Читать книгу Einsame Klasse - Felix Lill - Страница 6
AUF TOKIO!
ОглавлениеZärtlich streichelte der Anzugträger neben mir das virtuelle Gesicht auf seiner Handkonsole. Im ersten Moment nach dem Aufwachen im nächtlich abgedunkelten Flugzeug war ich nicht sicher, ob meine Wahrnehmung voll funktionsfähig war. Meine Neugier war immerhin soweit von journalistischer Professionalität gezähmt, dass ich dem Impuls widerstand, meinen Kopf auffällig nach rechts zu drehen. Auch aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, was sich da am Fensterplatz abspielte. Der Bildschirm zeigte eindeutig ein virtuelles Gesicht, eine virtuelle junge Frau. Wie in einem Manga bildeten sich in ihren großen Augen gerade glitzernde Tränen. Dazu strahlte sie vor Glück. Und er? Managertyp, groß gewachsen, Nadelstreifen, teure Armbanduhr, dezente Krawatte, mit der Körpersprache eines Alpha-Tieres. Er strahlte ebenfalls. Zeitgleich mit ihr schien auch er den Tränen nahe. Und mir lief ein Schauer über den Rücken. Hätte Lena an meiner anderen Seite nicht geschlafen, ich hätte sie jetzt an mich drücken wollen. Das, was ich da zu meiner Rechten beobachtete, war zweifellos eine Liebesszene. Allerdings eine, wie ich sie noch nie gesehen hatte. In ihrer Intensität schön, mutete sie mich absurd an, fast traurig. Weil da nur ein virtuelles Gegenüber war. Was er voller Zuwendung murmelte, konnte ich nicht verstehen. Abgesehen vom Lärm der Turbinen hätten dafür die paar Sätze Japanisch, die ich mir vor diesem Abenteuer eilig angeeignet hatte, bestimmt nicht ausgereicht. Dass der Mann neben mir Japaner war, wusste ich auch nur, weil ich beim Check-in seinen Pass gesehen hatte. Wir waren auf dem Weg nach Dubai. Dort ein paar Stunden Aufenthalt, dann weiter nach Tokio. Gut möglich, dass er den selben Weg hatte.
Jetzt hatte er offenbar bemerkt, dass ich nicht mehr schlief, sondern ihn beobachtete, denn er drehte sich so weit mit dem Rücken zum Fenster, dass ich seinen Bildschirm nicht mehr sehen konnte.
Peinlich ertappt, bemühte ich mich um ein freundliches Lächeln und ein entschuldigendes Achselzucken.
Er jedoch blickte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Streng, weil ich in seine Privatsphäre eingedrungen war. Skeptisch, weil meine Gesten mein Unbehagen bestimmt nicht verbergen konnten. Schließlich rückte er sein Gesicht zu einem selbstsicheren, keineswegs verteidigenden Lächeln zurecht, beugte sich zu mir und deutete auf sein Gerät: »This is the future of love«, sagte er in akzentfreiem Englisch.
I hope not, hätte ich ihm gerne entgegnet, beließ es jedoch bei einem weiteren Achselzucken, zumal Lena bei ihrem leichten Schlaf bestimmt aufgewacht wäre, hätte ich ein Gespräch begonnen, wie ich es jetzt eigentlich gleich führen wollte.
Mein Sitznachbar zog sich wieder zurück und ich schaute demonstrativ in die andere Richtung. Das sollte die Zukunft der Liebe sein? Zu wenig, tatsächlich fast nichts, wusste ich über die japanische Art zu kommunizieren, sodass ich Klamauk von Ernsthaftigkeit nicht unterscheiden konnte. Hatte ich hier gerade einen Witz gehört oder eine Prognose? Dass interkulturelle Missverständnisse vorprogrammiert waren und ich mich vor einem exotistischen Blick hüten musste, war mir bewusst gewesen. Umso mehr irritierte mich meine eigene Irritation. Gleichzeitig fand ich es spannend, irritiert worden zu sein und dankte meinem Sitznachbarn dafür im Geiste. In den unendlichen Weiten des Flughafens von Dubai verlor ich ihn aus den Augen.
Bald hatten wir unser nächstes Gate und zwei Sitzplätze davor gefunden. Nachdem wir unsere Jacken zwischen Rücken und Wartebank gestopft hatten, um ein bisschen bequemer zu sitzen, nickte Lena gleich wieder ein. Um uns herum parkten Reisende ihre Koffer, schliefen auf Liegen, hielten sich mit Kaffee wach, sahen Filme auf ihren Laptops, mit Kopfhörern im Ohr. Der rauschende Flughafenlärm legte sich betäubend über die Nachtmüdigkeit in der Halle.
Ich war gerade ebenfalls am Wegdämmern, da piepte es aus Lenas Handtasche.
Mit unwillig verzogenen Mundwinkeln und noch geschlossenen Augen kramte sie nach ihrem Handy. Als sie es schließlich gefunden hatte, konnte ich beobachten, wie ihre Augen groß und rund wurden. »Oh Gott, Babe!«
Da sie mich so nannte, konnte nur eine kleine Tragödie passiert sein. Babe, das war ich. Das Schweinchen namens Babe. Vom ersten Moment an, als der Name noch ein Witz gewesen war, kam er mir, und ihr, bescheuert vor. Fünf Jahre lag das zurück. Nachdem ich ein ganzes Jahr lang in jeder Ecke ihre Liebe gesucht hatte, fand sie schließlich meine. Endlich mussten wir nicht mehr bloß als Freunde scherzen, sondern konnten uns dabei küssen, den Mund mit der Hand zukleben, uns danach umarmen. Unter solchen Umständen Babe genannt zu werden, konnte ich ertragen. Lena machte sich damit über all die anderen Pärchen lustig, in deren Beziehung einer zum handzahmen Kater oder braven Schoßhündchen verklärt wurde. Wir waren natürlich anders. Der Witz, mich zum Schweinchen zu machen, gefiel ihr so gut, dass sie ihn ständig wiederholte, bis es irgendwann kein Witz mehr war und ich wirklich Babe hieß. Was erträgt man nicht alles an einem Menschen, den man liebt. Ich konnte mich nicht beschweren. Lena wäre gut ohne meine Klapse auf ihren Hintern ausgekommen, von denen sie die meisten zu spüren bekam, wenn sie nichts erwartete. Sie hätte auch darauf verzichten können, dass ich manchmal mit ihr sprach, als wäre sie mein Mannschaftskollege. Namen wie Manndecker oder Schwalbenkönig kamen nicht gut an. »Ich bin nicht dein Fußballkumpel«, schnitt sie mich mit einem zurechtweisenden Blick, der nicht einmal meinen Augen galt, sondern meiner Stirn oder meinem Haaransatz. Manchmal konterte sie auch: »Auf’m Platz würd ich dich eh nie anspielen.«
Aber jetzt zog Lena diese andere Grimasse, die mahnende. Babe musste zuhören. »Anna und Jan haben sich getrennt.«
Der Schreck, den sie so lange in ihren Augen hielt, dass er nicht übersehen werden konnte, übertrug sich auch auf mich. Wieder einmal spürte ich den rauen Wind, der in letzter Zeit die Beziehungen unserer Bekannten umzischte.
»Ich dachte, die heiraten irgendwann«, sagte Lena. Ihre warme Stimme klang so betrübt, dass ich gleich ihre Hand nahm und sie an der Innenseite küsste, wie ich es oft tat. Anna und Jan waren eines dieser Paare, die perfekt wirkten. Von Streit nichts zu sehen, dafür alle möglichen Kosenamen, über die Jahre hatten sie sich einander so sehr angenähert, dass sie fast wie zwei Versionen desselben Menschen aussahen. Adrett, zurückhaltend, solide. Sie Reiterin und Angestellte, er Jurastudent in den letzten Semestern und Bierliebhaber. Beide waren das Gegenteil sozialer Problemfälle.
Lena stand auf, um Anna anzurufen. Als sie zurückkam, blieb sie vor mir stehen und erzählte mir in aller Kürze, was vorgefallen war. »Anna ist sich nicht mehr sicher, ob sie das Ganze noch will. Die haben es so lange zusammen versucht, aber sie meint, sie will jetzt mal Single bleiben und andere Dinge sehen.«
Ohne Anna sonderlich gut zu kennen, meinte ich, sie zu verstehen, was immer diese anderen Dinge sein mochten, die sie noch sehen wollte. Mein Verständnis dafür auszusprechen, wäre allerdings nicht opportun gewesen. Lena verdarben solche Nachrichten schnell die Stimmung auch für die kleinsten Scherze, mit denen ich mich dann gerne aufheiterte. Und verunsichern wollte ich sie jetzt auf keinen Fall.
»Jan klammert halt zu sehr an ihr«, fuhr Lena fort. »Er hat sich richtig für sie geändert und geht kaum noch aus. Sie will ihn nicht immer im Schlepptau haben, sondern mehr Zeit für sich.«
Jan und Anna waren zwar ähnliche Typen, das war mir bei unserer Handvoll Begegnungen in Köln, wo Lena aufgewachsen war, sofort aufgefallen. Offensichtlich waren sie aber nicht in der Lage, sich ausreichend auf die Bedürfnisse des Anderen einzulassen.
»Das ist so traurig. Wenn schon die beiden es nicht schaffen«, sagte Lena und schaute auf die Anzeigetafel mit den Abflugzeiten. »Sie liebt ihn und er liebt sie.« Da mir nicht gleich etwas dazu einfiel, füllte Lena auch den nächsten wortlosen Moment: »Glaubst du, Tokio wird uns auseinandertreiben?«
Da war es. Sie war verunsichert. Ich schüttelte den Kopf und wollte sie umarmen.
Sie jedoch wich zurück. »Du nimmst mich nicht ernst.«
»Stimmt«, grinste ich, packte sie mit einer schnellen Bewegung und zog sie auf den Sitz neben mich.
Nun ließ sie es doch zu, dass ich den Arm um sie legte, kuschelte ihren Kopf an meine Schulter. Das Handy mit der Nachricht von Anna hielt sie allerdings von sich gestreckt, als wäre Trennung eine ansteckende Krankheit. In die Leere vor uns flüsterte sie, als spräche sie einen letzten Wunsch aus: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.«
Noch zwei Stunden, bis wir weiter fliegen würden nach Tokio, zu unserem neuen Wohnort. Beide kannten wir die Stadt noch nicht. Das Ganze hatte sich eher durch Zufall ergeben. Das zweite und letzte Jahr eines Politikstudiums, das ich zuvor für meinen Job in London auf Eis gelegt hatte, konnte ich dort verbringen. Und weil einige der deutschen, österreichischen und schweizerischen Zeitungen, für die ich aus Großbritannien berichtet hatte, eineinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 keinen Japan-Korrespondenten vor Ort hatten, ergab sich für mich eine einmalige Chance, Arbeiten und Studieren zu kombinieren. Lena hatte in London ein soziologisches Studium abgeschlossen, ihre nächste Station kannte sie noch nicht, also kam sie mit. Vielleicht war der Ort ohnehin nicht so entscheidend, weil wir beide füreinander die Endstation waren, egal wo.
Lena war das, was Psychoanalytiker und Philosophen wie Slavoj Žižek und Alain Badiou ein revolutionäres Element nennen. Vielleicht erlebt jeder so eine Revolution. Diese Begegnung, die ein Leben verändert, einen Menschen aus seinem Alltag reißt und seine ganze vorige Biographie nur noch im Lichte dieser neuen Situation erklärbar werden lässt, als hätte sich alles nur auf dieses eine Ereignis hin entwickelt. Unausweichlich. So war es. Seit ich Lena kennengelernt hatte, war sie mir nie wieder aus dem Sinn gegangen, auch wenn ich sie vergessen wollte. Bei jedem größeren Problem und vielen kleineren war sie zu einem Teil der Gleichung geworden, den ich nicht rauskürzen konnte. Wo verbringe ich mein Leben? Wie mein Wochenende? Wie lasse ich mir die Haare schneiden? Nur ihretwegen probierte ich keine Kahlrasur. Dann sähe ich aggressiv aus, vielleicht wie ein Schlägertyp, fand sie, und wenn ihr das nicht gefiel, dann wollte ich das auch nicht. Lenas Meinung, obwohl diese sich, wie sie selbst zugab, oft mit Launen vermischte, zählte immer.
Auch für Tokio hatten wir uns gemeinsam entschieden. Für eine Stadt, über die wir beide fast nichts wussten. Uns stand ein Abenteuer bevor, dessen Fortgang auf allen Ebenen ungewiss war. Lenas Praktikum war unbezahlt, so musste ich zu meinem Stipendium, das ich für das Studium erhielt, noch möglichst gut dazuverdienen, damit wir in so einer teuren Stadt nicht finanziell auf Grund laufen würden. Lena hatte Rückhalt bei ihren Eltern, aber die wollte sie auf keinen Fall anpumpen. Ich wusste nicht, wie groß die Nachfrage nach meinen Storys sein würde, aus einem so weit entfernten Land wie Japan. Die andere Frage, die wir uns beide schon länger stellten, war die nach uns. Als Paar hatten wir schon einiges überstanden. Kennengelernt hatten wir uns beim Studium in Wien, eine schwere Geburt. Mir gefiel Lena vom ersten Abend an, als wir einander auf der Party einer gemeinsamen Bekannten vorgestellt wurden, aber die Zuneigung war einseitig. Unsere Dates von da an verstand sie als irgendwas zwischen zaghaftem Flirt und oberflächlicher Freundschaft, während ich mir mit jedem Mal größere Hoffnungen machte. Als ich sie endgültig aufgegeben hatte, sie mich vor der Uni mit meiner neuen Freundin sah, konnte Lena den Anblick plötzlich nicht akzeptieren und schrieb mir zum ersten Mal aus eigenen Stücken eine Nachricht. Noch einige Wochen dauerte es, vielleicht Monate, bis wir uns wirklich näherkamen, und noch ein bisschen länger, ehe es Lena nicht mehr peinlich war, dass auch die Leute um uns herum davon wussten. Als wir das kleine Beziehungs-Einmaleins durchhatten, schloss ich mein Studium ab und eine schon länger angedachte journalistische Weltreise stand an. Während dieses einjährigen Experiments hatte ich nicht nur das Glück, dabei nicht pleitezugehen, sondern auch, dass Lena das alles mitmachte. Trotzdem kam es zunächst zur Trennung. Nach meiner Rückkehr ein Jahr später suchte ich allerdings jeden nur möglichen Weg, um ihr nach London zu folgen, denn dort war sie mittlerweile für ihr Masterstudium. So wurden wir wieder ein Paar, um viele Erfahrungen reicher, und blickten zusammengeschweißt Richtung Zukunft. Aus der wurde nun Tokio, erst mal für ein Jahr, dann würden wir weitersehen.
Was für ein Leben. Oft schwärmten wir über unser Glück. Für mich war die Welt nicht genug. Seit meinem Abi in Hamburg wollte ich alles sehen, kennenlernen, ausprobieren. Als Lena und ich uns die Welt zu zweit vornehmen konnten, wurde alles noch aufregender. Sie war ein neugieriger Typ. Allerdings beobachtete ich mit Sorge, dass der Reiz am Neuen in ihr allmählich nachließ. »Ich würde mir wünschen, dass wir ein langweiliges Leben führen«, hatte sie mir mittlerweile ein paar Mal gestanden. Ich begriff nicht, wie jemand so etwas sagen konnte. Sie erklärte es mir mit viel Geduld. Langweilig sei gar nicht schlimm: ein gemeinsamer Freundeskreis mit gegenseitigen Einladungen am Wochenende, ein Leben mit Festanstellungen und regelmäßigen Abläufen, gemeinsame Pläne. Das Wort »Fünfjahresplan« fiel in dem Zusammenhang. Für mich klang das wie Industriepolitik in der DDR. Mit solchen Vokabeln konnte Lena eigentlich auf keinen unpassenderen Typen treffen als mich: Freiberufler mit Hummeln im Hintern und, wie meine Freunde spotteten, einer ideologisch aufgeladenen Anti-Haltung gegenüber langfristigem Denken. Sie wollte Stabilität. Für mich war auch Mobilität eine Art von Beständigkeit, zumal mein Bekenntnis zur ihr, zu uns, von aller Beweglichkeit unberührt blieb. Vom Sesshaftwerden wollte ich nichts hören, jedenfalls noch nicht. Aber wenn Lena sprach, hörte ich zu. Nicht, weil mir der Gedanke an das langweilige Leben auch nur ein kleines bisschen interessant erschien, sondern weil er aus ihrem Mund kam. Wenn sie schnell sprach und sich ihre Stimme überschlug, schaute ich einfach auf ihre Lippen und erfreute mich an diesem Bild. Bei solchen Gelegenheiten wippten ihre Locken und sie fächerte aufgeregt mit den Nasenflügeln. Weil mich ihre Mimik von Anfang an beeindruckt hatte, erschienen bei solchen Gelegenheiten vor meinem inneren Auge Bilder von Dingen, die wir gemeinsam erlebt hatten, von denen nichts langweilig gewesen war. Oft stimmte ich ihr in Diskussionen zu, weil ich irgendwie machtlos war, wenn ich sie nur ansah.
Dass Lena sich Sorgen machte, ehrte und nervte mich gleichermaßen. Auch ich machte mir hier und da solche Gedanken, mir gelang es nur besser als ihr, sie beiseitezuschieben. Lena aber rief sie hartnäckig in Erinnerung. Und da waren wir jetzt wieder, zwischen Handgepäck für den Aufbruch und Hiobsbotschaften aus der Heimat. »Ich hab Angst, dass wir uns auch auseinanderleben, Felix. Nach so langer Zeit kann das doch jedem passieren.«
Unsere Beziehung hatte sich über Jahre entwickelt, so weit, dass wir nun gemeinsam ins Unbekannte zogen. Welcher Beweis, dass wir zusammengehörten, konnte deutlicher sein? »Das schaffen wir schon«, sagte ich. »Diesmal sind wir doch zusammen an einem Ort. Bald haben wir unsere gemeinsame Wohnung. Neue Freunde finden wir bestimmt auch schnell.« Wir nahmen einander in den Arm und schwiegen, obwohl nicht viel geklärt war. Ungewissheiten lassen sich nicht gut diskutieren. Kurz vorm Boarding stießen wir auf unsere gemeinsame Zukunft an, mit zwei kleinen Sektflaschen, die eine mit Sissi-Etikett und die andere mit Franz Josef. Als Erinnerung an unsere Studienzeit in Wien hatte ich sie besorgt, kitschig bunt und rosig. Eine Frau, die ihren Freund Babe nennt, ließ sich durch solche Ideen begeistern. Lena musste lachen, als sie die Flaschen sah. »Auf uns!«, sagten wir in synchronem Singsang. In Eile spülten wir unsere Sorgen runter und brachten sie noch am Flughafen von Dubai auf die Toilette. Damit sie uns ja nicht im neuen Leben störten.
Was für Sorgen eigentlich? Ich hatte das zwar nicht vor, aber Lena quälte der Gedanke, ich könnte mich irgend wann doch für andere Frauen interessieren und mit der Nächstbesten verschwinden. Das, was sie in mir sah und meinen »Freiheitsdrang« nannte, zog sie an und stieß sie ab. Ich mochte ihren Hang zum Planen nicht, gleichzeitig tat mir eine Portion davon sehr gut. Eigentlich war doch alles in Ordnung. Wir teilten viele gemeinsame Erfahrungen, gingen uns nur selten auf die Nerven und hatten gemeinsame Freunde, auch wenn die sich auf mehrere Städte in verschiedenen Ländern verteilten. Wir stritten heftig, versöhnten uns umso süßer. Unser alberner Humor harmonierte meistens, unsere Körper passten immer, wenn sie sich umarmten, wie ein maßgeschneidertes Hemd. Wir hörten einander gerne zu, mochten uns riechen und sorgten uns ehrlich um das Wohlergehen des Anderen. Stundenlang konnte ich ihr zuschauen, mich an ihrem Anblick und dem Gedanken an sie erfreuen. Ein langweiliges Leben mit ihr kam mir schon deshalb undenkbar vor.
Von den neun Stunden Flug schliefen wir gut die Hälfte, und als wir ankamen, rasten unsere Pulse. Unser neues Leben begann Händchen haltend hinter der Zollkontrolle. Als wir unsere Koffer aus dem Flughafen geschleppt und mit einem Zug, der so ruhig fuhr wie ein Fahrrad, aber so schnell wie ein Sportwagen auf der Autobahn, die Stadt erreicht hatten, hielten wir das nächste Taxi an, das wie alle anderen ziemlich edel aussah. Der Fahrer, in Anzug und mit weißen Handschuhen, bestand darauf, unser Gepäck für uns in den Kofferraum zu heben. Die Sitze waren mit Decken verziert, die an die Rüschengardine meiner Oma erinnerten. Der Wagen fuhr uns gemächlich zu einem Maklerbüro, das Lena online gefunden hatte. Von dort sollten wir, wie man ihr versprochen hatte, noch am selben Tag in eine möblierte Wohnung ziehen können. Der Taxifahrer setzte uns an einer stark befahrenen Ecke im Stadtteil Nakano ab, ein geschäftiges Wohnviertel im Westen des Zentrums, weder arm noch reich, laut Reiseführer nicht für seine Schönheit bekannt. Unser Trinkgeld lehnte der Taxifahrer ab, Zuwendungen solcher Art akzeptiere man hier nicht, gab er uns irgendwie zu verstehen. Im Maklerbüro, das wir von der Straße aus wegen der mit Drucken von Häusergrundrissen beklebten Fensterwand erkannten, fanden wir tatsächlich gleich eine Wohnung, die möbliert war, nicht allzu teuer, nicht allzu winzig. Verglichen mit dem jedenfalls, worauf wir gefasst waren. Ein Schlafzimmer mit Schrank in der Wand, mehr oder weniger wild zusammengewürfelte Möbel, eine Wohnküche und ein Bad. Alles auf 21 Quadratmetern, für knapp eintausend Euro im Monat. Unverschämte Preise waren wir aus London gewohnt, Tokio toppte das noch. Als wir in der Wohnung standen, uns zustimmend zugenickt und den Vertrag gleich unterschrieben hatten, übergab uns der Makler bei seinem eineinhalb Schritte kurzen Weg zur Wohnungstür den Schlüssel, und wir fielen uns in die Arme.
Der Tokioter Herbst neigte sich dem Ende zu, in den Parks, wo sich die Baumkronen seit Wochen gelb und rot färbten, verschwanden allmählich die Blätter. Lena und ich mussten unseren Alltag richtiggehend suchen in dem, was für uns nicht alltäglich war, einer fremden Stadt, einem fremden Land, mit fremder Sprache und fremder Kultur. Ihr Praktikum bei einer Nichtregierungsorganisation für erneuerbare Energien gefiel ihr mäßig, mein Studium langweilte mich ein wenig und die Verkäufe journalistischer Geschichten liefen auch nicht wie erhofft. Das war aber kein Untergang. Ein Praktikum macht man übergangsweise, mein Studium neigte sich ohnehin dem Ende zu, und die Arbeit würde schon werden. Ich kannte mich hier ja selbst noch nicht aus. Immerhin hatten Lena und ich nicht auch noch Streit. Sie machte Essen, ich wusch ab, sie machte die Wäsche, ich legte alles geordnet in unseren gemeinsamen Schrank. Es war eng, dafür kuschliger.
»Wir funktionieren doch ganz gut, oder?«, sagte Lena eines Morgens, als sie sich anzog und ich Kaffee kochte. Das fand ich auch. Und wir fanden Freunde. Die Nachbarn aus der Wohnung unter uns, ein dänisch-japanisches Paar, führten uns in ein Izakaya aus, eine Mischung aus Kneipe und Restaurant, wo sich die Leute abends nach der Arbeit zum Essen und Trinken treffen. Rauch legte sich über die Tische, die keinen halben Meter über den Boden reichten und vor denen man auf dünnen Kissen im Schneidersitz Platz nahm. Wir erzählten voneinander, was uns hergebracht hatte. Annette, die Dänin, war Yogalehrerin. Ihre Freundin Miyuki, die Lena gleich ganz offen um ihr schwarz schimmerndes kräftiges Haar beneidete, das sie zur Bürste geschnitten trug, lebte schon immer in der Stadt und war wie ich Journalistin. Im Izakaya verbreitete sich Feierabendfreude, die Tische vollgestellt mit Reis, rohem Fisch, frittiertem Gemüse, Bier und heißem Reisschnaps.
»Auf Tokio!«, rief Miyuki.
»Auf uns in Tokio!«, rief Annette.
Lena wollte wissen, wie es sich hier lebe, als lesbisches Paar.
»Die Wahrheit ist, dass es ein bisschen heimlich ist«, gestand Miyuki. Ihre Freunde wüssten Bescheid, Miyukis Eltern nicht. »Die fragen aber auch nicht«, fügte sie hinzu, ehe wir hätten nachfragen können.
»Also kein Versteckspiel«, versuchte ich richtig zu verstehen.
»Nein, eigentlich nicht. Das Liebesleben ist Privatsache. Danach fragt man eigentlich nicht einfach so. Auch die Eltern nicht.« Offiziell lebte Miyuki in einer WG. Annettes Eltern hingegen wussten Bescheid darüber, dass ihre Tochter in der Ferne mit einer anderen Frau lebte und diese auch liebte. »Manchmal frage ich mich, was besser ist«, meinte Annette. »Wenn man sich hier nicht outet, bringt das auch Freiheiten. Du kannst dir quasi eine zweite Identität zulegen. Zuhause bin ich immer gleich die Lesbe.«
Im riesigen Tokio, das hatte ich mir angelesen, bringen die Gay Pride-Demonstrationen jedes Jahr nur einen Bruchteil der Menschenmengen auf die Straße, die sich in viel kleineren Städten wie Berlin oder London mobilisieren lassen.
Dafür war in Japan so gut wie nichts von gewalttätigen Übergriffen gegen queere Personen zu lesen. »Was ist einem lieber?«, stellte Annette in den Raum. So wenig optimal die Situation auch hier war, Annette und Miyuki konnten sich darin einrichten.
»Tokio ist biegsam«, sagte Miyuki. »Du musst nur deinen Platz finden und die Richtung, in die du dich ausdehnen willst.«
Bald meinte ich zu verstehen, was Miyuki meinte. Diese Wahnsinnsstadt entschädigte für alles, was noch nicht nach Plan laufen wollte. Das Schrille, wegen dem man Japans Hauptstadt aus dem europäischen Fernsehen zu kennen meint, war schnell zu finden: die bunten Leuchtreklamen, quietschige Popmusik und Sonderangebote, verbreitet durch Mikrofone auf Einkaufsstraßen, alte Frauen mit lilagefärbtem Haar, Cafés für Katzen, Hunde mit Sonnenbrillen. Im krassen Gegensatz dazu gab es auch totale Zurückhaltung. In unserer Nachbarschaft herrschte abends ab zehn Friedhofsstille, auf der Straße kein Müll, keine Kriminalität, nicht mal hupende Autos und auch kaum Stau. Das alles in einer Metropolregion mit 37 Millionen Menschen. Eine Stadt, die täglich bebt vor Energie, ihren Puls aber so geschmeidig kontrolliert wie kein anderer Ort, der mir bekannt war. All die typischen Probleme von Ballungszentren lösten sich hier, bevor sie entstanden, durch moderne Technologie, eine rücksichtsvolle Bevölkerung und kluge Stadtplanung. Verschlafen oder berechenbar war Tokio trotzdem nicht. An dieser Stadt könnte ich mir ein Beispiel nehmen, dachte ich nicht nur einmal.
Immerhin in Unberechenbarkeit machte ich mich immer besser. Nach den täglichen Uni-Aufgaben zu Asiens Finanzmärkten, Japans Handelspolitik, oder dem Einfluss von Deflation auf das Wirtschaftswachstum, wandte ich mich journalistischen Themen zu. Vieles vom Studium konnte ich gleich verwerten. Zum Beispiel eine Story darüber, wie wenig volkswirtschaftlichen Sinn es ergibt, dass Japan sich so vehement gegen Immigration stemmt, wo das Land angesichts der alternden Bevölkerung doch dringend junge Arbeitskräfte braucht. Oder wie geschickt Roboter allmählich ins Alltagsleben integriert werden, vom Gesundheitswesen bis zu Einkaufszentren. Bald verkaufte ich meine Arbeiten besser, auch die ersten Sätze auf Japanisch konnte ich einigermaßen verständlich aussprechen. Lena und ich verließen morgens zusammen das Haus, abends aßen wir gemeinsam, wenn es unsere Arbeitszeiten zuließen. Über Wochen begann kein Tag, ohne dass ich mich freute, wieder etwas Neues zu lernen, einem Job nachzugehen, den ich für sinnvoll hielt, und mit der richtigen Frau zu leben.
Nur allmählich merkte ich, je tiefer ich mich in die Arbeit stürzte, umso weniger harmonierten Lena und ich.
»Babe?«, rief Lena eines Tages aus der Dusche. Ihre Stimme hatte diesen hohen und weiter anhebenden Ton, bei dem ich zu wissen meinte, was folgen würde. Sie bat um einen Gefallen, aber eigentlich forderte sie ihn, in Frageform verpackt. »Heute Abend organisiere ich bei der Arbeit einen Basar. Ich würd mich echt freuen, wenn du vorbeikommen würdest. Auch nur kurz …«
Babe hatte sie mich schon länger nicht mehr genannt. Dass ich aber gerade an diesen Tagen nicht früher als sonst Feierabend machen konnte, sondern erst deutlich später, wusste Lena. In Tokio hielten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank ihre Jahrestagung ab. Für Reporter sind solche Riesenkonferenzen nicht nur wichtig, weil dort viel Aktuelles von Weltrang besprochen wird. Im Herbst 2012 war die Lage brisant. Inmitten der europäischen Staatsschuldenkrise trafen die Finanzminister und Zentralbanker diverser Länder aufeinander, gleichzeitig flammte zwischen China und Japan gerade ein bedrohlicher Territorialkonflikt mit verkappten Kriegsdrohungen auf. Solche Tagungen bieten sich für Hintergrundgespräche mit allen möglichen Gruppierungen und Personen an. Deshalb sind für Journalisten Konferenztage lange Tage. Seit kurz vor sieben Uhr morgens saß ich am Laptop, am schmalen Schreibtisch im Schlafzimmer, um mich vorzubereiten. Und ausgerechnet jetzt, wo ich Lena für ihren Basar absagen musste, war ich wieder ihr Babe. War das ein Versuch der Wiederbelebung unserer zuletzt kränkelnden Harmonie, die wir beide reanimieren wollten? Aber warum genau in einem Moment wie diesem, wo ich doch keine Zeit hatte? Um nachher Schuldzuweisungen zu machen? Ich wunderte mich selbst über meine innerlich gereizte Reaktion. Für den Gedanken schämte ich mich, fühlte mich wie ein Zyniker. Wenn man in den Avancen des Anderen zuerst dessen mögliche Hintergedanken erkennt, bleibt keiner Beziehung mehr eine lange Zukunft. Jetzt war ich es wohl, der Sorgen heraufbeschwor. »Heute muss ich bis spät im Zentrum bleiben. Das weißt du doch, oder?«, sagte ich, um eine Stimmlage bemüht, die genauso freundlich klingen sollte wie ihre.
Leider kam das bei Lena anders an. »Ich weiß nicht mal, ob du überhaupt kommen möchtest«, antwortete sie aus dem Bad schreitend, ohne Blickkontakt, schloss ihr großes Handtuch über der Brust und rauschte an mir vorbei zum Schrank mit der Schiebetür, der in die Wand gebaut war.
»Natürlich würd ich gerne«, beteuerte ich.
Lenas Organisation, die über die Vorteile erneuerbarer Energien aufklären wollte, bewegte sich auf hartem Boden in einem Land, dessen Regierung auch nach der Katastrophe von Fukushima an der Atomenergie festhalten wollte. Lenas Job war es, in Tokio Veranstaltungen zu koordinieren, durch die sich hoffentlich ein paar neue Spender fänden.
»Nächstes Mal bin ich da, okay?«, schlug ich vor, und schaute dabei zu, wie sie nach dem Duschen ihre nassen Haare nach vorne über den Kopf fallen ließ, um sie zu föhnen. Erst der Lärm des laut pustenden Apparats mit Lockenaufsatz, dann der weiche Haarschaum, kurz nachföhnen, zum Schluss wuschelte sie sich ihre Mähne mit ihren Händen auf. Immer die gleiche Reihenfolge, in der sich die Frau, die ich liebte, den Schliff für den Tag verpasste, und mich ergriff dieses Ritual immer wieder.
»Der größte und wichtigste Basar ist aber heute«, raunte Lena in dem Moment, als sie den Föhn ausknipste.
Meine kurze Morgenträumerei ließ sie damit platzen.
»Wir sehen uns halt kaum noch außerhalb dieser Wohnung«, fand Lena. »Irgendwann langweiligen wir uns, haben uns nichts mehr zu sagen und dann kommt die Trennung. Sowas hört man so oft.«
Es stimmte, dass wir letztens nicht viel Zeit füreinander hatten, die Beziehung etwas an Fahrt verloren hatte. Wir beide nahmen das wahr. Dabei hatte sich doch gerade Lena immer das gewünscht: Eine geregelte Beziehung, in der man nicht mehr versucht, gemeinsam die Welt umzukrempeln, sondern einfach gemeinsam ist, zweisam. Wir lebten jetzt zusammen in dieser spartanischen Zwei-Raum-Wohnung, schliefen nachts in den Armen des Anderen ein, wachten morgens in unserer gemeinsamen Bettwäsche wieder auf. Ich war glücklich darüber, aber es gab die Momente, in denen sich selbst in mir Zweifel erhoben.
Gemeinsam nahmen wir die U-Bahn, und als Lena in Shinjuku ausstieg, um in den Zug Richtung Tokioter Bucht im Süden zu wechseln, fühlte sich ihr Kuss, mit dem sie meinen erwiderte, zwar noch herzlich an, aber runtergeregelt, wie absichtlich kühl. Ich fand das unfair von ihr, aber ich beschwerte mich nicht. Nun wollte ich mich auf die Arbeit konzentrieren.
Kurz vor der Station Otemachi, bei der ich aussteigen musste, surrte mein Handy.
Nachricht von Lena: »Tut mir leid, dass ich eben zickig war. Die Situation macht mir einfach Angst.«
Lena, dachte ich, beruhig dich doch. Aber das wollte ich nicht schreiben. Die Nachricht ließ ich erstmal unbeantwortet, bis ich einfühlsamere Worte parat hatte.
In der riesigen Konferenzhalle im Finanzzentrum, die so modern und steril aussah, dass sie überall auf der Welt hätte stehen können, traf ich an einem der Kaffeespender auf meinen älteren Kollegen José Luis aus Spanien, den ich schon einige Male auf Pressekonferenzen getroffen hatte.
»Stress?«, fragte er gleich, als er mich sah.
»Nicht wirklich. Lena macht sich nur Sorgen um unsere Zukunft«, erklärte ich.
José Luis kannte die Geschichte von Lena und mir, erinnerte ihn an seine letzte Beziehung. Er drückte mir einen Pappbecher voll dünnem Kaffee in die Hand und antwortete wenig sensibel: »Beziehungen sind nun mal vergänglich.«
»Nicht alle«, konterte ich äußerlich cool.
Er deutete auf die Menge vor dem Saal, in dem gleich die Pressekonferenz über die Prognosen zum Wachstum der Weltwirtschaft stattfinden würde. »Hier sind so viele Leute Single. Wahrscheinlich weiß Lena das und macht sich deshalb Gedanken.«
Ich nickte und setzte ein möglichst unbeeindrucktes Lächeln auf, als ob ich selbst längst Bescheid wüsste. Sollte ich ja, als Reporter. Auf den folgenden Vortrag des Ökonomen vom Internationalen Währungsfonds über Inflation, Schulden und den Keynesianischen Multiplikatoreffekt konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich brauchte Ablenkung. Über den Browser in meinem Telefon suchte ich nach dem, was José Luis angedeutet hatte. Ich gab ein: »Singles Japan.«
Als José Luis, der schon viele Jahre in Tokio lebte, mein Display und dazu meine staunenden Augen sah, zwinkerte er mir zu und schlug mir hart und gönnerhaft auf den Oberschenkel. Die obersten der aufgepoppten Einträge handelten von mietbaren Liebhabern, nachgespielten Hochzeiten, dem Alleinsein in der Megacity, künstlicher Befruchtung und Liebessimulationen als Videospiel. Prompt musste ich an den Manager-Typ neben mir im Flugzeug und seine virtuelle Geliebte denken. »Kein Wunder, dass Lena beunruhigt ist«, flüsterte ich, aber José Luis, der sich Notizen zu den Wachstumsprognosen machte, beachtete mich nicht. Die Prognosen waren nicht sonderlich spannend. So fand ich Zeit, eingehender über das nachzudenken, was ich da auf meinem Handy sah. Anscheinend waren viele Singles auf der Suche nach einer Liebe ohne echte Partnerschaft. Aber war das nicht ein Widerspruch in sich?
Ein Artikel im Wall Street Journal berichtete: »Ein steigender Anteil unter Männern und Frauen gibt an, zufrieden damit zu sein, niemals zu heiraten.« Das Time Magazine schrieb, viele Alleinstehende hielten sich für »Single, ja, aber nicht allein.«
Den Konferenztag verbrachte ich fast zu gleichen Teilen mit Gedanken an Lenas Unruhe wie mit jenen Themen, um die es hier ging. Meine Güte, dachte ich, warum wollten so viele Menschen keinen Partner? Was musste ihnen fehlen? Oder sah ich etwas falsch? Mir kam Lenas Ausspruch in den Sinn, den sie kurz vor unserer Ankunft in Tokio in die Flughafenhalle von Dubai geflüstert hatte: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.« Konnte es das geben? Eine singlegerechte Liebe? Wieso dachte ich eigentlich über solche Dinge nach? Hatte ich etwa die Sorge, dass passierte, was ich verdrängt und vor dem Lena gewarnt hatte? Dass wir uns in Tokio auseinanderleben könnten?
Als ich kurz vor Mitternacht nachhause kam, war es in unserer Wohnung schon so dunkel wie draußen. In Lenas noch weit geöffneten Augen spiegelte sich ein Laternenlicht, das zwischen den Vorhängen ins enge Schlafzimmer schien.
»Wie lief’s bei dir heute?«, fragte ich und gab ihr übers Bett gebeugt einen Kuss.
»Ganz gut. Waren einige Leute da.«
»Lädst du mich beim nächsten Mal wieder ein?«
»Wenn wir dann noch zusammen sind«, entgegnete sie, und ich wusste nicht, ob das jetzt ernstgemeint war oder ein seltener Anflug schwarzen Humors.
Es folgten inbrünstige Liebeserklärungen. Das konnten wir immer noch gut. Auch wenn süße Worte nicht die Sorgen in unseren Köpfen tilgen konnten, konnten sie doch für eine Zeit den Konflikt zwischen uns beilegen. Auch das war viel wert, wir wollten ja nicht streiten. »Schlaf gut«, sagten wir uns gegenseitig, umarmten uns, machten die Augen zu. Vorm inneren Auge sah ich wieder die Ergebnisse, die meine flüchtige Recherche zum Thema »Singles Japan« am Vormittag ausgespuckt hatte. An unsere Probleme hatte ich mich längst gewöhnt, mich mit eigentlich allem arrangiert. Auch deshalb, weil ich mir einen Ausstieg aus dieser Zweisamkeit wie den Untergang vorstellte. Hier in Japan mussten also schon viele Menschen untergegangen sein. Aber mein Sitznachbar im Flugzeug hatte so ganz und gar nicht den Eindruck erweckt, untergegangen zu sein. »This is the future of love«, hatte er gesagt. Was auch immer das bedeutete, ob die Interaktion mit dem Avatar für ihn nur ein Spiel war, oder echte Gefühle hervorrief. Mir jedenfalls kam der Gedanke, aus der Liebe ein Spiel zu machen, fremd vor. Mit den kostbarsten Ressourcen des Lebens spielt man nicht, hatte ich als Kind gelernt.
In dieser Nacht hatte ich einen Traum. In einem dunklen Raum hielt ich ein Tablet, auf dem das Gesicht einer virtuellen Frau mit fließend wechselnden Haarfarben und Frisuren erschien, das mich mit seinem neckischen Lächeln gleich in seinen Bann zog. Auch ihre Gesichtszüge veränderten sich, allerdings noch langsamer als die Haare. Mal sehr feminin, mal androgyn, mal älter, mal jünger. Einmal hatte sie Blumen im Haar. Von diesem Wechsel war ich fasziniert. Sie flirtete mit mir und ich spielte nach anfänglichem Zögern mit. Es war ja nur ein Spiel, dachte ich im Traum. Da wurde ihr Gesichtsausdruck streng. Sie hob einen Arm, voll behängt mit klimperndem Geschmeide, wie ein Kettenhemd vor sich und sagte: »Bald hast du nur noch mich.« Dieser Satz riss mich mit einem Ruck aus dem Schlaf. Offenbar war die heutige Auseinandersetzung mit Lena bei mir doch in tiefere Schichten gedrungen. Irgendetwas lief schief.
An einigen Tagen traf Lena ihre neuen Kontakte direkt nach Feierabend auf ein Getränk. So vermied sie es auch, sich in der Rushhour in die vollgepackten U-Bahnen zu drängeln, kam aber trotzdem oft als Erste von uns beiden nach Hause. Dort schaute sie vom Bett aus Filme, las Bücher oder telefonierte mit ihren Freunden daheim. Zum Japanisch-Lernen fehlte ihr der Antrieb, sagte sie und ich dachte mir nichts dabei.
Als ich an einem Abend kurz vor Mitternacht nach Hause kam, weil ich für die Nachmittagsdeadline der acht Stunden hinter Tokio liegenden Zeitungen in Europa einen Artikel über die Fußball-Klub-WM im Dezember 2012 in Japan schreiben musste, wich Lena meinem Lächeln zur Begrüßung aus. Mein Kuss interessierte sie auch nicht. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie nur, mit starrem Blick auf ihren Laptop am Tisch in der Küche, in der man automatisch stand, wenn man diese unterdimensionierte Wohnung betrat.
»Ist was?«, wollte ich wissen.
»Es ist nichts«, meinte Lena.
Kommentarlos machte ich mich bettfertig.
Durch die hauchdünne Schiebetür, die das Schlafzimmer von der Küche trennte, hörte ich sie murmeln: »Ich dachte nur, wir wären zusammen hier.«
Natürlich waren wir das, aber darum ging es ja nicht. Sie hatte recht, fand ich, und doch nicht, mir fehlten die Worte, oder zumindest die richtigen Worte. Möglichst geräuschvoll legte ich mich ins Bett und deckte mich zu, damit Lena hörte, dass ich noch nicht gleich antworten konnte. Ich wusste keine Antwort. Am liebsten hätte ich ihre Worte überhört. Der warme, aber scharfe Ton war der, den ich von ihr immer hörte, wenn sie nicht zufrieden war. Mich warf er zurück in die Sorgenzeit vor unserem Umzug, durch den wir all das doch eigentlich hinter uns lassen wollten. Ohne dass es einer von uns aussprach, hing da bei mir unter der Bettdecke plötzlich wieder diese Frage: Hat es mit uns dann noch einen Sinn? Dann. Dieses Wort wurde immer mitgesagt, kennzeichnend für die aktuellen Umstände, die zwar nie dieselben waren, aber immer wieder Grund genug zur Unruhe lieferten. Ich wollte das nicht vertiefen. Als ich mich, nochmal möglichst hörbar, liegend umdrehte, sagte ich: »Wir sind zusammen. Ich bin glücklich darüber, dass wir es sind.«
»Worüber bist du glücklich, Felix. Was willst du? Was wird aus uns?« Sie kam zu mir ans Bett. Mit ernstem Gesicht.
Sie war also wirklich nicht zufrieden. Nicht mehr? Seit wann? Ich wollte das fragen, aber lieber nicht wissen. In den knapp fünf Jahren, die wir nun ein Paar waren, schaukelten uns die Grundsatzfragen immer wieder hin und her. Einer von uns stand dann auf dem dünnen Brett, von dem er in die kalte See gestoßen werden konnte. Was aus uns werden würde, so genau hatte ich darüber nicht nachgedacht. Für mich musste ich das auch nicht. Es war simpel und absolut. »Seit wir uns kennengelernt haben, wollte ich einfach mit dir zusammen sein, Lena.«
»Und jetzt muss man nichts mehr dafür tun?«
»Was meinst du?«
»Ach, egal. Du checkst es einfach nicht.«
Tat ich tatsächlich nicht.
»Können wir nicht einfach eine normale Beziehung führen?«, fragte Lena hinterher.
»Was ist denn nicht normal an uns?«, wollte ich wissen.
»Wir sehen uns kaum, wir sprechen nicht mehr über die Zukunft, ich weiß nicht, was du willst. Wie geht es weiter mit uns?«
Ein Umzug ans andere Ende der Welt, in eine gemeinsame Wohnung, setzte eigentlich doch ein deutliches Zeichen in Richtung unserer Zweisamkeit. Aber die Konflikte blieben dieselben. Lena wollte, dass wir mehr Dinge gemeinsam machten. Ich wollte das auch, aber oft fehlte die Zeit dafür, der Druck bei der Arbeit war am Anfang noch zu hoch, zugleich war Tokio zu faszinierend, als dass ich die Zeit hier nicht voll in mich aufsaugen wollte. Lena konnte dasselbe tun, wir konnten trotz allem auch Vieles gemeinsam erforschen, aber nach und nach wurde sie von einer Schwermut ergriffen, die ich an ihr noch nicht gekannt hatte. Zum Yoga, das sie hier für sich entdeckt hatte, ging sie kaum noch. Auf ihrem Gesicht sah ich immer seltener ein Lächeln, wir umarmten uns weniger, ich hieß auch nicht mehr Babe. Ich hielt das nur für eine Phase, denn einfach war es für uns beide nicht. Wir sprachen die Sprache gar nicht oder nur schlecht, wandelten ohne richtige Orientierungspunkte durch den Alltag, suchten noch nach unseren Plätzen. Uns hätte das zusammenschweißen können und das versuchten wir auch.
Aber vielleicht kannten wir uns schon zu gut, oder zu lange, als dass wir unsere Missverständnisse in der Kommunikation noch einfach als solche benennen konnten. Ich vergriff mich in der Wortwahl, sie wurde laut. Die Harmonie, die wir beide suchten, war mit Gesprächen nicht wiederzubeleben. Diskutiert hatten wir schon alles. Den Fünfjahresplan, den ich weder aufstellen noch absegnen konnte, ihren zunehmenden Kontrolldrang, den ich immer weniger ertrug, einmal im Streit einen Polizeistaat nannte. Ich bereute das sofort, aber die Worte waren damit in der Welt, ab sofort gab es nur mehr Schaden zu begrenzen, den ich verursacht hatte. Ich vertraute Lena mehr als mir selbst, aber sie vertraute nach und nach uns beiden nicht mehr. Wie Jan und Anna, Lenas Freunde, die sich getrennt hatten, obwohl sie sich verstanden hatten, weil ihre Vorstellungen vom Leben und vom gemeinsamen Leben wohl doch zu unterschiedlich waren. Und es gab so viele andere. Überall schossen Freunde ihre Partner ab oder wurden in die Wüste geschickt, weil einer der beiden angeblich nicht ausreichend beziehungsfähig war. Alles andere, der gemeinsame Humor, die Interessen, der Sex, mochte gut funktioniert haben, aber irgendwas war immer.
Dennoch. Unsere Revolution musste weiterleben. Wir waren noch nicht fertig, und Lena war trotz allem mein moralisches Vorbild. Weniger rachsüchtig als ich, weniger eigensinnig, weniger stur. Sie verhandelte nicht auf dem Flohmarkt, fuhr nicht schwarz und log nie. Falls sie doch log, dann so gut, dass ich es für ausgeschlossen hielt, weshalb es mich dann auch nicht störte. Sie durchschaute Dinge viel schneller als ich, vor allem zwischenmenschliche Situationen. Ehe ich bemerkte, dass jemand im Gespräch die eigene Geschichte hochjazzte, um eindrucksvoller zu wirken, hielt Lena immer schon drei Beispiele dafür bereit. Zu Lena schaute ich auf, und ich wollte werden wie sie. Allein, wie sie mir damals verziehen hatte, als ich auf Weltreise gegangen war. Mit Anfang zwanzig war ich unterwegs auch auf andere Frauen getroffen, aber nach vielen Aussprachen und neuen Vertrauensbeweisen blieben wir zunächst ein Paar und fanden später wieder zueinander. Zwar holte sie das Thema immer wieder gegen mich hervor, wenn es ihr in den Kram passte. Aber mein Gott, dachte ich, das ist wohl ihr Recht. Wenn man so denkt, in den unangenehmsten Momenten, ist es dann Liebe? Die ganz große?
Tokios Herbst wurde kälter. Uns als Deutschen, die zittrige Winter gewohnt sind, hätte das die Stadt weniger fremd machen müssen. Aber die Fremden waren wir, und eher als gegenüber Tokio wurden wir es gegenüber einander. Vielleicht war Tokio auch Teil des Problems. Lena empfand die Stadt als unnahbar, über ihr Praktikum lernte sie doch deutlich weniger neue Menschen kennen als ich durch meine Arbeit und die Uni. Zeit mit meinen Bekannten zu verbringen gefiel ihr zwar, allerdings nagte es an ihrem Selbstwertgefühl, weil sie fand, dies seien ja eigentlich nicht ihre Bekanntschaften. Unsere Nachbarn waren allesamt freundlich, aber enge Freunde fanden wir auch in der Nachbarschaft nicht.
An einem Wochenende fuhren wir nach Kyoto. Von der altehrwürdigen Kaiserstadt wird behauptet, sie sei die Wiege der japanischen Kultur. Wir wollten die Tempel aus Gold und Silber besuchen, die Tradition der Geishas auf den Straßen sehen. »Jetzt fühle ich mich zum ersten Mal so, als wäre ich in Japan angekommen«, sagte Lena, sobald wir aus dem Bahnhof an die frische Luft traten. Die aufdringliche, bunte Seite von Tokio war hier nicht zu finden. Matte Farben, gerade angelegte Wege, kleine Einzelhäuser statt hoher Gebäude, in allen Richtungen Parks mit Schreinen oder Tempeln. Passanten schritten zu gemächlich voran, als dass einem bei ihrem Anblick die Bezeichnung Fußgänger einfiel. Hier erschienen die Leute noch viel mehr in Einklang mit ihrer Umwelt als in Tokio, wo das Verrückte im Menschen immer wieder nach außen drängte. Hier nicht, hier herrschte zurückhaltende Vernunft.
Lena lächelte wieder.
Ich auch. Händchenhaltend spazierten wir durch die Stadt, als Touristen konnten wir es gut aushalten gemeinsam. »Glaubst du, Anna und Jan wären gerne mal nach Kyoto gereist?«
Lena schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht reist einer von denen jetzt alleine rum.«
Wer seine Erfahrungen nicht erst teilen muss, weil er sie gemeinsam mit jemandem erlebt, sich später auch gemeinsam erinnern kann, erfährt alles doch mit einer ganz anderen Qualität, dachte ich. Anna und Jan taten uns leid. Selbst mir, der sich manchmal insgeheim wünschte, ohne Rechtfertigung oder Beobachtung auszugehen, zu reisen, Leute zu treffen, aufzustehen, sich schlafen zu legen. Weil doch Freiheit schon an sich ein kostbarer Wert ist, selbst dann, wenn er zu nichts Konkretem nützlich sein mag, nur als Möglichkeit. Jan und Anna waren nun beide frei. Andere von Lenas und meinen Bekannten gesellten sich unbekannterweise zu den beiden, indem auch diese sich von ihren Partnern trennten. Patrick und Kathy aus London, Mark und Steffi aus Wien, Tobi und Erhan aus Hamburg. Als Zweierteam würden wir sie wohl nie mehr treffen, sie sich auch nicht, jeder würde nun für sich alleine durchs Leben ziehen. Vielleicht würde einer dieser Neusingles so friedliche Städte wie Kyoto finden, wo über den Tempeln sogar die Vögel zu zwitschern aufhörten, oder durch verdreckte Gassen in London taumeln, wo die Backsteinwände nach pinkelnden Männern rochen und aus den Pubs Torjubel grölte. Vieles nimmt man alleine intensiver wahr. Aber wenn man es nicht richtig teilen kann, weil niemand dabei war, was ist das dann wert? Doch unseretwegen mussten wir uns endlich nicht weiter damit beschäftigen. Die Tage in Kyoto waren wie früher, als wir frisch zusammen waren und unsere Beziehung noch nicht mit immer neuen Liebeserklärungen rechtfertigen mussten. Die Stimmung trug uns und nicht umgekehrt.
Aber diese Tage vergingen schnell. Zurück in Tokio umarmte uns wieder die Schwermut. An einem Abend in einer Sushibar kam die Frage ein weiteres Mal auf. Lena stand kurz davor, nach Köln in die Heimat zu fliegen. »Felix, wie machen wir weiter?« Sie wollte mehr wissen. Über den nächsten Schritt, den sie in ihren Vorstellungen wahrscheinlich genau kannte und den ich nicht im Sinn hatte. »Wo willst du in einem Jahr sein?«
Ich blieb stumm, weil ich keine Antwort hatte, die ihr gefallen würde, und »keine Ahnung« lieber nicht sagen wollte.
»Kannst du mir nicht sagen, wo du in einem Jahr mit mir sein willst?«
Darauf konnte ich antworten, und ich fand meine Antwort viel bedingungsloser als alles Konkrete, was in einem Fünfjahresplan stehen könnte: »Ich will mit dir sein, Lena. Wo, das weiß ich nicht. Wie, weiß ich auch nicht. Ist das wichtig? Das Wichtigste ist für mich, dass es uns beide gibt, so wie in den letzten Jahren. Wir haben nie gewusst, wie es weitergehen wird. Irgendwie könnten wir überall auf der Welt sein. Wir sind nicht reich, aber leben ohne finanzielle Sorgen. Wir haben keinen konkreten Plan, aber viel Spaß und machen unbezahlbare Erfahrungen. Wir sind beweglich. Was ist daran schlecht? Andere beneiden uns darum.«
Lena nickte, sie war aber nicht einverstanden. Dem Stück Makrelensushi, das auf dem Zugsystem über den Tischen an ihren Augen vorbeifuhr, schmiss sie einen abschätzigen Blick zu. Ich liebte Japans Küche mit all ihren Variationen und Zubereitungsformen. Sie hasste Fisch, genau wie Fleisch. »Ich finde nur, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Das wilde Leben will ich nicht für immer. Irgendwann muss man sesshaft werden.«
Der Satz klingelte in meinen Ohren. Mindestens bei der Hälfte aller Paare, die sich auseinandergelebt hatten, hatte ich in den Gesprächen darüber so einen Begriff wie Sesshaftwerden gehört. Bestimmt wollten das in einigen Fällen beide nicht, mindestens einer aber hatte dann das Gefühl, es wollen zu sollen. Geordnete Bahnen sind wichtig, heißt es so oft, und es gilt wohl auch hier. Sonst würde Liebe zu Anarchie. Dabei ist das Wichtigste nach der Revolution doch die neue Ordnung.
Einige Tage später umarmten wir uns am Flughafen. Unsere Körper legten sich wieder perfekt ineinander, wie in einem Guss. So etwas find ich nie wieder, dachte ich. Ihre weichen, vollen Lippen berührten meine, ihr Flüstern kitzelte in meinem Ohr, meine Zweifel waren schon wieder weggeliebt. Diesmal war Lena diejenige, die ging und ich blieb zurück. Sie sollte bald wiederkommen. Nach einem halben Jahr in Japan war es nun mal an der Zeit, die Heimat zu sehen.
Die unterschiedlichen Zeitzonen trieben uns noch weiter auseinander als die Entfernung. Wenn ich ins Bett ging, war bei ihr Nachmittag. Ich stand auf, wenn sie schlafen ging. Wir schrieben einander Nachrichten, telefonierten nur alle paar Tage. Wäre da nicht das Bewusstsein gewesen, dass das alles so nicht sein sollte, weil eine normale Beziehung enger getaktet ist, hätte es mich kaum gestört. Aber auch da waren wir unterschiedlich. Eines Tages sagte sie mir, dass sie sich nach dem Praktikum keinen Job in Tokio suchen wolle. Kurz darauf schrieb Lena per Handy an einem Nachmittag, der ihr Morgen war: »Können wir später bitte reden?«
Bis spät saß ich am Laptop, klickte schließlich auf »Anruf annehmen«.
»Felix …«
Nur ihre Stimme musste ich hören, um zu wissen, dass es ernst war. Über den Bildschirm sah ich das auch in ihrem Gesicht, aber ihre Sommersprossen lenkten mich ab, ich dachte wieder an schöne Tage mit ihr, damals in Wien, oder später in Mexiko.
»Wir haben doch keine Zukunft, oder?«
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in den Magen.
»Keine gemeinsame Zukunft, meine ich. Du willst dich nicht binden.«
»Ich bin doch seit Jahren gebunden, Lena. Und mir geht’s gut damit.«
»Aber du kannst mir nicht sagen, wo du in fünf oder zehn Jahren mit mir sein willst. Mir geht’s so nicht gut.«
Ich schwieg.
»Felix, sag was.«
»Keiner weiß, wie die Zukunft genau aussieht«, brachte ich heraus. »Können wir uns nicht erstmal hier einleben? Wo wir leben wollen, können wir doch sowieso nur teilweise selbst entscheiden. Das hängt von so vielem ab. Warum lassen wir das nicht auf uns zukommen?«
»Wir sind einfach zu verschieden. Ich will das nicht mehr.«
So ging es weiter, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. In Beziehungen gibt es viele Schlüsselmomente, einige stellen sich erst im Nachhinein als solche heraus, aber andere fühlen sich an wie ein Showdown. In diesem Gespräch ging es um alles. Und es schien nicht alles verloren, denn die Gravitation zwischen uns hatte nie nachgelassen. Wir drehten uns im Kreis, hörten uns das Lebensmodell des Gegenüber an, behaupteten zu verstehen, widerlegten einander dennoch mit immer neuen Beispielen, die mit »weißt du noch, als« anfingen und mit »ja, aber« demontiert wurden. So wie sie wohl mit sich haderte, tat ich es auch, kannte ihre Antworten, wollte sie jedoch nicht hören. Ich wollte mit ihr zusammen sein, aber diese Frage nach der konkreten Schrittfolge im Leben kam mir blödsinnig vor. Gleichzeitig war ich wahrscheinlich selbst zu blöd, sie zu verstehen. Ihren Wunsch nach der Stabilität, die ihr vorschwebte, konnte ich nachvollziehen, aber nicht begreifen. Vielleicht würden wir irgendwann genau sagen können, wie lange wir hier bleiben, wie es weitergeht.
Irgendwann weinten wir, dann lachten wir, dann sprachen wir über ihre Eltern, über meine, über ihre Geschwister, über meine, über die Heimat und die Ferne und waren ganz vom Thema abgekommen.
»Du fehlst mir«, sagte ich.
»Du fehlst mir auch«, sagte sie.
»Wann kommst du wieder nachhause?«, fragte ich, als sich Lenas Stimmlage nach den nostalgischen Gesprächsinhalten ins Ernste, Desillusionierte kehrte. Jetzt schwieg sie.
Ich hörte nur ihr Ausatmen, wie sie es öfter von mir gehört haben musste, und spürte, wie quälend diese Reaktion sein kann.
Noch quälender war ihr anhaltendes Schweigen. »Mach’s gut«, flüsterte Lena schließlich durch die Telefonleitung in mein Ohr.
In Tokio, wo wir gemeinsam angekommen waren, sollte ich’s gut machen, allein? Das klang nach einem letzten schlechten Witz.