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III

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Sabine Harder legte den Bleistift zur Seite und zerriss das kaum beschriebene DIN-A4-Blatt. Zu dem Brief an die Kolosser, wie er in der Bibel stand und über den sie am Sonntag predigen sollte, fand sie keinen richtigen Zugang. So viele moralische Aufforderungen, wer wollte das noch hören! Eigentlich hatte sie sich das mit dem Predigen als Klinikseelsorgerin anders vorgestellt. Mit ihrer 50%-Stelle beabsichtigte sie den Schwerpunkt auf die Gespräche mit den Kranken zu legen. In der Woche hielt sie die Vormittage dafür frei. Dazu kamen die Notfälle, die sie jeder Zeit ereilen konnten. In die sonntäglichen Gottesdienste kamen stets neue Patienten. Ein Dutzend Predigten mit speziellem Bezug zu der Sorgenwelt von Kranken bereitete sie vor, die sie dann nacheinander hielt. Alle drei Monate begann sie den Predigtzyklus von vorne, mit einigen Aktualisierungen, wie sie die Weltgeschichte oder der Klinikalltag nahelegten. Die Predigt jedenfalls sollte nicht mehr wie zuvor im Stadtpfarramt die Arbeitszeit übermäßig beanspruchen. Schließlich hatte sie zwei kleine Kinder und einen Mann, der als Pharmavertreter viel unterwegs war. Alles das hatte sie bei ihrer Bewerbung bedacht, doch dann kamen sie: Frau Adlung und Frau Beer, zwei ältere, distinguierte Damen mit Konzertabo im Stadttheater und edlem Geschmeide an Hals und Arm. Sie wohnten nicht weit weg vom Klinikgelände. An einem eisigen Wintersonntag erschien es ihnen zu gefährlich, die abschüssige Straße in die Stadt und zur Friedenskirche zu laufen. Sie entschieden sich für den Gottesdienst in der Reha-Klinik. Es sollte eine Ausnahme sein. Ein Mal. Dieses eine Mal fanden sie aber viel bequemer. Auch predigte die Pfarrerin schön. Außerdem war ihnen als treuen Leserinnen der „Apotheken-Umschau“ und von eigenen Zipperlein her das Thema Krankheit ohnehin vertraut. Kurzum, sie entschieden sich, in Zukunft jeden Sonntag in die Reha-Klinik zum Gottesdienst zu gehen. So war es nichts mit dem einen Dutzend Predigten für Sabine Harder. Denn was gab es Schlimmeres, als wenn die Damen irgendwann erzählten, die Frau Pfarrerin predige immer das Gleiche. Ein Ehrgefühl stieg in ihr hoch. Nein, dieser Schmach wollte sie sich nicht aussetzen. So saß sie an einem Samstagnachmittag in ihrem schönen Dienstzimmer mit Blick in den Kurpark, die Birken schwankten im Wind und die Kohlmeisen zirpten im Psalmgarten. Den hatte die Klinik auf ihr Betreiben hin angelegt, finanziert von der Pharmafirma ihres Mannes. An diesem Nachmittag war er mit den Kindern in den Zoo gefahren, um ihr den Rücken freizuhalten. Nur dass ihr zu der Stelle aus dem Brief an die Kolosser partout nichts einfallen wollte.

War da nicht Musik zu hören? Draußen im Park. Das konnte sie jetzt gar nicht vertragen: Ablenkungen. Sie erhob sich, um das Fenster zu schließen. Schon hatte sie den Fenstergriff umgedreht, schon war sie einen Schritt zum Schreibtisch zurückgegangen, da drehte sie den Kopf langsam wieder in Richtung des Fensters und stutzte. Sie sah jetzt konzentriert nach draußen. Da saß ein schwerer Mann mit grauem Bart im dunkelblauen Bademantel, den Kopf über ein Akkordeon gebeugt, auf einer der neuen Parkbänke mitten im Psalmgarten. Genau dort, wo hohe Weidenruten, in ihrer Krone zusammengeflochten, eine Art Schlucht bildeten. Sie illustrierten den Vers aus dem 23. Psalm: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal. Sie hatte den Mann noch nie gesehen. Irgendwie eine unwirkliche Szene, wunderte sie sich. Der Eindruck verstärkte sich, nachdem sie das Fenster leise wieder geöffnet hatte. Der Mann spielte nur mit der rechten Hand auf dem Akkordeon. Sie nahm eine einstimmige Melodie wahr, die etwas unbeholfen klang, wie von einem Anfänger in der Musikschule. Unablässig wiederholte der Graubärtige die Melodie, ausdruckslos, mantramäßig. Es dauerte, dann dämmerte ihr, was sie wirklich irritierte. Die Melodie war von Martin Luther. Keine Frage, der Mann spielte Ein feste Burg ist unser Gott. Jetzt sah sie, wie er die Lippen bewegte. Ja, er schien auch den Text zu brummen. Schon wollte sie in den Psalmgarten, um den Sonderling anzusprechen, da fielen ihr die Damen Adlung und Beer ein. Morgen kamen sie wieder, mit Perlenketten behangen saßen sie dann in der zweiten Reihe links erwartungsvoll vor ihr. Morgen, am Sonntag, der den Kirchennamen Kantate trug. Kantate! Singt! Darum ging es doch in diesem Brief an die Kolosser auch: … mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott! Der Mann im Park tat genau das: Ein Lied spielen und singen, das Gott als feste Burg gegen die Feinde pries. Die Klinik war auch so eine Burg. Die Feinde der Patienten waren die Krankheiten. Gott wollte mit den Menschen sein, die sich vor den Feinden fürchten. Dafür ist er zu loben mit Liedern … Jetzt hatte sie einen Zugang zum Thema des Sonntags. Kurz überlegte sie, den sonderbaren Mann mit seinem Lutherlied als Einstieg zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der Mann entweder morgen in den Gottesdienst kam oder die Übertragung ins Zimmer einschaltete! Es wäre ihm dann peinlich, sich auf diese Weise erwähnt zu finden. Auch ist die seelsorgerische Gesprächssituation belastet, wenn er sich auf diese Weise kompromittiert sieht. Nein, das würde sie nicht tun. Aber der Mann muss doch auf meiner Liste sein, sagte sie sich, nachdem sie die Predigt in einem Zuge niedergeschrieben hatte. Sie blätterte die Computerausdrucke durch. Die Klinikverwaltung hatte gestern und heute keinen männlichen Neuankömmling gemeldet, der das Kästchen „Besuch der Klinikseelsorgerin erbeten“ angekreuzt hatte. Noch einmal sah sie aus dem Fenster. Der Mann im Bademantel hatte sein Akkordeon eingepackt und trug den Koffer jetzt in Richtung der neurologischen Abteilung. Sabine Harder zweifelte, ob sie ihn wirklich nicht kannte. Er war ja eine imposante Erscheinung! Sie besuchte nicht nur die, die ausdrücklich den Besuchswunsch angekreuzt hatten, sondern auch die, die als evangelisch gemeldet waren. Dieser Mann war nicht darunter. Entweder gehörte er keiner Kirche an oder er hatte die Mitgliedschaft aus irgendeinem Grund nicht mitgeteilt oder er war katholisch. Drei Motive, die sich alle nicht mit seinem öffentlichen Auftritt im Park vertrugen. Das hatte eine besondere Bewandtnis, wenn jemand es wagt, ein uraltes Kirchenlied in einem Klinikpark zu spielen. Hatte ihn der Psalmgarten inspiriert?

Der Mann tauchte am nächsten Tag nicht im Gottesdienst auf. Frau Adlung und Frau Beer lauschten andächtig den Worten Sabine Harders und sangen das Lied nach der Predigt demonstrativ ohne Gesangbuch mit: Ein feste Burg ist unser Gott, solch ein Lied hatte man in ihrer Generation im Konfirmationsunterricht noch auswendig gelernt! Nachdem die Pfarrerin die kärgliche Kollekte gezählt und das Sakristeibuch ausgefüllt hatte, ging sie zur neurologischen Abteilung. Sie wollte den wunderlichen Mann sprechen. Die Flure waren in Pastelltönen gestrichen. In den Aufenthaltsräumen fand sie ihn nicht. Sie beschrieb den Schwestern den Musikanten im Bademantel. Schulterzucken, ungläubiges Staunen auf den ersten Stationen. War sie einem Phantom aufgesessen? Sie stieg die Treppen zum vierten Stockwerk hoch und traf auf Schwester Petra. Sie kannten sich vom gemeinsamen Volleyballspiel des Klinikteams. Kurz trug sie ihr Anliegen vor. Die Schwester wusste gleich Bescheid und flüsterte ihr zu: „Wundere dich nicht über das, was du jetzt gleich siehst.“ Am Ende des Stationsflures lag der Aufenthaltsraum. Den beiden Frauen schlug das Trommeln und Klingen Orffscher Musikinstrumente entgegen, ein bizarres Klanggemisch mit einer darüber schwebenden Melodie.

„Unsere Musiktherapeutin leitet die Patienten an“, gab Petra zu verstehen und drückte sanft die Tür auf. An der Stirnseite des nüchternen Raumes stand ein Schrank offen. In seinen Regalen lagen abgenutzte Kartons mit Brett- und Kartenspielen. Auf einer Pinwand waren Ansichtskarten befestigt, die dankbare Patienten aus ihren Heimatorten gesandt hatten. Ungläubig starrte Sabine Harder auf das Szenario, das sich ihr in der Mitte des Raumes bot. Mit ausgezehrten Gesichtern saßen vier Männer auf wackligen Stühlen. Ihre Blicke waren auf die gepflegten Hände einer jungen Frau mit violettem Halstuch und kunstvoll geflochtenem Zopf gerichtet. Sie gab ihnen den Takt vor. Rhythmisch klopfte der Älteste des Quartetts auf eine Schellentrommel. Bei jedem Schlag vibrierte sein Knebelbart. Ein anderer mit Glatze und buschigen Augenbrauen schlug eine Triangel an. Der Jüngste mit zitronengelbem T-Shirt und mehreren Lippenpiercings versuchte etwas unbeholfen, mit Kastagnetten Schritt zu halten. Harders schweifender Blick blieb beim vierten Mann haften. Seine mächtige Statur, sein grauer Vollbart ließen ihr keinen Zweifel, auch wenn er jetzt den blauen Bademantel gegen ein weites Hemd aus weißer Baumwolle eingetauscht hatte. Es war der Mann, der sie am Vorabend bis in den Schlaf hinein beschäftigt hatte. Mit seinem Akkordeon gab er den drei anderen Musikanten die Melodie vor. Eine Melodie, über die sie vor einer halben Stunde gepredigt hatte: Ein feste Burg ist unser Gott. Leise drückte Schwester Petra die Tür wieder zu.

„Wer ist der Mann im weißen Hemd?“, flüsterte die Klinikseelsorgerin, obwohl niemand zu sehen war.

„Das ist Herr Trödler“, erklärte die Schwester, „er hatte einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Bei uns ist er, um die posttraumatischen Störungen abzubauen. Er spielt den ganzen Tag Akkordeon. Immer dieses eine Lied. Du musst das doch kennen. Ist doch wohl ein Kirchenlied. Weißt du, wie ihn die anderen Patienten nennen?“

Sabine Harder sah ihre Volleyballfreundin fragend an.

„Die nennen ihn Martin Luther. Und was glaubst du, wie er reagiert?“

Wieder spannte die Krankenschwester Sabine Harder auf die Folter.

„Na, beim letzten Mal, als ihn einer so nannte“, erlöste Petra die Pfarrerin, „da haben einige gelacht und er ist wütend geworden. Aber nicht, weil sie ihn so nennen. Nein, im Gegenteil, er ärgerte sich, weil sie die Sache nicht ernst nahmen. Ich bin Martin Luther und weiß nicht, was es da so blöd zu lachen gibt. Ich habe ein bisschen Respekt verdient angesichts meiner Leistungen, hat er gesagt.“ Petra verkniff sich mit Mühe ein Lachen.

Die Pfarrerin blickte auf den Park. Es war Mittagszeit. Die Patienten strömten in Richtung Speisesaal. Was war das für eine Erkrankung, an der dieser Herr Trödler litt, fragte sie sich. Vor Kurzem hatte sie in einer Zeitschrift einen Artikel über multiple Persönlichkeitsstörungen gelesen. War es das, was diesen Mann plagte? Das Entstehen einer zweiten Person im Gehirn zur Bearbeitung einer traumatischen Erfahrung? Aber dieser Herr Trödler wirkte heute gar nicht geplagt, im Gegenteil. Sein Musizieren, sein ruhiger und konzentrierter Blick strahlten eine innere Harmonie aus, so als ob da jemand mit sich im Reinen wäre. Wenn Luther die eine Persönlichkeit war, in der er sich zu Hause fühlte und mit Hilfe derer er ein Trauma abbaute, vor welcher anderen Persönlichkeit wich er aus?

Sabine Harder sah auf die Uhr. Zu Hause wartete ihre Familie auf sie. Sie ging zu ihrem Fahrrad. Neben ihr öffnete jemand ein Fahrradschloss. Es war Gudrun Wiegand, die Musiktherapeutin. Die Übungsstunde war vorbei. Sie wechselten ein paar Sätze. Wolfgang Trödler war seit drei Tagen in der Musikgruppe.

„Das Spiel mit dem Akkordeon hilft“, erläuterte die Therapeutin, „scheinbar abgestorbenes Gedächtnis zu reaktivieren. Ich bin zu ihm ins Zimmer gegangen und habe ihm einen Katalog mit Musikinstrumenten gezeigt. Erst beim Akkordeon hat er reagiert. Ja, das wolle er spielen. Wenige Tage später hat ihm die Lebensgefährtin sein Akkordeon gebracht. Allerdings hat die bisherige Reha-Zeit zu einem auch für mich überraschenden Ergebnis geführt.“

Sie hatte das Schloss um die Sattelstange befestigt und schob das Fahrrad aus dem Ständer.

„Herr Trödler erinnert sich nicht an sein bisheriges Umfeld, an seine Lebensgefährtin, an den Campingplatz, auf dem er gearbeitet hat. Alles ist noch wie weggeblasen. Dafür hat er aber erstaunliche musikhistorische Kenntnisse, obwohl er von Beruf Hausmeister auf einem Campingplatz ist. Stellen Sie sich vor, morgen will er mit den anderen Patienten ein neues Lied einüben. Das Lied, so sagte er uns, hat den Titel Es ist gewißlich an der Zeit. Er sagt, er habe die Melodie in Anlehnung an das Dies irae, dies illa aus dem 12. Jahrhundert komponiert. Ich bin schon gespannt, wie das klingen wird.“

Dies irae? Dies illa? Eine SMS ihrer 12-jährigen Tochter Swantje fragte drängelnd, wann sie endlich nach Hause komme. Dennoch eilte sie noch einmal in die Klinikkapelle. Sie blätterte im Gesangbuch und stieß mit einem leisen Aufschrei auf das Lied mit der Nummer 149. Es ist gewißlich an der Zeit. Am Ende der Strophen las sie atemlos, wer wann die Melodie kreiert hatte: Martin Luther, 1529.

Sie radelte nach Hause. Am nächsten Morgen musste sie das Gespräch mit Wolfgang Trödler suchen. Besser gesagt, mit Martin Luther. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dass ich das noch erleben darf, zitierte sie einen Satz, den sie sonst bei Diamantenen Hochzeiten oder hohen runden Geburtstagen hörte. Doch in die fast heitere Vorfreude mischte sich ein Gefühl von Unsicherheit. Musste sie diesem Herrn Trödler nicht reinen Wein einschenken? Genaugenommen hatte sie etwas Angst vor dem Gespräch. Verletzte sie ihn nicht, wenn sie ihm die Illusion seiner scheinbaren Identität nahm? Ich werde ihm Fragen zu Luther stellen, die er nicht beantworten kann, nahm sie sich vor. Ein psychischer Zusammenbruch ist nicht auszuschließen, wenn er die Wahrheit erkennt. Ihr war jedenfalls klar, was sie ihm verweigern musste: Ihn als Martin Luther anzuerkennen und mit ihm auf dieser Ebene zu kommunizieren. Dieser Herr Trödler durfte nicht in religiöse Wahnvorstellungen abgleiten. Immerhin hatte sie eine positive Möglichkeit, ihn aufzufangen: Sie konnte ihm Wege zeigen, in der heutigen Zeit an Gott zu glauben, gerade auch mit Hilfe von Luthers Lehre. Ja, morgen werde ich dem Spuk ein Ende bereiten. Sie trat entschlossen in die Pedale.

Lutherleben

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