Читать книгу Anja und das Reitinternat - Himmel und Hölle - Feli Fritsch - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie Hitze draußen war unerträglich. Die Klamotten klebten an der verschwitzten Haut, die Luft schimmerte in der Julisonne des Jahres 1985. Auf dem Asphalt hatten sich optische Täuschungen gesammelt. Kein Lüftchen wehte, der Himmel war strahlend blau. Nach Regen sah es nicht aus. Schon seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Die Ernte vortrocknete auf den Feldern, in anderen Teilen des Landes ersoff sie in den Wassermassen, die hier sehnlichst erwartet wurden.
Die 14-jährige Anja Klein schaute angestrengt in den Himmel. Sie saß im Sattel ihres frechen Fuchsponys Boreo, dem die Hitze ebenfalls zu schaffen machte. Das Turnierjackett klebte überall fest, sie schwitzte aus jeder Pore ihres Körpers. Sie wünschte sich an den Waldsee. Doch jetzt stand erst noch ihre Reiterabschlussprüfung im Springen bevor – eine ganz normale Prüfung auf dem Reitinternat Schloss Rosenthal, auf dem Anja großgeworden war. Es gehörte ihren Eltern, die ebenfalls beide Reiter, Züchter und Lehrer waren.
„Als nächstes die Startnummer 420: Anja Klein im Sattel von Boreo bitte“, rief ihre Mutter Friederike Klein die Tochter auf. Sie war Reitlehrerin am Reitinternat geworden, nachdem sie Anjas Vater Steffan geheiratet hatte und die beiden auf das Internat seiner Eltern gezogen waren. Kennengelernt hatten sich Friederike und Steffan auf einem Reitturnier.
Anja stöhnte und raffte sich auf. Dass sie bei einer solchen Hitze tatsächlich noch ihre Abschlussprüfung für dieses Schuljahr zu reiten hatten, war unmenschlich und eine wahre Folter. Ihr Ponywallach schwitzte schon beim Stehen, wie würde er gleich aussehen, wenn sie durch den L-Parcours geritten waren?
Die jährlichen Abschlussprüfungen waren ein bisschen wie die praktische Sportprüfung in einer normalen Schule. Die Leistung, die bei dem nach Unterrichtsstoff aufgestellten Test benotet wurde, war ein Teil ihrer Note im Schulfach Reiten, das hier am Internat jeder belegte. Anja besuchte für wenige Wochen noch die achte Klasse, ihr Jahresthema im Reiten war die Prüfungsklasse Leicht . Aufgeteilt wurde die Prüfung auf drei Tage: Am ersten Tag wurde Dressur geritten, dann kam das Springen und zum Schluss mussten alle Reiter einen Geländeparcours überwinden. Für jede Sparte gab es eine Wertnote. Der Durchschnitt ergab durch eine Leistungstabelle die Schulnote, die gemeinsam mit der schriftlichen Klausur eine Gesamtnote ergab.
Boreo war ein echtes Springpony und begeisterte sich sofort, obwohl die Hitze draußen wirklich nicht zum Sport einlud. Der Fuchs ließ sich sicher durch den Parcours reiten, achtete auf die Hilfen seiner jungen Reiterin und warf keine Stange herunter. In der Kombination dachte er mit und am Ende erreichten Anja und Boreo eine 8,8 – eine wirklich sehr gute Leistung.
„Wieso kriegen wir kein Hitzefrei? Oder wenigstens Ausfall für den Reitunterricht?“, beschwerte sich Amelie, Anjas beste Freundin, als auch sie mit ihrem Schimmel Starbux aus dem Parcours kam. „Das kann man ja weder Mensch noch Tier zumuten.“
„Da stimme ich dir voll zu“, prustete Anja. Sie und Amelie waren Freundinnen seit dem Kindergarten. In der Grundschule waren sie schon in derselben Klasse gewesen. „Aber die Abschlussprüfungen müssen laufen. Und das ist vor dem Noteneintrag laut Wettervorhersage halt noch der kühlste Tag.“
„Heißt das, dass die anderen Tage noch heißer werden?“ Amelie war entsetzt und stieß ein jämmerliches Seufzen aus.
„Oh ja“, erwiderte Anja und ließ die Schultern hängen. Sie wollte nur ihr für diese Temperaturen absolut unpassendes Turnierjackett loswerden.
„Ich frag mich sowieso, warum wir nicht gechillt alle ’nen Ausflug zum Waldsee machen. Die Abschlussprüfungen sind doch eh morgen vorbei“, mischte sich auch Celina ein. Sie gehörte ebenfalls zur Clique dazu. Sie hatte Recht: Morgen würde noch der Geländeteil kommen, aber dann war das Schuljahr gelaufen. Danach könnte man echt einen entspannteren Unterricht planen. Doch gerade für die leistungsorientierten Schüler waren die Prüfungen drei besonders wichtige Tage.
„Wir können ja nach dem Mittagsessen zum Waldsee reiten und unser Leben chillen. Ich mach jedenfalls nichts anderes mehr, als mich irgendwo in den schattigsten Schatten zu pflanzen und so lange liegen zu bleiben, bis dieser Höllen-Sommer vorbei ist“, beschloss Amelie.
„Das kennt man ja eher weniger von dir“, entgegnete Anja kühl. Amelie war sehr leistungsorientiert – oder besser gesagt: ihre Eltern. Sie trimmten die 15-Jährige darauf, viel zu lernen und immer nur mit einer Eins zufrieden zu sein. Manchmal nervte das wirklich! Aber man durfte Amelie auf keinen Fall unterschätzen. Sie war ein Teufel; ein Teufel im Kostüm einer Prinzessin. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Die Jungs aus den höheren beiden Jahrgängen waren vor ihr nicht sicher. Ob ihre Eltern von Amelies – wie soll man sagen? – offenen Seite wussten, wagte Anja zu bezweifeln. Es würde ihnen nicht ins Konzept passen.
„Also ich bin auf jeden Fall dabei“, Celina trabte ihre hellbraune Hannoveranerstute Starlight an und ritt ein paar Zirkel und Volten. „Vielleicht will Olli ja auch mit.“
Ja, Oliver Claassen. Anjas Bauch zog sich zusammen. Olli war zwar genauso wie Celina und Amelie einer ihrer besten Freunde, schleppte er jedoch immer den Nachteil mit sich, dass er unerschöpflich in Anja verliebt war und einfach nicht akzeptieren wollte, dass ihr Herz einem anderen gehörte. Dieser andere war Phil.
Phil, dachte Anja mit einem Lächeln. Vor einem Jahr hatten sie sich im Sommer auf einem Reitlehrgang kennengelernt. Das waren die drei wundervollsten Wochen ihres Lebens gewesen. Anjas Leben war Phils Traumvorstellung. Sein Pferd Baltic Sea war ein erstklassiges Dressurwunder, mit dem Phil schon die Landesmeisterschaften gewonnen hatte. Und trotzdem wollten seine Eltern nicht, dass er zu ihnen auf das Internat umzog. Sie hatten Sorgen um seine guten Schulleistungen, die unter Anjas Einfluss leiden könnten. Beinahe waren seine Eltern noch schlimmer als die von Amelie, dachte Anja manchmal. Aber das wagte sie tatsächlich nur zu denken.
Philipp Brückner war fünfzehn Jahre alt und wohnte in Fulda, etwa eine Autostunde vom Internat entfernt. Anja sah ihren Freund nur selten und das war traurig. Ihre Eltern hätten nichts dagegen gehabt, wenn Phil aufs Internat gewollt hätte – aber eben seine Eltern. Und so wie es aussah, würde das auch erst mal so bleiben.
„Hab ich da grad meinen Namen gehört?“ Olli kam auf seiner Araberstute Schoki dazu und blieb neben Anja stehen. Er konnte es nicht lassen und zwinkerte ihr zu.
„Wir wollen heute nach der Schule zum Waldsee schwimmen gehen. Bock, mitzukommen?“, fragte Amelie stattdessen und Oliver nickte sofort.
„Auf jeden Fall. Ich brauch ’ne ordentliche Abkühlung“, er atmete tief durch. „Sollten die Ferien genauso werden, dann streike ich.“
„Und ich starte bei keinem einzigen Turnier, bei dem mich Mama und Papa mit Sky gemeldet haben“, Anja rollte mit den Augen. Sky war der Nachwuchshengst ihres Vaters, sein ganzer Stolz. Und Anja hatte die Ehre bekommen, ihn mittrainieren zu dürfen und ihn auf Turnieren vorzustellen. In den Sommerferien sollte sie mit ihm in der A-Klasse starten.
„Okay, Leute“, rief Friederike in diesem Moment. „Wir sind jetzt durch mit der Springprüfung. Man sieht euch an, dass ihr keine Lust mehr auf eine große Nachbesprechung habt. Seid nur morgen bitte pünktlich auf der Geländestrecke, damit wir genauso gut durchkommen wie heute. Ich wünsch euch einen entspannten Nachmittag“, mit diesen Worten entließ sie die Schüler in ihre Freizeit.
„Na endlich. Das wurde aber auch Zeit“, fand Anja und ließ sich aus dem klebrigen Sattel gleiten. Sie spürte nur noch den Schweiß auf ihrer Haut und wollte eigentlich nur noch unter die Dusche oder in den kühlen Waldsee springen; aber zuvor musste sie ihr Pony fertigmachen.
Boreo war ein sehr talentierter Ponywallach. Ein Endmaß-Pony, das etwas zu groß geraten war. Mit 1,50 Metern Stockmaß war Boreo offiziell kein Pony mehr, wurde aber durch seine Rasse dennoch als Pony geführt. Für die Zucht war er damals uninteressant geworden, da er nicht den Anforderungen entsprach. So hatte sich der freche Fuchs allerdings durch sein übernatürliches Geschick am Sprung durchgesetzt und war erfolgreich bis zur Klasse M auf Turnieren unterwegs gewesen und hatte nebenbei viele Meisterschaftstitel abgeräumt, bis er schließlich zu Anja gekommen war, als sie in die fünfte Klasse eingeschult wurde. Das war jetzt fast vier Jahre her und sie freute sich jeden Tag erneut, wenn sie aus ihrem Zimmer heraus auf die Koppeln blickte und ihren kleinen Rabauken entdeckte. Sie hatte Boreo sehr lieb und er war ihr ein und alles. Neben Phil natürlich.
„Los, Leute. Lasst uns unsere Sachen packen, bei Iris in der Küche was zum Mittagessen stibitzen und mit den Pferden zum Waldsee. Ich brauch ’ne Auszeit“, forderte Olli sie alle mit neuer Energie erfüllt auf.
„Ich hol‘ meine Sachen schnell aus meinem Zimmer“, rief Anja und joggte durch die brütende Hitze los Richtung Privathaus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Die Bernersennenhündin Marla kam ihr schwanzwedelnd entgegen, als sie die Haustür aufschloss, ihre Schuhe in die Ecke kickte und in die Kühle hineintrat. Entspannung.
„Was machst du denn schon hier?“, kam es ihr aus dem Wohnzimmer entgegen. Cedric. Ihr großer Bruder war siebzehn Jahre alt und hielt sich für den Größten. Mit seinem Pferd Spirit, das eigentlich Spirit’s Best hieß, war er nicht nur der Jahrgangsbeste, sondern auch noch Deutscher Jugendmeister der Vielseitigkeitsreiter in diesem Sommer geworden.
„Mama hat uns schon gehen lassen. Auf dem Platz verkokelt man und in der Halle verdampft man“, entgegnete Anja nur kühl und verschwand die Treppe hinauf in ihrem Zimmer. Sie hatte das Glück, ein sehr großes Zimmer mit einem eigenen Bad, einem Ankleidezimmer und einer Schlafkammer zu besitzen. Cedric hingegen musste sich das Bad mit den Eltern teilen, was ihm gar nicht gefiel. Aber so war das eben. Wenn er in zwei Jahren sein Abi haben würde, dann würde er sowieso ausziehen und fürs Studium weg sein. Das Reitinternat – so hatte er es schon vor zwei Jahren laut verkündet – wollte er nicht übernehmen. Umso schöner für mich , dachte Anja, denn es ist nicht nur mein zuhause, sondern auch mein absoluter Traum!
Die Sonne schien gnadenlos auf die Jugendlichen herab und spiegelte sich hell im Wasser, als sie sich am Waldsee einen freien Platz suchten, an dem sie ihre Picknickdecke ausbreiten und die Pferde nach dem Baden an einem Baum festbinden konnten.
„Ich fühl mich ja jetzt schon wie ’ne Sardine in der Büxe.“ Anja ließ ihren Blick über die Menschenmassen gleiten. Überall waren Menschen. Die grüne Wiese, der Sand – alles war von nackten Menschen und ihren Rucksäcken bedeckt.
„Wir hätten bis heute Abend warten müssen“, stellte Olli fest, als er sich das T-Shirt über den Kopf zog und Schoki den Sattel abnahm.
„Ja, und dann sind hier nur noch die angesoffenen Studenten, die schon Semesterferien haben, und der Rest liegt in den Büschen“, Celina sah ihn wenig begeistert an.
„Wer sagt denn, dass ich was dagegen hätte?“, zwinkerte Olli und die drei Mädchen stöhnten.
„Mensch, Oliver! Hör auf damit“, fauchte Amelie. Olli verkniff sich einen weiteren Kommentar und zuckte nur die Schultern.
Sie zogen sich schnell um und gingen dann mit den Pferden Richtung Waldsee. Vor ein paar Jahren hatte es eine Regelreform gegeben. In einem bestimmten Teil des Waldsees und zu bestimmten Uhrzeiten durften auch die Pferde ins Wasser. Auf dem Internat hatte man diesen Beschluss hoch gefeiert.
„Wollen wir die Pferde nach dem Ausflug dann duschen und für morgen gleich einflechten?“, schlug Anja Amelie vor.
„Logo“, sie zwinkerte ihr zu, dann machte Starbux, den sie seit der fünften Klasse als Reitbeteiligung ritt, einen Satz und seine Reiterin landete im angenehm kühlen Nass.
Olli lachte los, doch Celina schupste ihn von Schokis Rücken, sodass auch er ins Wasser flog. Anja rutschte freiwillig von Boreos Rücken und begann zu schwimmen. Das Wasser umspülte ihren überhitzten Körper und brachte die nötige Entspannung. Das hatte sie vermisst. Sofort dachte sie wieder an Phil …
Anja schlich ins Büro ihrer Mutter. Es war stockfinster. Sie hatte sich nicht getraut, das Licht anzumachen, immerhin durfte Friederike auf gar keinen Fall mitbekommen, dass Anja hier war. Olli und Amelie hatten sie dazu überredet, herauszufinden, welche Noten Frau Klein ihnen mit den Wertnoten geben würde, die sie am nächsten Abend nach der Geländeprüfung errechnet hatten. Eigentlich waren die Ansprüche hoch, aber Friederike hatte eine neue Bewertungstabelle erstellt. Jetzt waren sie natürlich alle gespannt.
Anja stieß irgendwo gegen. „Autsch!“ Sie humpelte im Dunklen hinüber zu dem Schreibtisch. Die Hand konnte man kaum vor Augen sehen. Warum hatten die Streber ausgerechnet sie losschicken müssen? Wenn Friederike etwas mitbekam, dann gäbe es Ärger – hundertprozentig.
Anja kramte in den Unterlagen ihrer Klasse. Irgendwann fand sie die Bewertung zwischen den ganzen Zetteln. Mama sollte sich unbedingt mal eine neue Ordnung anschaffen , fand sie und kniff die Augen zu, um die Ziffern lesen zu können. Da alle im 8er-Notenbereich waren, bekamen auch alle eine Eins. Anja freute sich und wurde unvorsichtig. Irgendetwas fiel vom Tisch herunter, als sie den Blätterstapel wieder in die Schublade zurücklegen wollte. Es knallte dumpf und im nächsten Moment hörte man, wie im Schlafzimmer der Eltern jemand aufstand. Anja konnte sich kaum schnell genug hinter dem Sessel verstecken, der im Arbeitszimmer stand, schon ging das Licht an.
„Hallo?“, hörte sie die Stimme ihrer verschlafenen Mutter. „Ist da jemand?“
Anja traute sich nicht, einen Blick zur Tür zu werfen, atmete fast gar nicht.
„Oh, Mann, ich glaube, ich werde alt“, sagte Friederike Klein und Anja musste ein Kichern unterdrücken. Das Licht erlosch und die Tür ging zu. Erleichtert atmete sie aus und bekam einen Schrecken. Was, wenn Mom jetzt in meinem Zimmer schauen wird, ob ich auch schlafe? Dann würde alles auffliegen!
Sie bekam Panik, schob schnell die Schublade zu und schlich in ihr Zimmer. Anscheinend war Friederike zu müde gewesen und direkt wieder ins Bett gegangen. Anja zog sich die Decke bis zum Kinn und schlief sofort ein.