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Leiden auf Ausländisch

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Eine Zeitlang war ich Spätaussiedler, seit einigen Jahren heißt es, ich hätte einen Migrationshintergrund. Egal, ich bin schon in Ordnung: Ich bezahle brav meine Steuer, zumal die mir eh automatisch abgezogen werden; ich schimpfe nicht öffentlich über die Penner, die sich vor Castortransporte an die Gleisen anketten, und nicke verständnisvoll den Leuten zu, die mir erklären, dass ich von meiner Rente nicht mal die Miete werde bezahlen können.

Ich bin normal, was soll’s.

Und, wie jeder normale Mensch, freue ich mich sinnlich auf Freitagnachmittage: Um zwei ist Feierabend, ich verabschiede mich mit einem innigen Seufzer von meiner Tätigkeit – die mir selbstverständlich sehr viel Spaß bereitet –, und mit einem heiter gesungenen Schönes Wochenende! von den Kollegen, dann verschwinde ich so schnell es nur geht; in der letzten Zeit ohne mehr darüber zu grübeln, ob Feierabend, lexikalisch betrachtet, so universell einsetzbar sei. Meine Frau fährt ungefähr um dieselbe Zeit weg von ihrer Arbeit – die ihr auch sehr viel Spaß macht, und zwar direkt in die Altstadt, auf ihre unantastbare, gottgesegnete Bummeltour; und somit bleiben mir einige Stunden allein für mich. Zuhause.

Heiter und fröhlich begann auch dieser Nachmittag, trotz Novemberkälte, und ich wusste, wie alles ablaufen würde: Zuerst mal staubsaugen – jedoch ohne zu übertreiben; dann eine Tiefkühlpizza, darauf ein starker Kaffee mit viel, nein – mit Unmengen von Zucker, und schließlich Relaxliege und Supertramp. Ganz laut und mit einer törichten, bunten Zeitschrift vor der Nase – Autos, zum Beispiel ... Na gut, allzu laut vielleicht doch nicht, sonst flippen die Nachbarn aus. Die bärtige Babuschka von oben ganz bestimmt nicht, aber irgendeiner würde sich schon finden, wir haben Kinder.

Alles ging glatt, wie schon vorgedacht, bis ich meine Pizza auszupacken anfing: Telefon. Es konnte nur Mari sein, die fragen würde, ob sie Brot kaufen sollte, und wenn ja, was für welches, und das alles nur damit ich später nicht behaupten kann, dass sie nicht gefragt hätte...

„Costi, bist du’s?”

Die Schwiegermutter. Ausnahmsweise mit einer gequälten, nahezu weinerlichen Stimme. Und Costi, nicht Constantin.

„Ist die Mari nicht da?”

„Nein, sie ist in der Stadt.”

Aber das wusste sie doch, und somit rief sie freitags nie an, nie.

„Es geht mir nicht gut ... Seit vier Tagen schon, aber jetzt kann ich’s wirklich nicht mehr aushalten, ich fühl‘ mich regelrecht wie vorm Sterben ...”

Fuck! Es musste so kommen! Meine Frau gehört nämlich einer Gattung an, deren Mitglieder am Heiligabend eine dicke Backe kriegen, nachdem der Zahn schon am zweiten Advent zu stechen angefangen hatte.

„Gut”, sagte ich, gewollt sachlich, wie einer, der alles im Griff hat. „Legen Sie jetzt bitte auf und bleiben Sie neben dem Apparat, ich werde ... Ich rufe gleich zurück.”

Überflüssig, sie würde sich eh nicht vom Fleck rühren, bevor einer von uns vorbeikommt, das tut sie nie, wenn sie ein Problem hat – ob es um einen banal tröpfelnden Wasserhahn, einen aufgeschwollenen Ringfinger oder eine fast tote, sich aber noch bewegende Kellerassel hinter der Kloschüssel handelt.

Ich tippte zähnebeißend und resolut Maris Handynummer ein: Nein, ich würde nichts Weiteres unternehmen, sie sollte bitte selber hinfahren und nach dem Rechten schauen ... Ja! Klar doch, wie würde ich ja, mit meinem Deutsch, das immer dann an Form und Substanz zu verlieren pflegte, wenn ich mit den Einheimischen sprechen musste, in solch‘ eine Situation zurechtkommen? Zum Beispiel, wenn Schwiegermutter plötzlich in Ohnmacht fallen würde oder so ... Ja, wie würde ich, in aller Klarheit, Meine Schwiegermutter ist in Ohnmacht gefallen aussprechen? Nach einem kräftigen Schwung und die darauf folgende Blockade würde ich es im besten Fall zu so was wie Meine Schwiegermutters Oma ist umgekippt bringen ... Wobei Mari den Erste-Hilfe-Lehrgang für die Fahrschule erst vor Kurzem hinter sich hatte, fiel mir helfend ein, also ... Und wie würde es aussehen, wenn ich, als Angehöriger, die Kranke in irgendeinem Raum begleiten und zuschauen müsste, wie sie sich auszieht? Sich freimacht. Ja, und schließlich war es ihre Mutter. So.

Nach etlichen Verwählern ließ mich eine hocherotisierte Frauenstimme wissen, dass die von mir gewünschte Nummer zu der Zeit leider nicht erreichbar sei. Toll. Maris Akku war wieder einmal leer, oder sie hatte ihr Handy mit Absicht ausgeschaltet, um sich einen schönen, ungestörten Nachmittag zu verschaffen. Ja. Konnte ich vergessen.

„Schwiegermutter? Noch mal, worum geht es denn?”

Ich kochte bereits, musste aber meine Stimme bändigen – ich war doch ein höflicher, aufmerksamer Schwiegersohn, und nicht etwa der gefürchtete grobe Rumäne, der damals in ihr Haus in Temeswar eingeheiratet hatte.

„Ja, ich habe grausame Schmerzen im Nacken, im Rücken, im Bauch, mein Kopf tut furchtbar weh, mein ganzer Oberkörper ist völlig steif ... Aber auch die Beine, ich konnte kaum vom Bett aussteigen, bin fast auf allen Vieren zum Telefon gekrochen ...”

Es folgten ein unterirdischer Seufzer, dann die erstaunlich kurze, dafür umso präzisere Anamnese: Bereits am Dienstag ist es ihr so ergangen, dann am Mittwoch wurde es schlimmer, dann am Donnerstag, so, gegen Mittag, ging es wieder, einigermaßen, also dachte sie, alles wäre vorbei, sie hatte sogar ein bisschen aufgeräumt, dann ihre Haare gemacht ...

„Aber wieso sind Sie bis jetzt nicht zu Ihrem Hausarzt gegangen? Und warum haben Sie bis jetzt nichts gesagt? Sie haben erst gestern Abend mit Mari telefoniert!”

Zittriger Seufzer und Pause, – darauf hätte ich um ein freistehendes Haus wetten können.

„Ja, warum ... Ich wollte euch keine Umstände machen, du kennst mich doch, ich wollte euch nicht zu Lasten fallen – ihr habt schon eure Probleme bei der Arbeit und überall ... Die Mari ist immer so gereizt und schlecht gelaunt, du bist auch ständig müde ...”

„Ich bin in zehn Minuten da.”

Als ich ihr Appartement betrat stand sie in der Diele, in Hauspantoffeln und Morgenrock übers Nachthemd, bocksteif am Telefontisch gestützt, und sah tatsächlich nicht umwerfend gut aus: Ihr Gesicht erinnerte stark an eine rohe Leber, nur deutlich verkrampfter – jetzt hätte ich das freistehende Haus wieder verloren. Ich bekam die ganze Lage noch einmal geschildert, kein Detail blieb verschwiegen – ja, nicht ein einziger nennenswerter Körperteil war noch übrig geblieben, welcher irgendwie nicht in Mitleidenschaft gezogen war.

„Aber geraucht haben Sie trotzdem!”, murmelte ich düster, kopfschüttelnd.

Der riesige Aschenbecher auf ihrem Nachttisch quoll über.

Ich war so aufgebracht, dass ich es fast deutlich machte. Aber sie kreuzte mühsam ihre Hände über den Bauch, stöhnte ausdrucksvoll, und ich milderte den Ton um eine Note:

„Ich rufe den Notarzt, was soll’s ...”

Die Nummer stand groß und rot und fett gedruckt auf das DIN A4, das ich damals selber auf die Wand, oberhalb ihres Telefontisches angebracht hatte. In einem einigermaßen vertretbaren passe-partout eingerahmt, damit es nicht so asozial aussieht. Und da befanden sich sämtliche wichtige Rufnummern, jene von Maris Handy inklusive – auch in Arial 18, kardinalrot und kardinalfett. Nur vielleicht zu lang, und auch noch mit einer Null am Anfang – so was kann einen skeptisch machen, nicht wahr.

Erneut empfing mich eine lüsterne Frauenstimme vom Band, die mir mitteilte, dass die Stelle erst ab neunzehn Uhr besetzt sein würde, ich sollte mich bitte an meinem Hausarzt wenden oder, in dringendem Fall, sollte ich die 112 wählen.

„Soll ich denn diesen Zementzky anrufen?”

„Nein!”, kam sofort die kategorische Antwort. „Den will ich nie und nimmer wieder sehen!”

Tja, es war tatsächlich dumm gewesen, sowas zu fragen – ich wusste wohl schon seit ein paar Jahren, dass sämtliche Allgemeinärzte bundesweit, oder zumindest jene auf einem Kilometer Radius von ihrer Wohnung entfernt, lauter inkompetente, eingebildete Scharlatane waren.

„Na dann muss ich halt einen Krankenwagen bestellen.”

Meine Schwiegermutter schien auch von dieser Idee nicht unbedingt entzückt zu sein: Sie schüttelte ratlos den Kopf, drehte sich dann mit einer enttäuschten Miene um, wankte zögerlich bis hinter den Fernsehsessel und griff die dicke Rücklehne mit zittrigen Händen. Ich betrachtete eine Weile, vom Profil her, ihren zusammengebissenen Mund und wünschte mir sehr, dass mir etwas Großartiges einfällt, eine blitzschnelle, effiziente Lösung, irgendwas ... Oder zumindest ein passender Spruch. Ich hatte schon lange mitbekommen, dass sie sich immer einen Arzt als Schwiegersohn gewünscht hatte – einen großen, berühmten Doktor, mit Publikationen, einen universitären Lehrstuhl und Terminen in acht Monaten, eventuell einen Nervenchirurgen – so, in der Richtung. Oder zumindest einen Deutschen.

„Soll ich ihnen einen Tee kochen? Ich meine, etwas so ... aus Heilpflanzen, was weiß ich ...”

Mein Blick bewegte sich hilflos zu ihrer zerklüfteten Kochnische, die in einer Ecke des Zimmers eingebaut war.

„Die Mari ist in der Stadt ...” seufzte sie, verzweifelt.

Tja. Und ich stand da rum, Rumäne und Nichtarzt, und wusste nicht weiter. War nicht einmal sicher, ob man einen Krankenwagen bestellt, wie ein Taxi, oder man ruft einen, einfach. Und die verdammten Läden würden erst um acht schließen, die Öffnungszeiten müssen kundenfreundlich sein, nicht wahr, sonst würde die wirtschaftliche Konjunktur nie wieder anspringen, und die Chinesen würden uns niederwalzen. Der zögernder Konjunktur zugute würde meine Frau frühestens um halb neun erscheinen, mit ihren Einkaufstüten von Billigläden voll bepackt, keine verdammte Minute früher! Klar, sie hat doch auch das Recht, sich mal zu entspannen, was habe ich schon von der Woche?

Plötzlich fing ich an, so, mir nichts – dir nichts, verschiedene Diagnosen zu formulieren, und fragte mich dabei, warum ich es tue. Na ja, jeder fühlt sich irgendwie verpflichtet, wenn es um das Leiden eines anwesenden Zeitgenossen geht, seinen Senf dazu zu geben, das ist immer so. Aber Schwiegermutter rümpfte nur die Nase und starrte schmollend ins Leere. Ich überlegte, ob ich sie fragen sollte, was sie eigentlich vorschlagen würde, oder was genau sie von mir erwartete – wie ich vor kurzem in einem von der Firma bezahlten Konfliktmanagement-Seminar erfahren hatte – aber ihre Einstellung machte es mir deutlich, dass sie meinerseits überhaupt nichts erwartete. Also musste ich handeln, wenn ich nicht noch mehr an Gesicht verlieren wollte:

„Ja, ich rufe den Krankenwagen.”

Die Leute kamen schnell und, Gott sei Dank, ohne Martinshorn – die von mir am Telefon gestotterte Symptomenbeschreibung war offensichtlich nicht gerade niederschmetternd gewesen. Oder die Tatsache, dass die Patientin 70 war, durfte auch eine Rolle spielen? Damals, in Rumänien, wenn ein löffelabgebender Patient im Rentenalter war, da kam kein Schwein. Aber das war ja damals, und nur noch meine Schwiegermutter pflegte den ganzen Tag und ewig unaufgefordert über jene Zeiten zu labern.

Einer der in spektakulären Feuerwehranzügen bekleideten Männer befragte sie leise und sachlich, maß unbeteiligt ihr Blutdruck und zuckte schließlich die Schulter.

„Unser Notarzt ist leider woanders unterwegs, wir müssen Sie dann mitnehmen.”

Schwiegermutter wollte partout nicht auf die Trage, und die beiden Sanitäter atmeten fast offenbar erleichtert auf – sie ist zwar eher klein, dafür sehr kräftig – wie man hierzulande so schön sagt. Sie tapste schräg und langsam, auf ihre resigniert-zögernden eigenen Beinen, die Treppe hinunter, mit beiden Händen das Geländer umklammernd, sodass ich eh nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, sie an den Arm zu stützen. Die Männer trampelten ernst und in angepasstem Rhythmus in ihren schweren Stiefeln voraus, mit der Trage und dem genauso nutzlosen Medizinkoffer, bereit für den Fall, dass sie die tapfere Dame doch auffangen müssten. Ich folgte ihr, stets zwei Stufen höher, schön sachte, und innig betend, dass die Nachbarn nichts mitkriegen und ihre Köpfe aus den Türspalten rausstrecken. Der zweite Stock ... Dann eine Ewigkeit ... Der erste Stock ... Und sie wollte damals von der Zweizimmerbude in dem Wohnblock mit Aufzug, paar Ecken von uns, gar nicht hören, wie, mit dem ganzen Gesindel da?

Endlich das Erdgeschoss, schön langsam an der Briefkastenreihe vorbei ... Wenn sie jetzt noch nach der Post nachschaut, dann ...

„Äh”, wendete sich einer der Retter mir zu, der wie ein Italiener aussah, rheinländisch sprach und eine Art Team-Chef zu sein schien, „wenn Sie mitkommen wollen, dann müssen Sie nachfahren, sind Sie motorisiert?”

Ich nickte brav.

„Die Dame wird im Sankt-Andreas eingeliefert, wissen Sie, wo dat is‘?”

Nach einer Fahrt durch den Feierabendverkehr, die wie eine Verfolgungsjagd in Zeitlupe aussah, bog der sperrige, wie für Bahnkatastrophen dimensionierte Rettungswagen in den Krankenhaushof hinein, und zwei Sekunden später senkte sich eine abweisende Schranke unerbittlich vor meiner Stoßstange zu. Ich trat wild auf die Bremse, fluchte gedämpft und grauenhaft auf Rumänisch durch zusammengebissenen Zähnen, legte mit durchdrehenden Rädern zurück und fing anschließend an, in der frühen Novemberdämmerung, nach einer freien Parkstelle auf den Straßen rund um das riesige Gebäude zu suchen.

Eine halbe Stunde später stand ich demütig vor der Auskunft, und eine putzige Dame mit Designer-Brille auf der Nase wies mir, deutlich artikulierend und abwesend lächelnd, den Weg zur Ambulanz.

„Ist auch überall ausgeschildert”, versicherte mir die Frau zum Schluss, nachdem sie über die Designer-Brille flüchtig mein Gesicht betrachtet hatte, als ob sie sich doch noch vergewissern wollte, ob ich lesen konnte, also nickte ich selbstbewusst und machte mich munter auf den Weg.

Glücklicherweise stimmte ihre Aussage, an jeder Ecke waren Schilder und Pfeile angebracht, wie für verzweifelte Menschen halt, so dass, am Ende von unzähligen Korridore, die quer und um das ganze Krankenhaus zu führen schienen, und nachdem ein Dutzend spektakuläre, selbstöffnende Türen mir den Weg frei machten, ich siegesfroh den stark beleuchteten Raum fand, mitten dessen ein riesiger Rollstuhl stand, in welchem meine Schwiegermutter saß, Kopf tief zwischen den Schultern eingedrückt.

„Na endlich!”

Ihre Gesichtsfarbe schien mir nicht mehr so furchterregend, dafür hatte ihre Stimme deutlich an Schärfe gewonnen.

„Ich habe keinen Parkplatz gekriegt, tut mir leid.”

„Und wo ist das Auto jetzt?”

„Am Bahnhof.”

„Am Bahnhof!”

Sie war sichtlich aufgeregt, aber meine Ankunft schien sie doch etwas beruhigt zu haben, was mich auch ein bisschen stolz machte. Ich blieb einige Augenblicke vor ihr stehen und sah mich um, die Daumen unter die Rucksackriemen gezwängt. An zwei der Wänden waren Stuhlreihen angebracht, und da saßen die anderen Notfälle: ein Handwerker im Blaumann, der gebückt nach vorne saß und seine Unterarme an den Bauch presste; eine junge Frau, die eine bandagierte Hand ausgestreckt auf dem Knie hielt; eine mutmaßliche Mutter neben einem Knirps, der ein dickes Pflaster auf das linke Auge geklebt hatte und eine Brille trug, von der die Linse vor dem gepflasterten Auge fehlte; schließlich, zwei nebeneinander sitzende ältere Herrschaften, die ein Paar sein durften und keine sichtbaren Leiden zeigten – außer sie waren beide sehr blass und machten einen beängstigten Eindruck. Alle schwiegen und betrachteten uns, mehr oder weniger offensichtlich.

„Setz dich irgendwohin”, befahl Schwiegermutter ärgerlichen Tones, „das hier wird sicherlich noch dauern, das kann ich dir schon sagen!”

Ich schob den Rollstuhl – der furchtbar quietschte und in der Tat so riesig war, dass er Schwiegermutter wie einen Zwerg aussehen ließ – vor einem freien Sitz, dann setzte ich mich ihr gegenüber und fragte sie leise, wie es ihr ging.

„Na genau so”, sagte sie, viel lauter, als es nötig war. „Und da tut sich nichts, aber ganz und gar nichts. Die haben mich in diese Karre eingekippt, dann da rein geschoben und mir gesagt, ich sollte warten. Einfach so, warten Sie schön hier, haben sie gesagt. Ja, und jetzt sitzen sie dort drin‘ und trinken Kaffee, und ich warte schön!”

Ich drehte diskret meinen Kopf und beobachtete die Nische, die in eine Ecke des Raumes eingebaut war, aus Holzplatten und Glasscheiben, mit einer engen Glastür und ein Schalter; darin hielten sich zwei Frauen in dunkelroten Kitteln auf, die zwar keinen Kaffee tranken, sondern sich schweigend mit etlichen Papieren und Ordnern beschäftigten. Hinter der Nische war eine riesige Glaswand, die auf den für mich verbotenen Hof blickte; von dem Platz, wo ich saß, konnte man einen hohen, von Neonröhren grell beleuchteten Carport sehen, und darunter ein riesiger, rot-gelber Krankenwagen mit weit offen gelassenen Türen – wahrscheinlich derselbe, der meine Schwiegermutter hergebracht hatte.

„Wurden Sie schon von einem Arzt gesehen?”, fragte ich leise. „Ich meine so, für einen ersten Eindruck, zumindest ...”

„Von wegen!”, rief sie überlaut. „Eine von diesen beiden ... Pförtnerinnen oder ... Putzfrauen hat mich in Empfang genommen, mich kurz gefragt, was ich habe, dann hat sie mir ein Blatt in die Hände gedrückt, das ich ausfüllen musste ... Stell dir vor, ohne Brille!”

Sie litt an einer für ihr Alter normalen Sehschwäche, trug aber ihre Brille nie, außer zuhause, beim Lesen, weil sie fürchtete, die stünde ihr nicht. Ich merkte erst jetzt, dass sie nicht einmal ihre Handtasche mitgenommen hatte, was merkwürdig war. Das war ein Zeichen, dass es ihr tatsächlich schlecht ging, also nahm ich mir vor, sie möglichst mitfühlend zu behandeln.

„Name, Vorname, Geburtsdatum, Adresse und all das Zeug musste ich eintragen”, fuhr sie aufgebracht fort, „wie auf einem Polizeirevier! Nur in Rumänien hab‘ ich noch sowas erlebt, das kann ich dir sagen! Ein blöder Bogen anstatt von einem Beruhigungsmittel, nicht einmal ein Aspirin haben die mir gereicht!”

Sie sprach nach wie vor sehr laut, obwohl sie kaum ein Meter von mir entfernt war, und, so wie ich nun saß, konnte ich sämtliche andere Wartenden gut sehen: Die waren alle weiterhin still und, obwohl keiner uns unmittelbar anschaute, war es klar, dass alle mithörten – bei der Lautstärke meiner Schwiegermutter war das sowieso unvermeidlich. Nur der Knirps betrachtete, irgendwie fasziniert, mit seinem heilen, wässrigblauen Auge die hochgekämmten Locken auf dem Scheitel meiner Schwiegermutter – offenbar eins ihrer wenigen Bestandteile, die von hinten zu sehen waren. Es schien mir, dass seine rechte, nicht zugeklebte Augenbraue, sich in Zusammenklang mit den von Schwiegermutter produzierten Tönen erhob und senkte.

„Weißt du, welche Schmerzen ich habe?”

„Ich habe ein Aspirin bei mir!”, hellte ich auf und streckte hektisch die Hand nach meinem Rucksack, unter dem Sitz.

„Nein”, winkte sie energisch ab, „das würde mir noch fehlen, bei dieser Übelkeit. Seit gestern Abend kann mein Magen nichts mehr halten, gar nichts! Stell dir vor, du hast einen steifen Nacken, höllische Kopfschmerzen, und du kannst nichts dagegen einnehmen!”

Aha, jetzt wusste ich: Der kleine Junge in Mr. Bean hatte kein gepflastertes Auge, sondern einen Topf um die Birne eingedrückt ... und eine Brille trug er auch nicht ... oder doch?

„Sie kommen schon bald dran”, sagte ich ermunternd, „dann wird man Ihnen etwas einspritzen.”

„Und wann, bitte schön?”, explodierte sie erneut, mit so einer Wucht, dass nicht nur unsere Leidensgenossen aufschreckten, sondern sogar die zwei Damen in den Glaskäfig ihre Blicke von dem Papierkram hoben. „Vielleicht nachdem ich in diesen schäbigen Stuhl zusammengebrochen bin? Weißt du, ich dachte, das hier sei ein zivilisiertes Land, wo ein kranker Mensch ordentlich behandelt wird – und zwar sofort, nicht wenn das Personal dazu Lust hat! Das sind regelrechte Ostblockverhältnisse, das sag‘ ich dir! Aber was rede ich da? Sogar in Rumänien sind die Ärzte und Schwestern mit den Patienten sorgfältiger umgegangen, da hat dich keiner auf irgendeinem Flur mit unerträglichen Schmerzen vergessen, wie ein Vieh ...”

Sie machte so weiter, in Crescendo, wobei ihr üblicherweise gepflegtes, fast akzentfreies Deutsch hie und da ihrem Banater Dialekt wich, welches sogar mit rumänischen Wörtern und Redewendungen gespickt war. Jetzt schauten ihr alle anderen Patienten in die Scheitellocken, und die junge Frau mit bandagierter Hand sendete mir, nach einer äußerst heftigen Passage, einen kurzen, irgendwie mitgefühlsvollen Blick zu. Der kleine Zyklop rückte näher an seiner mutmaßlichen Mutter, flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann schmunzelten sie beide.

„Warten Sie ein Moment”, unterbrach ich nach einiger Zeit, mit erstickter Stimme, die Schimpfwörterkaskade, die auf meine gesunkene, mittlerweile sich nass anfühlende Stirn prallte. Ich stand hektisch und verzweifelt auf, und richtete mich tapfer zum Schalter, bevor die zwei Insassen selber raus kämen und uns fesselten.

„Guten Abend, ich bin ... ein Angehöriger dieser Dame ... der Schwiegermutter ... äh ... Ich wollte nur fragen ...” lallte ich erstickt – und weiter ging dann nichts mehr, weil ich eigentlich nicht mehr so ganz genau wusste, was ich fragen wollte. Hätte ich es auch gewusst, hätte die Zeit für die drei Schritte zwischen meinem Sitz und dem Schalter nicht ausgereicht, um eine einigermaßen verständliche Aussage vorzubereiten und sie im Gehirn paar Mal zu üben. Wären mir einige Minuten zur Verfügung gestanden, hätte ich zusätzlich eine richtige Entscheidung treffen können, zumindest was meine Grußformel betraf: Als erstes wusste ich jetzt nicht, ob man die Dämmerung von draußen schon als Abend bezeichnen durfte, dann ob ich die Frauen nun überhaupt doch begrüßen sollte – was ich nach meiner Ankunft nicht unmissverständlich getan hatte, da sie sich eigentlich in eine andere Räumlichkeit befanden, sodass ... Oder hatte ich bereits? Und, noch mal, wenn überhaupt, dann sollte ich Hallo sagen? – oder wäre das zu familiär gewesen? Schließlich befand ich mich ja in eine sehr ernsthafte Institution. Wie oft schon hatte ich mich in Apotheken mit Tschüss verabschiedet, und mir wurde ein nachdrückliches Aufff Wiederssseehen nachgeworfen ... Aber die Jüngere von den beiden Damen, die vermutlich doch eine Art Krankenschwestern waren – jetzt fiel mir auf, dass sie weiße Latschen trugen – stand auf hinter den Schalter und kam mir mit einer fast freundlichen, besser gesagt säuerlich belustigten Stimme entgegen:

„Ja, junger Mann, schon in Ordnung, da drin‘ kriegt man schon so manches mit ... Also, der Herr, es sieht folgender Maßen aus: Wir haben zurzeit einen einzigen Arzt auf der Ambulanz, und er ist gerade mit einer Patientin beschäftigt, die mit einer ernsten Verletzung eingeliefert worden ist. Dazu noch, ist an unser Röntgengerät ein Defekt eingetreten, aber es wird bereits daran gearbeitet, der Techniker kümmert sich gerade um ein Ersatzteil. So. Und, glauben Sie’s mir, das alles habe ich Ihrer Angehörigen direkt nach ihrer Einlieferung mitgeteilt, mit der entsprechenden Entschuldigung und mit der Bitte um etwas Geduld ...”

In dem Moment hörte ich das hastige Quietschen des Rollstuhls hinter mir und gleich darauf Schwiegermutters in Gift getränkter Stimme:

„Geduld sagten Sie? Geduld, ja? Das ist ja das Allerletzte! Ich hocke seit einer Stunde rum, wie ein Dobitoc, obwohl ich nicht wegen einer Lappalie mit dem Krankenwagen rein gebracht worden bin! So, und jetzt soll ich Geduld haben! Ja, sagen Sie mal, was hat eigentlich ernst für Sie für eine Bedeutung? Wissen Sie was? Hätte ich nur gewusst, wie man hier mit den Patienten so umgeht, wäre ich einfach zuhause geblieben und hätte mir kalte Kompressen angelegt, das hätte mir auf jeden Fall mehr gebracht! Und was sind das für Geräte, bitte schön, die ausgerechnet dann kaputt gehen, wenn ihr Wartesaal voller Leidenden steckt? Gibt’s hier so was wie ein Ersatzgerät nicht? Ja, und was heißt denn, bitte schön, wir haben nur einen einzigen Arzt? Ist das hier eine Ambulanz oder etwa eine Bäckerei? Jetzt sag‘ ich Ihnen was, so eine Schweinerei konnte man vielleicht in so einem Land wie Rumänien, in den Dorfkinos erleben: War der Projektor kaputt oder der Filmvorführer betrunken, so standen die Leute vor der Tür bis irgendeiner herausfand, was los war, dann gingen sie alle nachhause!”

Die junge Schwester hörte schweigsam der ganzen Tirade zu – sie wollte nicht einmal wissen, was Dobitoc bedeutet. Am Ende saugte sie sich flüchtig die Oberlippe, griff dann zu einem ihrer Telefone auf dem Pult, wählte eine kurze Nummer, wechselte leise ein paar knappe Sätze mit dem Sprechpartner, legte schließlich mit Nachdruck auf und kam raus aus der Loge.

„Soo, Frau Ssssch...tscherdar ...”

Szerdar!”, fiel ihr Schwiegermutter zornig ins Wort. „Mit Es-Zett!”

„Wir gehen jetzt schön woanders”, sagte die Schwester, professionell gelassen, „und Sie werden dort in aller Ruhe auf Ihre Reihe warten können, ja?”

Sie trat flink hinter den Rollstuhl, deutete mir mit einer häuptlingartigen Kopfbewegung, ich sollte folgen, dann packte sie die an der Rücklehne montierten Handgriffe und schob das quietschende Fahrzeug in einem seitlichen, dunklen Korridor hinein; alles so zügig, dass ich es kaum noch schaffte, meinen Rucksack vom Boden auf zu angeln. Schwiegermutter hielt inne während der kurzen, quietschenden Fahrt, und ich glaubte plötzlich zumindest einen Grund entdeckt zu haben, warum man sie in diesem Gefährt gesteckt und sie nicht neben den anderen, so himmlisch ruhigen Patienten gesetzt hatte.

Wir kamen gleich in einen kleineren, nur spärlich beleuchteten Raum an, wo sich lediglich ein Schrank, ein Krankenhausbett und ein Schraubhocker befanden. Die Schwester stoppte den Rollstuhl vor dem Hocker und trat energisch auf ein wie darauf beleidigt knarrendes Pedal in der Nähe der Füße meiner sich jetzt konzentriert umsehenden Angehörigen.

„Der Stuhl ist nun abgebremst”, sagte die Schwester zu mir, mit einem versichernden Augenschlag und einem ausdruckslosen Lächeln, dann wendete sie sich zu der Patientin:

„Sie werden jetzt noch ein Weilchen hier sitzen und mit dem tapferen jungen Herren da ein bisschen plaudern, ja? Und wenn es so weit ist, werden Sie schnellstmöglich abgeholt, ok?”

Dann ging sie, ohne es erfahren zu haben, ob das ok war oder nicht, und zog eilig die Tür hinter sich zu.

In den darauf folgenden ungefähr zwei Stunden erzählte mir Schwiegermutter alles.

ALLES.

Wie es damals gewesen war, da drüben. Und zwar alles, was ich damals als Kind, dann als junger Mann, als frischgebackener und später als altgebackener Schwiegersohn miterlebt hatte, und dasselbe, was sie mir und anderen mehrere dutzend Male erzählt hatte, seitdem wir den Weg in die neue Heimat gefunden hatten. Unter anderem wurde ihre Gallenoperation ausgiebig und überzeugend Révue passiert. Selbstverständlich vergas sie dabei den Chefarzt nicht, Professor Doktor Munteanu, den allerbesten Chirurgen in Temeswar, der ihr sogar die post-operatorische Infektion – Schwiegermutter ist immer sehr fit in Sachen Medizin gewesen – , höchstpersönlich behandelt hatte, sogar mit tatsächlich wirksamer Antibiotika-Salbe aus dem Ausland, „so was bekam nicht jeder Penner”, das müsste jetzt gleich fallen ...

„Und eines sag‘ ich dir, Constantin, so was bekam nicht jeder Penner!”

Und ich würde vielleicht doch irgendwann mal ein freistehendes Haus besitzen ...

Nach einer Weile, schon lange nachdem meine Mimik sich brav und von alleine nach dem Tonfall und Intensität ihrer Aussagen richtete – ein gesichtsloser Verwandter dieser Einstellung hieß bei Mari der Automat-Pilot, auf dem sie oft, bei ihren nimmer endenden Telefongesprächen mit Mami, mit einer Zeitschrift in der Hand umzuschalten pflegte, fragte ich mich, warum Sanitäter eben Sanitäter heißen, und fing an, in meinem Hirn nach weiteren Wörtern zu stöbern, die in – täter endeten ... Schön sachte und methodisch ... Na ja, mit bescheidenem Erfolg – Schwiegermutters Diskurs war doch viel zu markerschütternd und sie gestikulierte viel zu heftig. Meine Konzentration bedürfte etwas mehr Anstrengung ...

Also, noch einmal: Ein Täter tut halt etwas, das war schon mal klar. Ein Wohltäter, zum Beispiel ...

Nein, irgendwie führte das alle ins Nichts. Sicher war es auf jeden Fall – darüber hatte ich schon einige Male nachgedacht, beim Fernsehen, dass die Deutschen die Begriffe Gastronomie und Gastwirtschaft als etymologisch verwandt zusammen brachten. Wobei sogar Schwiegermutter könnte es wissen, dass Gastros ... Ja klar wusste sie das, sie war auf das Gymnasium bei den Nonnen gewesen, und unterrichtet war sie fast ausschließlich von Geistlichen gewesen, ausnahmslos Doktoren. Der Theologie, natürlich, aber nicht nur ... Zum Beispiel Doktor Berlitz, der Französischlehrer – wie oft hatte ich schon erfahren, dass Doktor Berlitz der Inbegriff vom französischen Akzent gewesen war, und zwar nicht nur in Temeswar, sondern in ganz Banat – klar doch, er hatte wohl nach dem ersten Weltkrieg in der Sorbonne studiert, und der hatte ein Akzent! Der Akzent des Doktor Berlitz war sogar besser gewesen, hatte Schwiegermutter festgestellt, als jener, der in französischen Filmen zu hören war, damals ... Blöd nur, dass, nach ’47 nur noch törichte russische Filme gezeigt wurden und somit ist Schwiegermutters von Doktor Berlitz aufpolierter Akzent allmählich und unerbittlich verloren gegangen, wer sprach noch damals französisch in Rumänien, die blöden Parteikader etwa?

Tja, fiel mir bei der Gelegenheit ein, sind eigentlich Nonnen auch als Geistliche betrachtet, oder einfach als Nonnen ... Also als Frauen, bei den Katholiken ... Nonna bedeutet Oma, auf Italienisch, Nonno ist Opa, aber die Mönche heißen nicht Nonner, auf Deutsch, sondern ...

„Nee-nee, das soll mir keiner erzählen!”, rief Schwiegermutter giftig auf, als Abschluss eines lebhaften Absatzes, als sich meine Gedanken schon bei der Frage festgefahren hatten, ob die Bezeichnung für das mongolische Zelt mit y oder doch mit j geschrieben wird – wie Joghurt, zum Beispiel, welches auch mal mit ... also vielleicht nach der neuesten Schreibreform ...

Aber jetzt war Schwiegermutters Bauchspeicheldrüse dran, die auch von einer Koryphäe operiert worden war – zwar kein Prof.-Dr., aber immerhin von einer sehr guten Familie, das war schon klar.

„Wie hieß er nur?”

Ich wusste es auch nicht mehr.

„Aber gut war er, keine Frage, ja brillant, würd‘ ich sagen, der hat es mittlerweile ganz bestimmt zur Professur gebracht! Den rumänischen Ärzten, mein Junge, kannst du eines nicht nehmen: Die waren alle verdammt gut in ihrem Métier, – fleißig, zielstrebig, talentiert und gebildet waren die”, zählte sie auf den Fingern, „da ist nicht jeder Trottel einfach so zum medizinischen Studium rangekommen, das sag‘ ich dir, da galt Numerus clausus, nicht wie hier! Na gut, ein paar davon waren schon Schweine, klar, aber nur vom Charakter her ... Auf jeden Fall, die wussten alle, was ein Pankreas ist. Weißt du, als ich voriges Jahr diesen törichten Hausarzt, den ... Wie heißt er denn?”

„Zementzky.”

„Ja ... Nee, Quatsch, Simentzki”, schmunzelte sie endlich, aber nur kurz. „Manchmal nenne ich ihn so, aber auch Betonski, weil er so betonköpfig ist, verstehst du ... Na, und als ich dem Trottel erzählt habe, dass ich an dem Pankreas operiert worden war, glotzte er mich nur blöd an – Wie, bitte? – Pankreas, wiederholte ich, B a u c h s p e i c h e l d r ü s e, du gottverdammter Idiot!”

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Nein”, milderte sie den Ton, „natürlich hab‘ ich es ihm nicht direkt so gesagt, ins Gesicht, aber ... Ich bin schon immer eine Dame gewesen, das weißt du doch, so bin ich nicht. Der ist Pole, so denk‘ ich mir. Nein, der ist Pole, was! Er spricht zwar so wie die hier, manchmal sogar mit dat und wat, wenn er sich volksnah geben will – das tun die alle da, weißt du, um keine prollische Kundschaft zu verlieren, aber erzähl mir bitte nicht, dass das kein polnischer Name ist! Ein blöder Pollake ist er, so einer, dessen Familie schon in den Sechziger-Siebziger eingewandert ist. Möglichst aber auch ein Nachkömmling jener Gastarbeiter, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Ruhrgebiet angesiedelt wurden, zum Kohlenabbau – hab ich dir schon mal erzählt, oder? Mit den Masuren und das alles?”

„Doch-doch!”, eilte ich.

„Nun, es mag wohl sein, dass der in Deutschland studiert hat, oder er ist sogar hier geboren – kann schon sein. Aber auf jeden Fall, egal wo du Medizin studiert hast, musst du die griechischen und lateinischen Hauptbegriffe kennen! So! ... Ach, ich hab’s: Doktor Bunaciu hieß der junge Arzt, der mein Pankreas gefügig machte! Jaja, Bunaciu hieß er, genau. Sssehr gute Familie – lauter Ärzte, Staatsanwälte und so weiter ... Ein Onkel von ihm war Kunstmaler, so, ein moderner, aber sssehr berühmt ... Er hieß zwar anders, vielleicht war er von mütterlicher Seite, und seine Mutter hatte ich schon früher gekannt, sie war Personalchefin bei ...”

Und weiter so.

Ich wurde langsam müde, und dann ssssehr müde, und ich gähnte einige Male im Verborgenen, mit zusammen gekrampften Kiefer. So heftig, dass mein Kopf zitterte und ich feuchte Augen bekam. Nur mein Respekt vor der älteren Generation und mein steigender Hunger hielten mich vom Einschlafen ab. Vielleicht aber auch die wackelige Härte des Drehstuhls, auf dem ich saß. Hätte die genannte Generation nur eine verdammte halbe Stunde später angerufen, hätte ich meine Pizza schon im Magen gehabt ... Nein, bloß nicht, fiel mir ein, – dann wäre ich nun durstig gewesen, also noch schlimmer ... Ob da irgendwo so ein Gerät, ein Getränkeautomat rum stand? Nein, ich hatte nirgendwo einen gesehen, auf den unendlichen Fluren. Oder doch? Und, wenn schon, jeder verdammte Automat auf dieser Welt funktioniert anders, bei jedem blamiert man sich. Kleingeld hätte ich schon dabei gehabt, hatte ich ja immer ... Coco Chanel soll einmal gesagt haben, dass eine Dame, die etwas von sich hält, nie eine Beziehung mit einem Mann anfangen sollte, der in seinem Portemonnaie ein separates Abteil für Kleingeld hatte ... Oder war es doch dieser Karl Lagerfeld? Auf jeden Fall, den ganzen Tag hatte ich lediglich einen Kaffee getrunken, in der Firma, und zwar mit Süßstoff, damit Frau Dresch nicht mehr staunt, Meensch, Constantin, um Gottes Willen, drei Löffel, das ist irre! Wo hast du denn gelernt, wie man Kaffee trinkt? ...

... Sollte ich es wagen, den blöden Drehstuhl abzugeben und mich auf dem weißbedeckten Bett setzen? ...

... Gott, wer war denn der Kretin, der behauptet hat, dass, je älter man wird, umso mehr hat man den Eindruck, die Zeit verginge immer schneller? ... Obwohl ... Ja, doch, ich bin in den letzten Stunden um mindestens fünf Jahre älter geworden, alles tat mir weh – wahrscheinlich sind meine Haare schlohweiß geworden, der Krankenhaustechniker ist inzwischen nach Japan gereist, um das Ersatzteil zu besorgen, da hat er sich in einer Japanerin verguckt, die haben irgendwann geheiratet, ein Haufen niedliche, gelbe Kinder gezeugt ... Der Techniker hat sich einen neuen Job gefunden, bei Fuji ... oder woanders ... Jedenfalls, da hat er jede Menge Stress, Japan ist bekanntlich ein furchtbar stressiges Land, vielleicht hat er sich schon umgebracht, er hat sich vor die U-Bahn geschmissen ... oder sogar vor diesem Shun-kan-sen ... Sun-yat-sen ... Nee, vor die U-Bahn, na!

Ob es auf dieser Welt auch solche gegeben hat, die sich einfach aus purer Langeweile umgebracht haben? Dieser Raum liegt eh in der Parterre, dachte ich, und ich sah mich noch einmal verstohlen um: Nein, absolut sicher, da sind überhaupt keine Fenster, ich könnte es nicht mal versuchen.

„Was ist, suchst du was?”

„Nein”, erquickte ich mich. „Ist das vielleicht ein komisches Zimmer hier – so winzig, und ohne Fenster ...”

„Ja, so was gibt’s auch ... Wusstest du, dass, die in der DDR, solche Küchen hatten, in ihren Wohnblocks? Überhaupt kein Licht von draußen, nur eine dämliche Neonlampe ...”

„Nein!”, staunte ich.

„Doch, hab‘ ich in eine Reportage gesehen ...”

Ihre von mir gerade unterbrochene Geschichte war somit unwiderruflich verloren gegangen, aber das tat nichts, Schwiegermutter hatte jetzt eine fette Ader gefunden, und sie stürzte sich auf die Ossis, mit voller Wucht ...

Doch, Schwiegermutters Stimme hörte sich irgendwie anders ... Aha ... Komisch, ich hatte es bis jetzt gar nicht gemerkt, sie trug tatsächlich ihre neue Zahnprothese! Was heißt schon neu – die hatte sie bereits seit einigen Jahren bekommen, trug sie aber nur hin und wieder, zum Beispiel wenn sie mal in die Stadt ging, oder zu Behörden musste ... Nicht aber, wenn sie zu uns auf Besuch kam, zum Essen, an Weihnachten und Ostersonntag, dann war sie mit dem alten Gebiss ausgerüstet, welches noch von Doktor Bratu stammte – den besten Zahnarzt in Temeswar, und nur dieses Gebiss passte überein, auch wenn es vielleicht nicht so schön war ... „Aber warum hast du dir denn noch eines anfertigen lassen”, hat Mari sie einmal verärgert gefragt, und Schwiegermutter hat darauf pikiert geantwortet, „Na ja, weil diese Rotznase es so wollte, was glaubst du! Der Trottel meinte, das Alte sei Mumpitz, die Statik sei nur dürftig kalkuliert worden, und wie konnte ich nur mit diesem Unfug in meinem Munde leben, sagte er, und er würde keine Verantwortung übernehmen, wenn ich die Zähne einmal runterschlucken würde! Deswegen!” Die Rotznase war ein junger Zahnarzt, dessen Praxis zwei Ecken von ihrer Wohnung stand. „... Und so ein Halbwüchsiger erzählt mir von Statik und Haftkräften und was weiß ich!”, hatte sich damals Schwiegermutter empört. „Na freilich, alles was von woanders kommt ist Murks, und die Haftung ist miserabel”, hatte sie die Rotznase nachgeäfft, „also da muss unbedingt eine neue Dentur her, aus anständigem Material und so weiter, meinte der Knirps. Paar Tausender hat er dafür kassiert, und sie sitzt überhaupt nicht, sie ist zu eng gearbeitet, ich kann mit dem Zeug überhaupt nichts essen, es drückt überall!” Und sie hatte die Oberlippe sehr hoch gezogen, damit wir beide sehen, wie blau jetzt das Zahnfleisch war. Bezahlt wurden die neuen Zähne von dem Sozialamt, das Amt nannte Schwiegermutter es – sie hatte wohl Kafkas Gesamtwerke in Augenhöhe im Bücherregal stehen –, und deswegen war sie immer noch davon überzeugt, das Gebiss sitze zu eng nur weil das Amt lediglich für die minderwertigsten Materialien zahlte, für ordinäres Steingut aus China, etwa, und aus so einen Schmarrn könne kein Techniker der Welt etwas anständiges basteln, sei er auch ein Genie. „Was ganz bestimmt nicht der Fall ist”, hat sie versichert. „Aber der Bratu, der hatte gute Techniker! Er selber entwarf das Gebiss so perfekt, dass seine Leute aus jedem möglichen Stoff etwas Ordentliches basteln konnten”, und jetzt dachte ich nach und wusste nicht mehr, ob Doktor Bratu einen ganzen Lehrstuhl an der Medizinischen Fakultät belegt hatte, oder nur eine Hälfte ... Doch, erinnerte ich mich, nur eine Hälfte, er sei „sssehr volksnah” gewesen, er hätte locker einen ganzen Stuhl haben können, wollte ihn aber nicht, er wollte so viel wie möglich an den Patienten arbeiten, „und nicht den ganzen Tag Vorlesungen vor einem Haufen Taugenichtse halten ...”

Mann, fiel mir auf, jetzt höre ich ihr nicht zu, und stattdessen wälze ich ihre anderen Geschichten im Kopf herum, ich hab’ sie offensichtlich nicht mehr alle!

Ja, ich musste mir ein anderes Thema aussuchen, definitiv, sonst würde ich womöglich einpennen, von diesem sadistischen Hocker umkippen, mit der Birne auf den Boden aufschlagen ...

Ich blickte kurz zum Fußboden, er war mit Linoleum bedeckt, ganz bestimmt direkt auf dem Estrich geklebt ... Eine Gehirnerschütterung wäre das Harmloseste ... Heißt es Hirnerschütterung? ... Nur Schwiegermamas Knarrkiste würde nie umkippen, sie ist unglaublich stabil ... Hauptsache, stets auf Deutsch denken, sonst bringt das alles nichts ... Schüttert man oder erschüttert man etwas? Und wo ist, eigentlich, der Unterschied zwischen Hirn und Gehirn? Zwischen Stirn und Dreigestirn kann man schon eine Grenze ziehen, gibt es aber so was wie ein Gestirn, einfach so?

„Und die sollen ja froh sein, dass der Kohl ihnen ihre schäbigen DDR-Mark eins zu eins umgetauscht hat, und nicht mehr ständig rummeckern und jammern ...” mahnt Schwiegermama, sauer.

... Wird nun Métier, in einem deutschen Text, groß oder klein geschrieben? Laut Duden? ...

... Ein Dreigestirn besteht aus drei Personen, beim Karneval. Da gibt’s einen Prinzen, einen Bauern und eine Funkemariechen, nein, das Funkemariechen, wegen des – chen. Also ein Funkemariechen, zwei Funkemariechen, da ändert sich nichts. Wobei es gar keine zwei davon geben kann, sonst würde das oder der Dreigestirn keinen Sinn mehr machen. Moment, Stirn ist weiblich, aber Dreigestirn fühlt sich nicht wie die Dreigestirn an, also etwas passt da nicht ...

Irgendwann wurde ich sehr scharf darauf, meine Taschenuhr zu betrachten – ein Weihnachtsgeschenk von der Schwiegermutter, die fest der Meinung war, dass echte Gentlemen eine Taschenuhr trugen, das bedeutet so eine, wie ich jetzt im Rucksack hatte, mit Kette und versilbertem Deckel. Ich rührte mich aber nicht – wozu auch? Was bringt es einem Hungernden, der noch einmal ausführlich über die Familie Bunaciu aufgeklärt wird – auf welcher Weise ist ihr bloß gelungen, dieses Thema erneut aufzurollen? – zu wissen, wie spät es eigentlich ist? Einem in der Zeche zugeschütteten masurischen Gastarbeiter wäre es auch vollkommen wurscht gewesen, ob es fünf vor halb sechs war, ob Freitagnachmittag ... Ob pizza ai funghi – oder Pizza ai Funghi – in Deutschland zu jenem Zeitpunkt schon ein Begriff war, oder sich das Rezept in der Tasche des millionsten Gastarbeiter befinden würde, desselben verwirrten, unrasierten, mageren Italieners, der Anfang der Sechziger eine Mofa – oder vielleicht einen Moped oder gar ein gemeines, beschissenes Fahrrad von der Bundesregierung geschenkt bekommen würde ... Die Bundesregierung bestand, in jenem Filmchen, aus einem Halbdutzend behüteten Greisen, die idiotisch und in schwarz-weiß rumgrinsten, auf einem schwarz-weißen Bahnsteig. Nur der Pizza-Mann grinste nicht, er stand nur verwirrt rum ... Ob ihm jemand erklärt hatte, worum es überhaupt ging? ...

... Gibt es eigentlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Mofa und Moped? ... Egal ... Volksnah ejaal ... Tatsache war, dass die Mutter meiner wunderbaren Gattin da hockte, eine Armbreite von meinen bleischweren Augenlidern entfernt, mir einmal mehr von ärztlichen Praktiken und Prinzipien im Allgemeinem erzählte, und von den Siebenbürgischen insbesondere, wobei sie mich überzeugend anstarrte und sich, ab und zu, den Morgenrock über das Nachthemd zurechtzog. Unwillkürlich stellte ich fest, dass dieser hellblaue, billige Morgenrock aus Poly-irgendwas, noch aus der alten Heimat stammte, also mindestens acht oder neun Jahre alt sein musste. Meine langsamen Blicke schlichen zu dessen Revers, dann zu den Manschetten: Der Stoff war überall verfusselt und auch leicht vergilbt, in dem schlechten Licht glaubte ich sogar einen dünnen, speckigen Rand an den Manschettenfalten zu entdecken, das auch noch ... Und diese zotteligen, rosafarbenen Hauspantoffeln, die sahen auch zum kotzen aus ... Sind das nicht jene, die sie damals, vom Roten Kreuz im Übergangslager Unna-Massen bekommen hatte? Gott, viel mir ein, was, wenn der Behandlungsraum ordentlich beleuchtet sein wird? Ja klar, dort muss es wohl hell sein, sonst kann der Arzt keine Besoffenen mit Stichwunden und Motorsäge-Opfer zusammenflicken ... Und gestern Abend hatte ich auch nichts gegessen, ich war zu müde und zu aufgebracht gewesen, als ich nachhause gekommen war – hatte ich vielleicht doch ein Bier getrunken, bevor ich mich ins Bett schmiss? Ich spürte, wie mein Magen heftig in allen Richtungen zuckte, das entsprechende Knurren zu hören wäre nicht möglich gewesen, Schwiegermutter war allmählich furchtbar laut geworden – hatte sie vielleicht gemerkt, dass ich kurz vor dem Einschlafen war und wollte mich nicht verlieren?

„Haben Sie Ihr Kärtchen dabei?”, profitierte ich von einer Atempause, die eine detaillierte Dissertation über den Mafia-ähnlichen Strukturen im sozialistischen System unterbrach.

„Doch, hier”, und sie deutete, mit einer steifen Bewegung, an die ausgebeulte Morgenrocktasche. „Ich hab’s schon den Weibern von dem Schalter gezeigt, diesen unverschämten, rücksichtslosen ...”

Somit überbrückten wir – vielleicht erneut? – zu dem medizinischen Aushilfspersonal hierzulande, das, lass es uns mal so sagen, möglicherweise nicht so bestechlich war wie in Rumänien, zum Beispiel – gut, aber ich soll Schwiegermutter nicht behaupten, dass ...

... Wie war ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass die Auskunfts-Tussi unbedingt Designerbrillen trug? Nur, weil sie irgendwie auffallend aussah? Irgendwie anders als die von Mari, zum Beispiel? Maris Gestell war Null-Tarif-Zeug, und auch ganz banal, in der Tat ... Augen-Optik ... Hör-Akustik ... Keinem einzigen Sprachwissenschaftler hierzulande soll es bis jetzt aufgefallen sein? ... Ja, diese Empfangsfrau war hübsch gewesen, wahrscheinlich deswegen ... Auf jedem hübschen Gesicht sieht eine Brille wie eine Designer-Brille aus ... Augengläser, sagt meine Schwiegermutter, Mari sagt das auch so ... Oder vielleicht nur zuhause? Mari hat auch ein schönes Gesicht, aber ihre Brille fällt überhaupt nicht auf, auch wenn das Gestell ... Mari ist jetzt in der Altstadt, sie steht vor der Vitrine eines Augen-Optikers und schielt auf ein Gestell von Pierre Cardin ... oder wie die alle auch heißen ... Dann wird sie sich wahrscheinlich eine Curry-Wurst kaufen? Nein, das wird sie bestimmt nicht, sie ist zu geizig ... Ja, die da, im Krankenhaus, die müssten schon so was wie eine Cafeteria haben oder so, eine Kantine, ein Kiosk ... Und Kaffee müsste es da auch geben, auch wenn man ihn aus einer Thermosflasche in einen Plastikbecher eingeschenkt bekommt ... Nee, das muss ich mir abschminken, die Weiber könnten zu jeder Zeit auftauchen ... Doch, die packen Schwiegermama weg, und danach kann ich in Ruhe suchen ... Nein, passt nicht, ich muss dann auch mitgehen, sonst legt sie sich auch noch mit dem Arzt an, sie schlägt seine Apparatur zu Scherben, der lässt die Security-Beauftragte kommen ... So, zwei kastige schwarze Pfleger, die Schwiegermama mithilfe von profi Kampffiguren zur Raison bringen ... nein, ein Schwarzer und ein Weißer, politisch korrekt ... Anschließend muss ich einem Polizeiwagen nachfahren ... Aber, wenn wir auf dem Revier gelangen, dann bestelle ich mir eine Pizza, per Handy – verdammt noch mal, so etwas habe ich noch nie gewagt! War jener Obdachlose, damals, in der Altstadt, etwa emanzipierter als ich?! Hömma’, hatte der Mann damals in sein Handy hinein gebrüllt, so laut, dass ihm die ganze Fußgängerzone zuhören musste, aber mit ordentlisch Parmesan drauf, ja? ... Ja, im Zentrum, du Paparazzi, sach isch doch! Vor die Kirsche, Mann! ... Komm du nur hierher, dann seh isch disch, verdammt, so schwer kann dat nischt sein! Recht hatte er, so einfach kann dieses scheiß Leben sein! Auf dem Polizeirevier, du dämlicher Paparazzo, sach isch doch! Du sachst den Bullen da, du suchst nach so’n Rumänen, dessen Schwiegermutter das Ambulanzpersonal von Sankt-Andreas vermöbelt hat, dann wissen die Jungs, worum’s jeht! Ja, und für meine Angehörige bestelle ich Frikadellen, die ich ihr dann durch die Gitter des Arrestraums hindurchwerfe ... Aber es ist noch nicht soweit, also zurück zur Brillentante vom Auskunftspult, die tatsächlich nicht schlecht aussah: Als was könnte man sie eigentlich bezeichnen? Schwiegermutter würde sie sofort als Pförtnerin etikettieren, aber sie ist keine Pförtnerin – Pförtner tragen immer so was wie eine Uniform, meist dunkelblau, eine sehr praktische Farbe ... Zumal sie irgendwie Autorität ausstrahlt ... Unsere Frau Schmock trägt auch stets einen dunkelblauen Sakko ... Ja sogar eine Krawatte ... oder? Morgen, Frau Schmock! Morgen, Herr... Sie weiß es nie ... Einen Schlips ... Nein, Schlips trägt sie nicht, was fällt mir bloß ein?

Stand nun wirklich AUSKUNFT auf dem Schild, der oberhalb der jungen Frau hing, oder EMPFANG? Wäre sie dann eine Empfängerin? Quatsch. Oder Empfangsdame? Auch nicht, Empfangsdame ist so was wie Puffmutter ... oder höchstens so, ein knochiges Weib, das ein Tablett mit Cocktails oder mit ... Fingerfood ... oder belegten Brötchen vorhält ... Mit Wurst und Käse, wenn ... Ja, wenn was? Wenn potentielle Kundschaft in eine neu eröffnete Bank geködert werden soll? ... Ja. Solche Kundschaft, die gerade von der Arbeit kommt und Hunger hat ... Dann stürzen die sich garantiert alle rein ...

Schade, dachte ich plötzlich, dass Schwiegermutter jetzt nicht das alt vertraute Gebiss trägt, welches die ganze Zeit in ihr Mund herumeiert, dann würde ich mich jetzt mit der Frage beschäftigen können, wann das Zeug mal endlich herausfliegt – das würde der Situation eine erfrischende Spannung verleihen und mir die Möglichkeit geben, um eine Villa auf Madeira zu wetten, oder vielleicht nur auf ein paar Frikadellen ... Mit Pommes ...

Pommes wie?

Pomfritz.

Ja, schon verstand’, junger Mann, aber klein, mittel oder groß?

Riesig!

Mayo, Ketchup?

Schranke!

Heey, der kennt sich aus, der junge Mann! ... Wat zum trinken dazu?

Kaffee, groß. Und ein rappelvoller Zuckerstreuer.

Na dat nenn’ ich ’ne Bestellung! ... Sagen Sie mal, wo kommen Sie den her, wenn ich fragen darf?

„Constantin!“

„Nein, ich wollte nur ein bisschen die Augen zuhalten, dieses Licht macht mich wahnsinnig.“

„Na klar, die sparen wo die nur können, und die Patienten dürfen ruhig erblinden! Gut ist jeder, der seine Beiträge bezahlt, aber sei mal unverschämt und werde krank, dann ...“

Perfekt, jetzt kriegen auch die Kassen ihren Speck weg, da ist jede Menge Stoff zu debattieren und zu verbessern; und somit habe ich auch Zeit genug, die unendliche Strecke auf den Korridoren des Krankenhauses zu rekonstruieren und zu versuchen, irgendwo doch einen Automaten zu entdecken, sei er auch bloß einer mit irgendwelchen Schoko-Riegel. Aber, nach langen Mühen komme ich mit leeren Händen zum Eingang ... Scheiße, ich habe mich derart auf die Anweisungen der Brillenfrau konzentriert, dass ich nichts um mich herum gesehen habe – und da stand ganz bestimmt so’n Apparat irgendwo! ... Oder auch nicht. Na klar, wer betritt schon ein Krankenhaus, um sich sofort Essen zu kaufen? Die fragen alle an den Pult nach den jeweiligen Patienten, und dann machen sie sich auf der Suche nach Omi, nach ihrem frisch operiertem Chef, nach ... – und alle haben bereits gegessen, damit sie später am Krankenbett nicht auf die mitgebrachte Pralinenschachtel schielen müssen ... Schließlich sind solche Institutionen für Patienten gemeint, nicht für Konsumenten. Und die Patienten heißen so, weil sie geduldig, nicht etwa hungrig sind ... Patientia vincit omnia ... Schade nur, dass mein Magen kein Latein versteht. Na gut, die meisten Insassen hier haben andere Sorgen, und das Personal ... Ja, das Personal bringt sich belegte Brötchen mit, redete ich mir entschlossen ein, weil es hier keine Kantine, keine Cafeteria und überhaupt keine Automaten gibt, so! ...

... Die zwei Frauen von dem Ambulanz-Empfang haben auch einen kleinen Kühlschrank in ihre Bude, irgendwo, unter dem Tisch ... Aber die halten lediglich Salat drin, die sahen relativ mager aus ... Ernährungsbewusst ...

... Und, falls auf dem Hängeschild INFORMATION stünde, würde sich dann die junge Frau Informantin nennen?

Schwiegermutter nahm mein dünnes Schmunzeln nicht wahr, sie fuchtelte rege mit der Hand ... Was zum Kuckuck erzählt sie gerade? Ich nicke brav, als Bestätigung, und sie hält kurz inne, mit fragenden Augenbrauen.

„Echt?” lalle ich müde und amüsiert zugleich.

„Doch! Direkt so hab ich’s der gesagt! Und dann wurde sie ganz rot und dann ganz blau, und erst dann bin ich so richtig in Schwung gekommen, also Moment mal!” Aha, die Geschichte mit ihrer Cousine, Tante Mutzi, und mit der blauen Handtasche, damals, als Mari noch in die Grundschule ging ...

... Erstaunlicherweise war Röntgen kein Arzt gewesen, kein Physiker oder ähnliches, er hatte angeblich nicht mal Abitur. Er war einfach ... Hausmeister in einem Forschungsinstitut, oder Laborant, oder eine Art Azubi ... Lehrling? Wurscht, Azubi zum Laboranten, entschloss ich mich. Wo hatte ich wohl das her? Vom Gymnasium, vielleicht? Tja, was man uns nicht alles beigebracht hatte, damals ... Oder war es doch von hier, von so einer dämlichen Quiz-Show? Die Show ... Die Sonne ... Nein, in keiner Sprache der Welt ist die Sonne weiblich, das ist schon mal klar – vielleicht lebten die germanischen Stämme im Matriarchat ... Dafür: das Weib. Dann das Pferd. Das Ferd. Ffee-aad, die Blagen auf dem Spielplatz vor unserem Balkon spielten immer wieder Ffee-aad, Nachmittag für Nachmittag und Wochenende für Wochenende, bis in den Wahnsinn ... Dustin ... René ... Kevin ... Mindestens eines davon hieß Kevin, ab und zu kam ein Patrick dazu, Petrick. Oder auch mal ein Tschastin ... Vorige Woche war sogar ein Keanu vorhanden, aber nur kurz, dann hatte ihn die Mutter zurückgerufen, von der Bushaltestelle, zweihundert Meter entfernt ... Das wunderbare Echo zwischen den Blocks, Ke-aaaa-nuuuu ... Vielleicht waren Mutter und Kind nur auf Besuch gewesen ... Einer der Kevins erschien immer mit einem Bollerwagen auf dem Spielplatz und karrte dann freiwillig, ja sogar begeistert, andere Gleichgesinnte durch die Gegend, und er wollte immer das Pferd sein. Die Alpha-Rolle wurde ihm auch nie strittig gemacht, und er war mir, trotz – oder sogar wegen seiner masochistischen Ader, einigermaßen sympathisch, auch wenn sein urlautes, ungeschicktes, zwischen den Blocks grotesk schallendes Wiehern meine Trommelfelle und mein Gemüt zerfetzte. Gelinde gesehen, seine Pferdekutscherei wies zu einer Spur Phantasie hin – alle Anderen waren nicht imstande, etwas Gemeinsames zu unternehmen, außer sich gegenseitig zu schubsen und zu hauen ... Doch, gelegentlich, zur Abwechslung, schmissen sie sich einander Sand in die Augen ... Ob der Alpha-Kevin Verwandtschaft auf dem Lande besaß?

„Ffee-aad”, entfuhr mir zischend zwischen den Lippen.

„Was?”

Weit und unerhofft öffnete sich die Tür, und eine neue Schwester, diesmal voll in Weiß, trat stürmisch ein.

„Soo, Frau Tscherdar, jetzt ist es soweit, jetzt geht‘s zum Herrn Doktor!”, erklärte sie martialisch, dann begab sie sich mit einem breiten Schritt hinter den Rollstuhl und verpasste dem Pedal einen kurzen, gekonnten Tritt mit dem Latschenrand.

Schwiegermutter klammerte sich ruckartig an die Armlehnen fest und machte keine Bemerkung mehr. Ich sprang rege auf meine starr gewordenen Beine auf und lief humpelnd den Damen nach, diesmal durch einen Flur, der mir nicht mehr bekannt vorkam, und wir gelangen, nach etlichen Biegungen, in einen großen, grellbeleuchteten, mit bunter Apparatur vollgestopften Raum. In der Mitte befand sich ein unwahrscheinlich hohes und breites Bett, und daneben stand stramm eine jüngere Schwester, die uns mit einem erstarrten Blick zunickte.

„‘Nabjend!”, donnerte eine Baritonstimme von der Seite, und ein bärtiger Riese in weißen, wie für sogar noch größeren Menschen geschnittenen Klamotten, stand lustlos von einem vergleichsweise winzigen Schreibtisch auf.

Ich tat instinktiv einen Schritt zurück und machte mich in der Ecke zwischen der Tür und einen Blechschrank klein, während der Hüne seine beträchtige Körpermasse vor Schwiegermutters Stuhl zum Stillstand brachte.

„Ich bin Doktor Wjebjer, und sie sind Frau ...” und er schaute stirnrunzelnd auf das Blatt, das die starre Schwester ihm vorhielt, „Ssssch...jerdjer!”

Noch bevor meine Schwiegermutter den Mund aufmachen konnte, stemmte der Mediziner seine gigantischen Hände in die Hüften.

„Mir wurde berichtet”, fuhr er mit demselben brachial slawischen Akzent fort, „dass Sie für Aufwand im Warteraum gesorgt hatten, ja? Und da steht auch”, las er weiter vom vorgehaltenen Blatt, „dass Sie auf der Hegelstraße wohnen! Ja? Nun, Frau Sssch...jerdjer, soweit ich weiß, diese Hegelstraße ist so, gaaaanz lang, ja furchtbar lang sogar, und da gibt’s wohl mindestens drei Hausarztpraxen, ja? Und die alle schließen frühestens um siebzehn Uhr, sogar freitags, stimmt’s? ... Hm?”

Sein verhältnismäßig schmaler Mund zog sich unzufrieden zusammen und verschwand

schließlich in den braunen, lockigen, nahezu rasputinisch ungepflegten Bart. Während er sprach, wanderten seine buschigen Augenbrauen mal nach oben, mal nach unten, schafften es aber nicht, die pechschwarzen, penetranten Augen völlig zu verdecken.

„Nna jaa”, stammelte die Patientin, und ihr Blick landete verlegen auf seine gewaltigen, weißen Lederlatschen.

Mir fiel plötzlich die Vermutung ein, dass sie jetzt den enormen Herrn Doktor nicht fragen würde, ob er etwa auch Spätaussiedler sei, ob er vielleicht aus Russland käme und wie lange schon. Und Rasputin würde auch nicht erfahren, dass sie selber aus Rumänien kam, sie aber eine echte Deutsche sei – eine Banater-Deutsche halt, und dass ihr Name ursprünglich Serder gewesen sei, ohne Zett, welcher Name inzwischen magyarisiert worden war, als die Ungarn in 1940 – also nach dem zweiten Wiener Schiedsspruch ... Weil ihr Vater sich damals in Klausenburg aufhielt, und somit … Und dass sie in der Grundschule bei den Ursulinen gewesen sei – damals, als die Kommunisten noch nicht ... In einem Wort alles, worüber das ganze Lagerpersonal in Unna-Massen, dann ihre ganze spätere Nachbarschaft, sowohl wie auch sämtliche Sachbearbeiter von verschiedenen Ämtern, vielleicht sogar die Feuerwehrsanitäter von gerade eben und viele andere unschuldige Leute schon Bescheid wussten.

„Ahaaa! Also das wussten Sie doch”, flötete jetzt Doktor Weber in Tenorhöhe und nickte bedeutsam, wie aufgeklärt. „Aber irgendein einfacher Hausarzt ist Ihnen wohl nicht gut genug, naa? Wegen Ihren furchtbaren Leiden mussten Sie unbedingt einen Krankenwagen in Anspruch nehmen, mit Tatü-Tata, weil Sie ja ausgerechnet einem Unfallchirurg vorstellig werden wollten, nicht wahr? Und siehe da, Sie haben es tatsächlich geschafft: Ich bin nämlich Unfallchirurg, bitte schön! Also, gratuliere!”

Er schnaubte verärgert in den Bart, und musterte angewidert zuerst Schwiegermutters Frisur, danach die jüngere, noch immer strammstehende Schwester, dann die andere, die auch nicht sehr fröhlich aussah. Nachher, ganz flüchtig, sogar mich.

„So, wo fehlt‘s denn?”, brummte der Doktor schließlich, und sein Blick drückte Schwiegermutter noch tiefer in den Rollstuhl hinein.

„Hier ...” sagte sie leise, „und hier ... und da links”, und sie deutete keuchend an allen Körperstellen, die sie in dieser Lage erreichen konnte. „Solche Schmerzen habe ...”

„Seit wann?”

„Seit ... gestern”, log die Patientin, blauäugig. „Seit gestern Abend, ja. Und ich habe mich auch mehrmals erbrochen!” Das klang wie ein Trumpf, und Schwiegermama schob heldenhaft das Kinn hervor.

„Ach, das auch noch, hmm ... Stehen Sie mal auf!”, befahl ihr Rasputin und trat entschlossen mit einem Latschen auf die Stuhlbremse. Ein Knall war in unmittelbarer Nähe von Schwiegermutters rosafarbenen Pantoffeln zu hören, dann deuteten einige weitere Klänge, dass irgendein Mechanismus in den Innereien des Fahrzeugs sich endgültig verabschiedet hat.

Doktor Weber drehte theatralisch langsam den Kopf zur Seite und schenkte der Schwester, die uns dorthin geführt hatte, einen vernichtenden Blick über die Schulter.

„Von der Werkstatt”, stotterte eilig die Frau, „wurde mir gesagt, dass alles wieder in Ordnung sei ...”, aber der Unfallchirurg zeigte sich nicht bereit, ihr weiter zuzuhören – also beeilte sie sich, der Patientin aus dem Sitz zu helfen und den hässlichen Rollstuhl zur Seite zu stoßen.

Kaum war Schwiegermutter auf den Beinen, streckte der Mediziner einen unendlich langen Arm aus, stellte die Handspitze unterhalb ihres Brustbeins und drückte einmal, kurz und heftig.

„Au!”, schrie Schwiegermutter jämmerlich auf, kurz mit den Armen rudernd, und fand ihr Gleichgewicht in den Armen der Schwester wieder.

„Tut weh, ja? Sag‘ mal, was haben Sie zuletzt gegessen?”

„Nnnichts ... Also ...”

„Wie, nichts?“, dröhnte der Arzt, „was haben Sie denn erbrochen?”

„Ach so. Ein bisschen Linsensuppe, aber das war früher ...”

Doktor Weber rümpfte seine fleischige Nase und tastete etwas tiefer und mehr nach rechts an ihr Bauch.

„Früher, ja? Blähungen haben Sie auf jeden Fall immer noch ... Aber das spielt keine Geige ... Und hier?”

Er hob die Hand an ihre Kopfhöhe und stieß seinen Daumen, der wie eine Rübe mit Nagel aussah, unter Schwiegermutters Ohr.

„Auuu”, jammerte sie, verzweifelt, und ich hatte für das erste Mal den Eindruck, seitdem wir uns in diesem Raum befanden, dass sie nach meinen Blick sucht.

Unbeirrt fing der Mediziner an, um sie herum zu kreisen, mit einer Beweglichkeit, die an eine vermeintliche Vergangenheit als Basketballspieler deutete, und verpasste ihr, bei der Gelegenheit, noch etliche Schubs in die Rippen und in die Wirbelsäule, dann griff er ihr von Hinten völlig unelegant in den Nacken, wie ein geärgerter Wirt. Die Lage drohte außer Kontrolle zu geraten und ich fragte mich, wie lange sich Schwiegermutter noch auf diese kurzen Aufschreie beschränken würde ... Aber mit dem Griff in ihrem Nacken endete die ungewöhnliche, für mich, zumindest, doch hochinteressante Untersuchung.

„Sie haben versucht, etwas von dem obersten Regalboden runterzuholen, waren aber zu faul, die Trittleiter zu nehmen!”, brummte ihr Doktor Weber in den Scheitel, so herzhaft, dass ihre Locken zitterten.

Schwiegermutter runzelte zuerst die Stirn, als ob sie nachdachte, und gestand schließlich mittels eines resignierten Nickens.

„Aha, das haben Sie, also! Gut. Und jetzt entspannen, alles auflockern, ja?” und er tat einen Schritt nach rückwärts. „Schööön locker, der gaaanze Leib, klar? Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Paaark, am Teichuuufer, gucken gelassen zu den Enten und wissen dabei, dass Ihre Rente gaaaanz bestimmt zum Monatsende überwiesen wird ... Ja?”

Der Mann gefiel mir immer besser.

„Jaja”, versicherte die Patientin, lahm.

Doktor Weber wartete noch, bis Schwiegermutters hängende Arme die richtige Schlaffheit erreicht hatten.

„Die Enten, ja?” sagte er, unerwartet sanft.

„Aha ...”

Blitzartig fiel er ihr erneut in den Nacken, übte dabei, mit seinem Oberkörper eine äußerst dynamische Figur aus, die zugleich an so was wie Judo, Kunstschlittschuh und Ringen in einem erinnerte, und zwar so schnell, dass ich sämtliche Einzelheiten schlicht verpasste. Das einzige, was ich deutlich mitbekam, war, dass Schwiegermutters Pantoffeln kurz in der Luft schwebten und dass ich instinktiv meinen Rücken gegen den Blechschrank drückte: Krach! Pack! – schallte Schwiegermutters kompaktes Knochengerüst, dann landete sie wieder auf die Füße.

„So, jetzt gehen Sie nachhause”, brummte Doktor Weber, als er seine Pranken in die Hosentaschen steckte. Er haspelte noch einmal in den Bart, drehte sich majestätisch um und trampelte zurück zum Schreibtisch.

Es war schon richtig kalt als wir in den wolkenlosen Abend losfuhren. Schwiegermutter versuchte gar nicht mehr, sich mit dem Sicherheitsgurt auseinanderzusetzen, und ich verlor auch kein Wort mehr darüber. Der Wagen setzte sich in Bewegung und sie atmete einmal tief durch.

„Was für ein Schwein! Ein Wildschwein, was!”, betonte sie. „Hast du gesehen, wie er mich behandelt hat? Schlicht und einfach wie eine Bäuerin! Wie den letzten Dreck!”

Ihre Stimme erhöhte sich bedrohlich.

„Hast du das gesehen?”

Sie zitterte vor Aufregung, oder vielleicht auch wegen der zwanzig Minuten, die sie vor dem Krankenhaus auf mich warten musste.

„Ein Russe! Ein Russe war er, hast du´s gemerkt? Ein Holzfäller aus der Taiga, ein Rüpel, der sich Arzt nennt! Nervenchirurg – dass ich nicht lache!”

„Unfallchirurg”, verbesserte ich, unbeteiligt.

„Wie auch immer! So ein Ochse kommt aus dem tiefsten Sibirien hierher, legt ein paar formelle Prüfungen ab und zack! – ab auf die Patienten! Kein Wunder, dass der es nur zum Krankenhausarzt geschafft hat – als Niedergelassener hätte er keine Chance, darauf kannst du Gift nehmen! Kein normaler Mensch würde je an seiner Tür klopfen, und ein Hiesiger erst recht! So ein Rüpel! Wolga-Deutscher nennt sich so einer! Ein Lümmel, was!”

Sie zerrte ihren Morgenrock noch enger um den Leib.

„Drehst du mal endlich diese verdammte Heizung an?”

„Ist schon voll aufgedreht!”, sagte ich behutsam. „Aber es sind an die null Grad draußen.”

„Wem sagst du das? Ich bin steif gefroren, wo zum Teufel bist du eine ganze halbe Stunde geblieben?”

„Ich musste den Reif von der Scheibe abkratzen, deswegen ... Und der Bahnhof ist auch nicht um die Ecke.”

Ich brauchte gar nicht versuchen, Ruhe zu bewahren – ich war sowieso erledigt. Ich musste nur noch die fünfzehn-zwanzig Minuten bis zu ihrer Wohnung durchhalten, dann wäre es geschafft.

„In Krankenhäusern landen nur die Allerletzten”, fuhr sie verbissen fort. „In Temeswar war das nicht so, das sag‘ ich dir, in Krankenhäusern arbeiteten nur Professoren, oder zumindest Oberärzte ... Und hier? Inkompetente Hausärzte schwimmen in Geld, und diese Schwindler auch – diese Psychotherapeuten, während die ganzen Chirurgen und Spezialisten in den Krankenhäusern sich mit Hungerlöhnen zufrieden geben müssen! Ein verrücktes Land ist das hier ... So ein hoch studierter Arzt verdient kaum was, höchstens das doppelte dessen, was so einer wie du kriegt – und das brutto, wohlgemerkt! Netto bleibt ihnen so gut wie nichts, kann ich mir schon vorstellen. Ich wette auf was du willst, dieser Wjebjer wohnt zur Miete in einem Plattenbau, wie eurer!”

„Auf ein freistehendes Haus?”, entwich es mir.

„Was?”

„Nichts ... nur so.”

„Dann staunen die Krankenhausbetreiber, Besitzer, Pächter ... oder wie die alle heißen, also die Kommunen, dass sie nur Russen und Polen und rumänische Zigeuner kriegen. Wjebjer, das ich nicht lache! Der kann nicht mal seinen eigenen Namen richtig aussprechen, und so einer gibt an, ein Deutscher zu sein!”

„Sankt-Andreas ist kirchlich”, bemerkte ich, neutral.

„Na danke schön, da hast auch du mal was Großartiges gesagt! Glaubst du, all‘ diese fetten Bischöfe und Kardinäle seien besser? Die verdienen zehn Tausend Euro im Monat wie nichts, das sind zwanzigtausend Mark – haben die im Fernseher gesagt, das ist kein Scherz! Aber glaubst du, die würden etwas für ihr medizinisches Personal abzweigen? Ha!”

Das auf der höchsten Stufe aufgedrehte Gebläse schuf endlich etwas Wärme im Fahrgastraum und Schwiegermama hörte langsam auf, an ihre Arme und Oberschenkel zu reiben. Nach etlichen Ecken räkelte sie sich im Sitz, streckte die Schultern nach vorne und wieder nach hinten, dann drehte sie den Kopf zu mir.

„Hast du Zigaretten da? Ach ja, du rauchst nicht mehr ... Schade. Aber zumindest könnt ihr dadurch endlich mal was sparen, das ist auch was.”

„Geht es Ihnen besser?”, fragte ich fürsorglich, um das Thema zu wechseln.

„Doch-doch”, sagte sie, lebhaft, schon beinahe zufrieden. „Ich kann mich problemlos bewegen, und der Kopf tut mir auch nicht mehr weh ... Du, aber überhaupt nicht mehr, wirklich! Nur etwas benebelt bin ich noch, aber das vergeht auch, so langsam, das spür‘ ich ... Hör mal, was hat dieser Medizinmann eigentlich mit mir getrieben? Hast du aufgepasst?”

„Ja, doch ... Aber es zu schildern ... das kann ich nicht. Er war unglaublich schnell.”

„Das war er, in der Tat, der Rüpel! Hätte ich ihm gar nicht zugemutet, so wie er aussah, dieses Nilpferd. Ich erinnere mich nicht ganz genau, wie er mich angepackt hat. Er hat mich irgendwie komisch von hinten umarmt und, auf einmal, hat etwas in meinem Rücken furchtbar geknallt, dann sind die Schmerzen so gut wie verschwunden – ich meine, am ganzen Leib, von jetzt auf gleich! Tja, der Russe ... Also, sein Handwerk macht er schon gut, kannst du ihm nicht nehmen ... Aber das hat er sicherlich nicht hier gelernt, das sag‘ ich dir, das hat er von seiner Taiga her, da wird Medizin anders studiert als hierzulande: Die müssen auch solche Sachen lernen, notgedrungen, – die haben nicht so viel Gerätschaft und Arzneimittel und elektronisches Zeug, wie die hier. Im Ostblock ging es nicht anders, das weiß ich noch: Da musste der Arzt die Hand auf dich legen und sofort wissen, wo es dir fehlte. Von wegen Computertomografie und Kabelsalat und der ganze Schnickschnack – da war einer froh, wenn ihm ein uraltes Röntgengerät zur Verfügung stand, das war nun mal so ... Übrigens, hast du’s gesehen? Nicht mal ein Stethoskop hat der gebraucht! Hatte er überhaupt eines um den Hals hängen?”

„Glaub‘ ich nicht.”

„Und er hat mich bis zuletzt überhaupt nicht geröntgt! Eigentlich brauchte er auch nicht – nur kurz antasten, fertig ist die Diagnose! Nur diese dämliche Kuh am Empfang, die laberte nur herum, mit dem blöden Gerät und mit dem blöden Techniker und blabla ... Sag mal, hat er schließlich irgendwie gesagt, was ich habe?”

„Nein, zumindest habe ich es nicht mitbekommen.”

„Stimmt, er hat nur rumgemeckert und gebrüllt, der Orang-Utan! Aber diesen Umgang hat er ganz bestimmt hierzulande gelernt. Guten Tag, worum geht’s, nehmen Sie das und das, gute Besserung! Und tschüss! Aber das hat mir auch gut gefallen, weißt du, wie der mit seinen Ziegen umgegangen ist ... Hast du’s gemerkt? Die hat er ganz schön in ihre Schranken gewiesen, obwohl beide echte Deutsche waren! Die Jüngere, ich meine jene, die wie Muttergottes da rum stand, mit diesem blöden Papier in der Hand, die hieß Schwester Elke – stand groß auf ihr Namensschild! Und die andere war auch eine Deutsche, die sprach sogar Hochdeutsch, die war ganz bestimmt keine Slowakin oder so, oder Polin, wie üblich bei diesen Pisspottträgern, das sag‘ ich dir! Der Wjebjer ist zwar von seinem Baikal oder wo auch immer hergekommen, und eins wusste er: In Deutschland gelten klare Regeln – ich bin Arzt, du bist Schwester Elke – ein Nichts bist du, eine ... Nachttopfträgerin halt, Elke hin oder her! Wie, der Rollstuhl quietscht! Wie, die Bremse ist kaputt! Ha! Das fand ich wirklich gut.”

Im Auto war es bereits ganz schön mollig geworden, Schwiegermutter jubelte regelrecht, und es tat mir auf einmal leid, dass ich für sie keine Zigaretten dabei hatte.

„Glaubst du, denen passt es, sich von so einem lausigen Russen anbrüllen zu lassen?” fuhr sie belustigt fort, aber ich hörte ihr nicht mehr so richtig zu. Mich beschäftigte immer noch die Frage, von wo sie die Geschichte mit dem Dorfkino drauf hatte. Sie hatte doch nie in ihrem Leben auf dem Lande gewohnt ... Oder vielleicht doch? Während des Krieges, als Kind, bei Bauern, wegen den Bombardierungen der Alliierten in Temeswar? Gab es doch noch überhaupt etwas, was ich über ihr Leben nicht wusste? Kaum denkbar. Aber hätte ich jetzt nachgefragt, so würde der Abend nie zu Ende gehen, wir würden noch eine Stunde vor ihrem Hauseingang verbringen ... Oder hatte sie, noch bevor sie den Seligen geheiratet hatte, einen Liebhaber auf dem Lande gehabt? Mitte fünfziger Jahre, um die Ecke? So, ein kräftiger, geometrisch gebräunter Bauer, der sie auf seinen behaarten Armen rum trug, und sie schließlich, lustvoll grölend, ins Weizenfeld kippte? Ich schmunzelte, mit dem Blick auf einer auf gelb springenden Ampel. Und abends gingen sie dann ins Dorfkino, wo sie ganz hinten saßen, geröstete Sonnenblumenkerne futterten und sich so richtig befummelten?

Ich drehte langsam den Kopf etwas nach rechts und betrachtete ihr Profil, dessen Kontur sich wegen ihrer heftigen Erzählerei stets änderte. Bei der verhältnismäßig starken Straßenbeleuchtung merkte ich, dass ihre alt vertrauten Kinnhärchen doch schon ziemlich an Länge gewonnen hatten, sie sah aus fast wie die Babuschka von oben ... nur vielleicht doch nicht so hässlich ...

... Was machen Muttergottes und ihre ältere Kollegin, wenn sie nachhause gehen, nach einer Schicht mit Rasputin? Schlagen sie ihre Männer zu Brei? Klatschen sie ihre Kinder an die Wand? Oder sehen sie sich solche Telenovelas an, wie Mari, wenn sie mal richtig schlecht gelaunt ist? Ja, und damit treiben sie ihre Männer in den Wahnsinn ... Und Wjebjer selber, nach zwei Dutzend Fällen wie Schwiegermama? Er kippt sich paar Gläschen hinter die Binde, klar ... Whisky, keinen Wodka, jetzt ist er ja im Westen ... Nein, doch nicht, das wäre zu banal ... Gut, dann spielt er mit der Modelbahn, im Hobby-Keller ... Auch nicht, das ist etwas für Impotente, und Rasputin kann es nicht sein, der ist schon ein ganzer Kerl. Und er hat auch keinen Hobby-Keller – laut Schwiegermutter wohnt er ja in einem Block, wie ich, da gibt’s höchstens einen Waschkeller ... Na gut, dann spielt er Schach im Waschkeller mit seinem besten Freund, Igor oder so, ehemaliger Atomphysiker, zurzeit Hausmeister – er hatte zwar nicht so viel Glück wie Wjebjer ... Hausmeister sind auch gestresst, nach Feierabend spielen sie Schach und saufen Whisky ...

Plötzlich musste ich vor einem Zebrastreifen bremsen. Auf dem akustischen Hintergrund, in dem etwas über die unklare politische Lage in der Ukraine die Rede war, sah ich dem alten Mann zu, für den ich anhalten musste, der nun langsam und voller Würde die Straße überquerte, durch den Neonlichtkegel. Er trug einen auffallenden, meloneähnlichem Hut, eine markante Hornbrille und einen imposanten grauen Bart, einen langen, eleganten Mantel, und benutzte gekonnt, fast mit Chic, einen anscheinend edlen Gehstock, obwohl seine Beine auf keine wesentliche Behinderung wiesen. Ich hätte wetten können ... Aber Schwiegermutter war so vertieft in der Abhängigkeit der Ukraine an das russische Erdöl, dass sie sich diesmal nicht rhetorisch fragte, ob dieser Herr da vielleicht ein ehemaliger Staatsanwalt war, oder sogar ein Architekt ... Dafür grübelte ich, nachdem wir wieder losfuhren, wie Röntgen mit Vornamen bloß hieß ... Nein, Alfred war es nicht, das war der Nobel, der das Dynamit erfunden und nicht entdeckt hatte – diese Begriffe waren nur zwei von vielen, die es mir immer wieder zu schaffen machten.

„Sagen Sie mir noch mal”, unterbrach ich meine Beifahrerin, „welches ist nun der Rock und welches das Kleid ... Bei Frauen, meine ich ...”

„Was? Wie kommst du jetzt darauf?”

Nur noch zwei Ampeln, und ich würde sie absetzen. Meine noch auf der Küchenplatte liegende Pizza ai Funghi musste zu der Zeit schon lange aufgetaut und schlaff geworden sein, und die Pilze schon völlig geschwärzt. Na und?, dachte ich. Dann werde ich sie einfach wegschmeißen müssen, und eine neue rausholen, was soll’s ... War dieser Unrasierte vielleicht doch kein Italiener gewesen? Türke war er auf keinen Fall, das wäre auch zu einfach ... Nein, er trug definitiv keinen Schnurbart, und in 1963 ... 1964? Schwiegermutter weiß es ganz bestimmt, sie hockt die ganze Zeit vor der Glotze, sie weiß über alles Bescheid ... Portugiese? Doch! Rodrigo oder Rodriguez de Irgendwas hieß der gute Mann ... Vielleicht Spanier? Rodrigo ist nicht italienisch, zweifellos. Obwohl, so gesehen, auch Kevins gibt es in alle Vororte der Welt, in alle Wohnsilos des Universums ... Der Pferde-Kevin wird meine Rente zahlen, ich zahle Schwiegermutters Rente – das verlangt der Generationenvertrag, auch wenn sie selber hierzulande keinen einzigen Tag gearbeitet hat. Der rumänische Staat ist um Schwiegermamas Rente reicher geworden, und mein Kevin wird auch die Stütze für die anderen Kevins, für Chayenne, für Petrick und für Keanu zahlen, mein Kevin ist zuverlässig, er zieht munter den Bollerwagen durch die Gegend, zu Christi Himmelfahrt zieht sein Vater den Bollerwagen durch die Gegend, voller Bierkästen ...

Die Uhr auf das Armaturenbrett zeigte viertel nach acht, bald wird auch die Mari nachhause kommen, mit ihrem verdammten, abgeschalteten Handy, und dann stemme ich mich vor ihr und sage: „Pass auf, Mädel: Als aller Erstes, morgen fährst du noch mal in die Stadt und kaufst deiner Mutter einen vernünftigen Morgenrock, für alle Fälle ... Koste es, was es wolle. Eventuell auch ein Paar ordentliche, dezente, dazu passende Pantoffeln!”

Dann werde ich mir eine weitere Pizza backen, wenn ich darauf Lust habe, eine enorm große Pizza, American style ... Ja, enorm kann hierzulande nicht selbständig atmen, enorm groß, enorm klein ... Könnte man, zum Beispiel, einen wie Wjebjer als enorm riesig bezeichnen? Warum nicht, penibel hat mit peinlich auch nichts zu tun, oder? Sicher war es, auf jeden Fall, dass man einen Krankenwagen in Anspruch nehmen konnte – Wjebjer war Russe, aber kein Idiot! Ich musste nur noch recherchieren, ob man einen Krankenwagen auch holen kann, was mit der Polizei schon funktionieren würde ... Ja, gleich nach der Amerikanischen Pizza, jetzt mit 30% mehr Salami, werde ich mir ein Bier genehmigen, dann mein neues Wörterbuch aufschlagen, das zusätzlich sogar ein kleines Kapitel Grammatik enthält, was mich alles schließlich doch nicht schlauer machen wird – und Mari werde ich keinesfalls Semantikfragen stellen, sie wird eh damit beschäftigt sein, irgendeine drastisch reduzierte Klamotte anzuprobieren ...

Nein, doch nicht, schärfte ich mir ein: Ich werde das scheiß Wörterbuch doch weglassen und werde auch nicht mehr nach Unsinn grübeln, das macht einen nur depressiv. Sondern ich werde mit meinem Olivenglas auf den Balkon gehen, auch wenn es nicht Montag ist, also mein festgeregelter Oliventag, ich werde sie alle aufessen, schön sachte, und die Steine über den Blumenkübel hinweg direkt in den Sandkasten darunter spucken, Stück für Stück ... Wer hat mir denn damals das mit einmal in der Woche Oliven essen eingeredet? Die Frau Dresch? Mari? Nein, die Dresch will ein Hundert Jahre leben, nur die kann es gewesen sein. Ja, sie ist bereits ein Hundert, will aber noch gar nicht an die Rente denken, sie praktiziert auch Yoga und Tai-Chi und Bauchtanz und was alles noch, sie fühlt sich fit ... Sie kommt auch vom Lande, ist mit den körperlichen Aktivitäten vertraut, ihr Vater soll ein Weingut besessen haben, darauf ist sie auch sehr stolz ... Irgendwo in Rheinland-Pfalz ... Falz ... Wie hat wohl Palatina zu Pfalz degeneriert? Ja, wo kommt dieser dämliche f her, und was ist mit dem p passiert, den kein Schwein mehr ausspricht? Ja, genau, wer sagt noch Ppfalz oder ... Ppfütze? So ein Duden-Autor, vielleicht? Ein Duden-Futzi? ... Wird das etwa Pfutzi geschrieben? ... Und ich erwarte, dass ein Kevin oder sein Vater, oder Keanus Mutter Ppferrd sagen ... Nein, definitiv, die Olivensteine werde ich von nun an in unseren Blumenkübel spucken – vielleicht wächst da irgendwann ein Olivenbäumchen daraus, dann kann ich der Dresch auch mal was erzählen. Jawohl, der Kevin hat auch das Recht auf einen sauberen Spielplatz, und ich will auch kein Integrationsablehner sein. Ein Integrationsmuffel. Nicht mal die Babuschka von oben schmeißt Sachen über den Balkonrand, auch ihr diskret hustender Alte schmeißt keine Zigarettenkippen so einfach weg, er hat ganz bestimmt einen Aschenbecher, und den leert er regelmäßig in den Hausmüllbeutel ... NICHT in den gelben Sack... Der Iraker unter uns macht auch Fortschritte – er hat zwar noch keinen Aschenbecher, dafür ein umfunktioniertes, dickes Einmachglas, welches in der pflanzenlosen Erde seines Balkonkübels steckt; Schade nur, dass, wenn das Glas voll ist, der Iraker es wie selbstverständlich auf den Spielplatz kippt ... Armer Kevin ... Kevin könnte Klassenprimus sein, bei seinem Fleiß ... Und, wer weiß, vielleicht auch der Keanu, in seiner Vorstadtschule ...

... Wie heißen denn die Alten von oben? Wenn sie Weber hießen, dann könnten sie die Eltern von Rasputin sein ... Wie schön, der kommt dann mit seiner Familie auf Besuch, sonntags, die Babuschka macht Bliny für alle, ein Riesentopf Bliny, und sie tätschelt liebevoll ihren Sohnemann auf dem Nacken, während der nur so Bliny in sich stopft und wie ein Bär schmatzt. Harascho, harascho, grölt der Unfallchirurg und rülpst wie eine Sau, um der Babuschka Freude zu bereiten.

„Was grinst du so blöd?“, unterbrach Schwiegermutter ihre belebte Rede, und mein Mund zog sich brav zusammen. „Das stand in der Zeitung, ich erzähle dir wohl keinen Unsinn, was glaubst du!“

... Stimmt, sonntags hört man oft schweres Getrampel durch die Decke ... Nein, die heißen nicht Weber, das wäre mir schon aufgefallen ... Zöllner oder Zöller, in die Richtung ... Zjolljer ...

... Wieso nicht, Kevin könnte auch mal Unfallchirurg werden – faule Ärzte gibt es nirgendwo auf dieser Welt, die sind alle durchhaltevermögend und verbissen ... Zielorientiert, patientennah ... Guten Tag, Frau Szerdar, mein Name ist Kevin Dingenskirchen, was kann ich für Sie tun? Dann würde er Schwiegermama nicht hin und her schubsen, sondern vorsichtig antasten, professionell, ja sogar zärtlich ... Zwei Stunden lang, wenn nötig, bis er zweifellos entdeckt hat, wo’s fehlt ...

... Diese Hegelstraße ist furchtbar lang, in der Tat, enorm lang, sjehr lang, der Auto-Pilot steuert unbeirrt weiter, ihm ist nicht schwindlig vor Hunger, nur in meinem Magen bilden sich dutzende von Geschwüren, ich würde auch gerne einen ganzen Topf Bliny essen, egal, was das sind. Eine Art Teigtaschen mit Hackfleisch gefüllt, oder Speck, oder beides? Verwechsle ich gerade Bliny mit Piroggen? Borschtsch ist mir eher ein Begriff, das ist eine Art Suppe, mit rote Beete als Basis, aber Fleisch müsste auch drin stecken, Wurstscheiben, oder Speckwürfel, etwas Vernünftiges – die Slawen sind nicht doof ... Wobei ich könnte jetzt sogar rote Beete runterkriegen, ohne Speck und ohne alles ... Auch einen Besen fressen ... Soll das die ungefähre Übersetzung von I could eat a horse sein?

„Fffee-aad!”

„Was?”

* * *

LEIDEN auf Ausländisch

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