perlten kleine Tropfen. Als Paloma mit dem Salz fertig war, rieb sie ihre Wange an Maris Hand, beschnupperte ihr Haar. Mari legte die Hand auf den Rücken des Tieres, sah, wie das weiße Fell erschauderte. Sie sprach zu dem Schimmel, so leise, dass sie sich selbst kaum hörte.
»Paloma! Du fehlst mir so! Und ich will nicht, dass andere dich reiten. Wenn wir doch irgendwohin gehen könnten, wo uns niemand findet! Aber ich hab kein Geld und ich muss zur Schule...« Paloma schien ihre Traurigkeit zu spüren. Sie beugte den Hals, um mit ihren Nüstern Maris Wange zu berühren. Das Mädchen presste sich enger an das Pferd. Dicke, heiße Tränen füllten ihre Augen. »Wenn wir wirklich wollten. Ja, wenn . . .« Nein, unmöglich! Sie musste sich diese Idee aus dem Kopf schlagen. Mari blinzelte, warf ihr Haar aus der Stirn. Die Versuchung, Paloma zu reiten, nahm zu, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte. Weit und breit war kein Viehhüter in Sicht. In der Nähe lag ein gefällter Baumstamm, vom Salzwasser gebleicht und ausgewaschen. Mari trat auf den Baumstamm, krallte sich in der Mähne des Pferdes fest. Der Schimmel wartete, wie er es immer tat, bis das Mädchen auf seinem Rücken saß. Tiefer, gleichmäßiger Atem hob und senkte Palomas Flanken. Ihr Rücken war breit, federnd und warm. Ruhig und langsam setzte sie sich in Bewegung. Bei jedem Schritt fühlte Mari das mächtige Spiel ihrer Muskeln. Sie lehnte sich weit nach vorn, streichelte Palomas Hals, sprach leise in das wippende Ohr des Pferdes.
»Du möchtest auch gern galoppieren, nicht wahr? Aber wir müssen vorsichtig sein. Du gehörst mir nicht mehr, verstehst du? Du gehörst diesem blöden Kerl. Ich weiß, das ist schwer zu ertragen. Aber es ist nun mal so . . .« Paloma schüttelte den Kopf, drängte vorwärts. Mari biss sich hart auf die Lippen. Nur eine Bewegung und sie würden im Flug dahinstürmen. Wie der Blitz, wie der Sturmwind, wie der Wildbach. Mit einem Mal vergaß Mari jede Vorsicht. Ein Schwindelgefühl erfasste sie, der Boden schien unter ihr wegzugleiten. Sie beugte sich tiefer über die Mähne des Schimmels, stieß dicht an seinem Ohr einen langen, spitzen Schrei aus. Da sprang das Pferd mit einem Satz vorwärts, trug Mari in pfeilschnellem Galopp über den Strand. Welch ein Ritt! Mari erschien er als der schönste ihres Lebens. Sie umklammerte Palomas warme Flanken mit den Beinen, krallte sich an der Mähne fest. Ohne Zaumzeug oder Sattel fing sie jeden Sprung mit einer geschickten Gegenbewegung ab. Mari hatte sich nie überlegt, wie sie das fertigbrachte, es war einfach eine Sache, die sie konnte. Mari dachte nicht mehr daran, vorsichtig zu sein; sie gab sich völlig diesem herrlichen Gefühl hin: Es war, als hätte sie Flügel. Sie warf den Kopf zurück, ließ sich tragen, wohin das Tier wollte. Der Himmel leuchtete türkisblau, sie war ganz von Luft und Licht umgeben. Doch auf einmal mischte sich ein anderes Geräusch in das Trommeln der Hufe. Mari schreckte aus ihrem Wachtraum auf, warf einen Blick über ihren Rücken. Sie sah, dass sich etwas Braunes bewegte. Einen Augenblick zuvor war noch nichts da gewesen, doch jetzt zeichneten sich drei Reiter scharf gegen den Himmel ab. Die Viehhüter hatten das Verschwinden der Pferde entdeckt und ritten schnell zum Strand, um die Tiere einzufangen. Nun hatten sie die Reiterin bemerkt, schwenkten ihre Dreizackgabeln und schrien ihr Worte zu, die der Wind davontrug. Schon kamen sie von den Dünen herabgejagt. Sandwolken stoben auf. Lähmender Schrecken fuhr Mari in die Glieder. Das, was sie machte, war verboten. Die Viehhüter würden sie einfangen, der Polizei übergeben. Womöglich musste sie eine Buße bezahlen. Oder sie kam ins Gefängnis, wie ihr Vater. Was nun? Angst schnürte Mari die Kehle zu. Sie klammerte sich fester an Paloma. Ihre einzige Hoffnung war, so viel Vorsprung zu gewinnen, dass sie von dem Rücken des Pferdes springen und im Unterholz verschwinden konnte, bevor sie eingeholt wurde. Sie legte sich flach über Palomas Mähne. Die Stute sprang schnell und wild. Sie liebte es zu rennen, raste über den Strand, mit fliegender Mähne und der Nase im Wind. Es war, als berührten ihre Hufe kaum den Boden. Die Guardians hatten sich an die Verfolgung gemacht. Doch als Mari sich umsah, erkannte sie, dass ihr Vorsprung wuchs. Die Viehhüter holten nicht auf, weil sie erwachsene Männer waren, deren Gewicht für die Pferde schwer zu tragen war. Aber plötzlich flog in einiger Entfernung eine Wildente auf und aus den Augenwinkeln sah Mari zwei andere Gardians von einem Dünenkamm vor ihr herunterpreschen. Wenn sie ihnen auswich, würde sie ihren Vorsprung verlieren. Doch das war jetzt nicht zu vermeiden. Keuchend riss Mari den Schimmel herum. Palomas blitzschnelle Wendung warf sie fast zu Boden, doch sie hielt sich auf dem Pferd. Der einzig mögliche Ausweg führte über eine Stierweide ganz in der Nähe. Es gab noch Gutsbesitzer, die vom Ertrag ihrer Viehherden lebten. Die schwarzen Stiere mit den säbelförmigen Hörnern wurden zum Stierkampf gebraucht. Den Tieren geschah dabei kein Leid, denn es handelte sich um ein reines Geschicklichkeitsspiel, bei dem weiß gekleidete Männer ein rotes Band zwischen den Hörnern der Stiere lösten und dafür eine Belohnung in Geld erhielten. Dieses Spiel war in der Camargue sehr beliebt. Mari wusste, dass die Stiere nur angriffen, wenn sie gereizt wurden. Ein galoppierendes Pferd jedoch würde sie mit Sicherheit erschrecken. Trotzdem hatte Mari vor den Stieren weniger Angst als vor den Viehhütern. Sie biss die Zähne zusammen, trieb Paloma zu höchster Geschwindigkeit an. Schon wurden die Stiere wie dunkle Felsen im Buschwerk sichtbar. Sie hatten das heransprengende Pferd gewittert. Argwöhnisch standen sie da, mit gesenktem Kopf und bebenden Flanken. Erst im letzten Augenblick nahm Mari den hohen Zaun aus Stacheldraht wahr, der das Weidegebiet der Stiere vom offenen Strand trennte. Er war zu hoch, als dass ihn Paloma hätte nehmen können. Mit voller Kraft presste Mari ihr Knie an Palomas Flanke, riss sie von dem Hindernis weg. Im Bruchteil eines Atemzuges, als sie den Zaun schon fast berührten, legte Mari sich zur Seite, wendete das Pferd, jagte ganz dicht am Stacheldraht entlang. Schweiß bedeckte ihr Gesicht. Im Hitzegeflimmer des Küstenstreifens holten sie ihre Verfolger schnell ein, sie waren schon ganz nahe. Vor ihr lag das Meer, blau und bewegt, mit glitzernden Wogenkämmen. Plötzlich kam Mari der rettende Gedanke. Das Meer, ja! Die Reiter mit ihren Ledersätteln, ihren schweren Kleidern würden ihr nicht in die Wellen folgen. Sie presste ihre Fersen in Palomas Flanken. Von seinem Schatten begleitet, flog das Pferd dem Wasser entgegen. Am Meer standen einige verkrüppelte Bäume, von Salz und Sonne verbrannt. Ein paar rosa Flamingos, die in den Pfützen nach Garnelen fischten, erhoben sich wie rosa Blumen in die Luft. Im vollen Galopp erreichte Paloma die Wellen. Ein mächtiger Sprung schien die Stute vom Boden loszulösen. Sekundenlang glaubte Mari zu schweben. Sie spürte die Kälte, als Paloma in die wirbelnde Flut tauchte. Ein Rauschen erfüllte ihre Ohren, ein gurgelndes Gewicht drückte sie unter Wasser. Sie klammerte sich mit aller Kraft an der Stute fest. Schäumende dunkelblaue Wellen schlugen über ihr zusammen.