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IV

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Seit Wochen herrschte die Sonne.

Die Kinder hatten Regen noch nie erlebt.

Zogen hie und da Wölkchen herauf, konnten sie das glühende Tagesgestirn nicht verdunkeln; sie waren dünn, waren schmächtig, und sie wurden von der Sonne immer wieder zerstreut, zerstört, aufgelöst.

Die Luft kochte vor Hitze.

Selbst des Nachts trat kaum eine Abkühlung ein. In den Dickungen blieb es dumpfig schwül, und es gab fast keinen Tau mehr, die durstigen Geschöpfe des schmachtenden Waldes ein wenig zu laben. Das Wiesengras begann sich gelb zu färben. Die Farne, der Lattich, alle Kräuter am Boden des Dickichts wurden matt und dürr.

Von den Sträuchern, von den Bäumen hing das Laub schlaff, ermüdet hernieder. Ein beizender, unangenehmer Geruch schwebte manchmal über dem Ganzen, als erstickte der Wald.

Durch das Schilf des Ufers schlich der Fuchs.

Die Enten, die träg auf dem Wasser lagen, flüchteten tief ins raschelnde Röhricht.

»Dummes Volk«, knurrte der Fuchs, »ich habe keinen Hunger, nur einen entsetzlichen Durst habe ich. Quälenden Durst!«

Nahe beim Schilf hielt der Reiher auf dünnen, hohen Ständern, ohne sich zu bewegen; er schaute in die schlammigen, langsam hingleitenden Wellen.

Der Fuchs zuckte zurück, als er den Reiher sah.

»Du bist's«, sagte der Reiher, der den winzigen Kopf zur Seite drehte, »komm nur ruhig heraus.«

»Ich will nichts als ein wenig Wasser trinken«, versprach der Fuchs.

»Wenn du dich anständig benimmst«, entgegnete der Reiher geringschätzig, »darfst du meinetwegen trinken; ich werde dich sicherlich nicht forttreiben.«

Die zwei hatten schon früher ihre Waffen aneinander gemessen. Der Reiher ging damals gegen den Fuchs, der ihn erbeuten wollte, so wild-zornig los, er zielte mit dem langen, spitzen Dolch seines Schnabels so scharf nach den Augen des Feindes, daß der Fuchs entsetzt davonlief. Seither war, so oft sie sich trafen, ein gehässiger Friede zwischen ihnen. Der Reiher verachtete den Besiegten, hütete sich jedoch vor ihm, während der Fuchs einen tiefen Respekt vor dem jähzornigen, wehrhaften Reiher nicht mehr loswurde, zugleich aber ebenso stark die Wut des Gedemütigten empfand.

Jetzt trank der Fuchs gierig; der Reiher ließ keinen Blick von ihm.

»Lächerlich, daß ich mich vor ihm fürchte«, dachte der Fuchs, »ich bin doch keine Nahrung für ihn; warum habe ich Angst vor diesem widerlichen Burschen?«

Der Reiher dachte: »Er soll es nur wagen, er soll sich nur unterstehen, dann hat er keine Augen mehr, dieser rote Kerl! Ich wäre ein Bissen für ihn, das glaube ich. Aber mit mir ist nicht zu spaßen.«

Der Fuchs hatte den Durst gelöscht; mühsam barg seine Stimme die Scheu, die ihn beschlich, doch er rang um ein anständiges Abgehen und sagte: »Das Wasser ist trüb und warm. Ueberhaupt, es wird immer ärger.«

»Findest du?« warf der Reiher gleichgültig hin, indessen seine Blicke funkelten, »... ich kann nicht klagen.«

»Zum Gruß«, empfahl sich der Fuchs.

Er bekam keine Antwort.

Am Saum der kleinen Blöße hockte wieder der Hase, als Faline mit den Kindern vorbeischritt. Er jammerte: »Was werden wir anfangen? Wie soll man das aushalten?«

»Aber dafür sind wir von den Mücken verschont«, redete ihm Faline zu.

Er war jedoch nicht beruhigt. »Merkst du nicht, wie schlecht das Essen schmeckt, bitter, saftlos, halb welk?«

»Aber es gibt keine Mücken«, wiederholte Faline.

»Und wie man sich beim Wittern täuscht«, beschwerte er sich weiter, »bald spüre ich nichts – bald aufregende Gefahren. Eines so schlimm wie das andere.« Er sah elend aus, hatte die Löffel verzweifelt heruntergeklappt und hob sie nicht ein einziges Mal.

»Du bist undankbar, Freund Hase«, mahnte Faline, »es gibt keine Mücken; wir haben unsere Ruhe.«

»Auch im Winter gibt es keine«, widersprach er trübselig, »sollen mich die Mücken stechen! Ich bin daran gewöhnt. Mich peinigt die Hitze, der Durst, das falsche Wittern! Das läßt mich gar nicht zur Ruhe kommen. Ich werde ganz krank davon.«

»Du bist ungeduldig«, Faline ging weiter.

»Ich – ungeduldig?« sagte der Hase hinter ihr drein, »wer hat so viel Geduld wie ich?«

Geno meinte zur Mutter: »Du hast recht; man muß sich freuen, daß diese Lästigen einem nicht mehr um die Augen summen, und daß es einen nicht mehr juckt.«

»Auch der arme Freund Hase hat recht«, meinte Faline, »es ist wirklich nicht angenehm, wenn das Essen schlecht schmeckt, wenn man Hitze und Durst leidet.«

»Ich leide nicht unter der Hitze«, erklärte Geno, »mir tut sie wohl.«

»Ja, du«, antwortete Faline, »du bist noch ein Kind, und Kindern ist es gesund, wenn sie warm haben.«

»Warum, Mutter, gibt es keine Mücken? Ich bin ja froh, daß es keine gibt, aber warum gibt es keine?« Das war die wißbegierige Gurri.

»Weil sie so klein sind«, wollte Geno die Schwester belehren, »und da sterben sie an der Hitze.«

»O nein, mein Sohn«, setzte Faline die Sache auseinander, »die Mücken leben überhaupt nur ganz kurze Zeit. Höchstens eine Reihe von Tagen, dann sterben sie unter allen Umständen, ob es nun heiß ist oder nicht. Aber sie legen ihre Eier in den feuchten, am liebsten in den nassen Boden. Und wenn es wie jetzt überall nur trockenen Staub gibt, kann die Brut nicht ausschlüpfen. Deshalb sind keine Mücken da.«

Niedergetan, hörte Geno, während Mutter und Schwester schliefen, ein paar Fledermäuse flattern, hörte, wie die eine zur anderen sich beschwerte: »Keine einzige habe ich geschnappt.«

Die andere jammerte: »Nicht einmal hier findet man welche! Sonst fliegen sie einem geradezu in den Mund.«

»Ob uns die Vögel alle wegfangen?«

»So viel essen die Vögel unmöglich.«

»Dann verstehe ich das Ganze nicht.«

»Mir ist das Verstehen gleichgültig«, piepte die zweite, »ich habe Hunger.«

Die erste erwiderte: »Rätselhaft! Rätselhaft! Suchen wir Käfer und Schmetterlinge!«

Nun flatterten sie beinahe taumelnd fort.

Geno wollte jetzt auch schlummern.

Da vernahm er das Gespräch der Büsche und Bäume.

»Aus der Erde«, klagte der Haselstrauch, »kriege ich keine Nahrung mehr, meine Nüsse werden taub.«

»Und meine Beeren«, wimmerte die Holunderstaude, »schrumpfen; sie sind ohne Saft.«

Die Eiche seufzte: »Wie ist mir schwer zu Sinn! Die Spitzen meiner Äste dorren. Jeder Windhauch knickt sie mir vom Leib.«

»Aber es regt sich ja kein Lüftchen«, bedauerte die alte Esche daneben.

»Ich dringe mit den Wurzeln tief in die Erde«, ächzte die hohe Buche, »allein, was ich dort trinke, ist viel zu wenig.«

»Wir kommen um«, stöhnte der Ahorn, »mit uns ist es aus!«

Ein schmächtiger, niedriger Eichbaum, den die anderen beschatteten, weinte leise: »Wenn ihr Großen verzagt, bin ich noch früher hin.«

Die hohe Pappel entschied: »Niemand kommt um! Niemand darf verzagen! Es ist eine Zeit der Not, da muß man aushalten und den Mut nicht sinken lassen. Erinnert euch doch, welche Stürme, welche bitteren Entbehrungen wir durchgemacht haben, und wie wir trotzdem gewachsen, trotzdem stark geworden sind. Hört auf zu jammern! Tragt das Leid mit stummer Zuversicht, mit ruhig ergebener Geduld, dann ist es nicht halb so schwer. Und eh ihr's denkt, wird auch die Not vorüber sein.«

Alle schwiegen.

Am Boden der Lattich, die Farne, der Lauch, die anderen Kräuter flüsterten im Chor: »Ihr dort oben könnt leicht reden. Aber uns bleibt nur das Verderben. Wir sind die Armen, und wir ertragen nichts, weil wir arm sind.«


»Still, ihr da unten in der Tiefe«, befahl die Pappel, »gerade die Armen ertragen am meisten, gerade die Armen haben die zäheste Daseinskraft. Das haben wir doch alle oft genug erlebt.«

Ein schüchternes Murren antwortete: »Das sagt man uns immer. Aber von den Unzähligen unter uns, die erliegen, die im Elend sterben, ist nie die Rede!«

»Wer zugrunde geht, geht eben zugrunde!« herrschte die Pappel. »Es ist euer Schicksal, in der Tiefe zu leben. Findet euch damit ab! Nicht alle können groß, hoch und edel sein. Wir haben das nicht so gemacht; es wurde von selbst so.«

Ein höhnisches Kichern ertönte.

»Ihr dort oben«, rief der Hartriegel, »seht ihr nichts? Schaut euch um!«

Der Schlehdorn übertönte ihn: »Wir verschmachten! Du stolze Pappel, vielleicht kannst du uns statt guter Lehren ein wenig Hoffnung spenden!«

Nach einer Weile gab die Pappel Bescheid: »Die Sterne über mir funkeln, doch weiter weg verschwinden sie; wahrscheinlich werden sie von Wolken gedeckt.«

Der Holunderstrauch flüsterte: »Mag sein, daß etwas kommt.«

Alle Büsche raunten durcheinander: »Hoffnung ... mag sein ... Hoffnung!«

Und die Kräuter am Boden bebten unmerklich: »Ja ... Hoffnung ... wenn die uns Armen helfen könnte, wären wir gerettet ...!«

»Unser aller Leben ist Hoffnung!« wies die Pappel sie streng zurecht.

Geno schlief ein.

Als er ein paar Stunden später wach wurde, da war es nicht mehr Tag und noch nicht wieder Nacht. Er meinte, er habe zu lange oder zu kurz geschlafen, fühlte sich verwirrt, denn Mutter und Schwester standen schon auf ihren Läufen; doch sie traten unruhig am Ort umher. Geno wurde bange. »Was geht denn vor?«

»Blick doch hinauf«, riet Gurri. Ihre kleine Stimme hörte sich wie geklemmt an.

Geno hob die Augen. Doch er begriff noch nichts.

Tiefschwarz und drohend hingen die Wolken vom Himmel herab, bedrückend nahe.

Er ließ bestürzt das junge Haupt sinken und trat zur Mutter.

Auch Faline zeigte sich verzagt: »Es kann furchtbar werden.«

»Müssen wir sterben?« drängte Geno.

»Wohl möglich ...«, sagte Faline dumpf.

»Warum denn sterben?« widersprach Gurri, »wieso denn?«

Aber sie wurde nicht gehört. Allen stockte der Atem.

Denn in die lautlose, angespannte Stille, die geherrscht hatte, brach mit einem Mal der Sturm.

Wie ein unsichtbarer Riese fiel er über den Wald her, zornig, erbittert, wild.

Gleich einer Meeresbrandung rauschten die Wipfel, brüllten, ächzten, wimmerten, wie sie gezaust, geschüttelt, gepeitscht wurden.

Blätter wirbelten, von ihrem Wachstum losgerissen, umher, als wären sie von irgendeiner Eile oder von irgendeinem Wahnsinn getrieben. Aeste splitterten mit lautem Knallen oder mit leisen Seufzern und stürzten nieder. Dünnere Baumstämme klirrten jämmerlich aneinander.

Wütend tobte der Sturm, brauste, wie wenn er den Wald vernichten wollte.

Kein lebendes Wesen war zu sehen.

Geno glaubte, alle wären schon tot, und nun müsse er gleichfalls sterben.

Ihm selbst verwunderlich, erfüllte ihn gefaßte Bereitschaft, sich in sein Schicksal zu fügen.

Da erschien plötzlich Bambi vor den Seinen.

»Ruhig, Kinder«, sprach er, »ruhig bleiben, Faline!«

Geno und Gurri starrten ihn wortlos an.

Mitten im Rasen des Orkans stand er, das gekrönte Haupt hoch aufgerichtet, ein Herrscher, ein Beschützer, ein Tröster.

So wunderbar deutlich hatten die Kinder den Vater noch nie erschaut.

Und sein Wort durchdrang das Sausen des Sturmes, das wüste Rauschen der Wipfel und Sträucher.

»Keinen Feind habt ihr jetzt zu fürchten«, redete er weiter, »niemand wird euch etwas zuleide tun. Solange das Wetter dauert, raubt und mordet weder Fuchs noch Habicht, noch sonst jemand.«

Gurri wollte rufen: »Danke, lieber Vater!« Doch sie war unfähig, einen Laut hervorzubringen.

»Meidet die Bäume!« befahl Bambi, »meidet die Pappel vor allem! Haltet euch in den niederen Büschen!«

Er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.

Faline eilte mit den Kindern weg von den hohen, nun hin und her schwankenden Dächern der Wipfel, barg sich und ihre Jungen im Strauchwerk.

Ein greller Feuerstrahl fuhr herab, dem augenblicklich solch ein betäubender Donner folgte, daß die Kinder und sogar Faline entsetzt und geblendet die Augen schlossen. Dicht an die Mutter schmiegten sich Geno und Gurri.

Der Blitz hatte die Pappel getroffen, hatte sie gespalten, von oben bis unten.

»Ich bin hin ...«, stöhnte der ragende Baum.

Aus seinem trockenen Leib schlugen Flammen empor, züngelten an den Aesten, die immer aufwärtsgestrebt hatten und die nun, dürr, mit Knistern loderten.

Die Kinder wollten, von Panik ergriffen, fliehen.

»Ruhig bleiben, wo ihr seid!« gebot Faline.

Die Kleinen drängten sich schaudernd noch enger an die Mutter. Nie erlebtes Grauen hielt sie gebannt!

Aber jetzt stürzte, klatschte, prasselte, trommelte der Regen herab, durchdrang die mächtigsten Baumwipfel, überflutete im Nu den Boden und löschte dann den Brand der Pappel.

Der Sturm schwieg. Nur das gewaltige Regenrauschen war vernehmlich. Es wurde empfindlich kühl.

Doch Blitz zuckte auf Blitz; Donner nach Donner rollte grimmig über den Wald.

Still empfingen alle die Flut, die der Himmel niederschüttete; ergeben und furchtsam hörten die Bäume den majestätischen Zorn, der sich unter Blitz und Donner kundgab.

Denn sie hielten das für Zorn.

Geno und Gurri waren ganz naß. Beide froren ein wenig; auch Faline triefte vor Nässe, doch sie fror nicht.

Im Buschwerk standen die drei, ohne sich zu bewegen.

Nach einer Weile wurde es heller, bald darauf ganz hell.

Faline sagte: »Nun wird kein Feuer mehr herunterfahren und kein Brüllen mehr sein.«

Die Kinder antworteten nicht; sie vernahmen die Ankündigung beruhigt, doch sie zitterten vor Nässe.

Alle Bäume tranken durstig. Mit ihren Blättern, mit den Zweigen saugten sie das Wasser ein, das sie nährte; ihre Stämme schöpften Belebung aus den Wurzeln.

Es tranken die Sträucher und Büsche. Die Kräuter auf dem Boden tranken, der Rittersporn, die entblätterten Blumen, Waldmeister, Spitzwegerich und die andern, die sich arm genannt hatten, die Farne, die Lattiche rollten sich auf.

Ein erfrischtes »Ah!« schwang durch den Wald, als befreites Atmen. Auch die Kinder fühlten Befreiung.

»Endlich!« raunten die Bäume.

»Labsal!« flüsterten die Büsche.

Von unten her stimmten die vorhin noch Verzagten dankbar den leisen Chor an: »Gerettet!«

Wunderbarer Duft erhob sich überall; Duft nach Laub und Holz, nach erquickten winzigen Blüten; süßbitterer Geruch nach Erde, mächtig und voll keimenden Lebens.

Einzig die Pappel ragte schwarz, entstellt und gestorben trübselig zum Himmel, der sich wieder erheiterte.

Man vermied es, sie anzusehen.

»Es wäre gut«, lispelte die Birke, »es wäre gut, wenn Er sie wegschaffen würde ...«

Niemand antwortete.

»Schade um sie ...«, begann die Birke wieder, »sehr schade ...«

Das war der ganze Nachruf.

Schweigen.

Jählings flammte die Sonne auf, brennend heiß wie rasches Feuer. Sie überstrahlte den Wald versöhnend, drang mit dem Funkelschimmer ihrer Lichtspeere in die Wipfel, traf die Spitzen der Büsche, erreichte als goldenes Gitter da und dort den Boden.

Sofort fing der Pirol zu jauchzen an; die Finken, die Rotkehlchen, die Zeisige schmetterten ihre Jubelstrophen.

Der Kuckuck ließ sein Rufen hören. Der Specht trommelte seinen Wirbel. Die Tauben wiederholten unausgesetzt ihr zärtliches Liebeswerben; die Meisen führten ihr Wispergespräch.

Und oben auf den höchsten Zweigen der Bäume sangen die Amseln.

Gurri tat ein paar leichtsinnige Hüpferschritte.

»Halt! Wohin?« rief Faline; sie war sehr erschrocken.

»Auf die Wiese!« sagte Gurri. »In die Sonne! Kommt doch mit, du und Geno. In der Sonne werden wir schnell trocken und werden uns wärmen.«

»Nicht weiter!« befahl die Mutter.

Gurri blieb stehen. »Warum denn? So schön ist es draußen! Gerade jetzt so schön wie nie! Und mich friert!«

»Friere du nur«, sprach Faline ernst. »Gerade jetzt droht Gefahr wie nie! Gerade jetzt lauert Er da draußen! Das hat dein Vater mich gelehrt. Und dein Vater weiß ein wenig mehr als du.«

»Immer will Gurri etwas Dummes«, tadelte Geno, »sie denkt an gar nichts.«

Zweimal kreischte der Häher.

Die Elster schäkerte warnend.

Schon peitschte ein scharfer Knall von der Wiese her.

»Das war Er!« verkündete Faline. Sie hatte ihr Haupt gesenkt. »Dort draußen liegt jetzt einer von uns im Blut. Den hat Er mit seiner Feuerhand niedergeworfen.«

»Nun siehst du, Gurri«, bebte Geno, »nun siehst du, was deine Gedankenlosigkeit angerichtet hätte!«

Gurri gab keine Antwort; sie stand ohne Regung, das schöne junge Haupt in den Nacken geworfen, mit spielenden Lauschern. Sie horchte.

Das Singen, Zwitschern, Rufen und Wispern der Vögel, das eine kurze Weile erschrocken geschwiegen, begann wieder, als wäre nichts geschehen.

Von ferne, schwächer vernehmbar, tönte ein zweiter Knall.

»Noch einmal Er!« stellte Faline fest.

»Ich habe Hunger«, klagte Gurri.

Aber heute mußte sie warten.

Erst als es ganz finster, als es völlig Nacht wurde, trat Faline mit den Kindern hinaus in die Wiese.

Etliche Wochen gingen vorbei.

Die Röckchen von Geno und Gurri zeigten nicht mehr die hellgrauen Sprenkel wie in der ersten Zeit nach ihrer Geburt. Sie hatten jetzt ein gleichmäßig tiefes Rot.

Während einer Nacht – Geno stand ziemlich nahe der Dickung auf der Wiese, er blieb stets gerne dort, wo er mit einem einzigen Sprung Schutz und Sicherheit gewinnen konnte – während einer solchen Nacht also gellte unerwartet über ihm der Schrei des Waldkauzes: »I–jj! U–jj!«

Geno zuckte verstört zusammen.

Der Waldkauz schwebte herab und setzte sich auf einen niedrigen Ast. »Zum Gruß! Habe ich Sie erschreckt?«

Geno empfand Aerger und erwiderte nichts.

»Ob ich Sie erschreckt habe?« wollte der Waldkauz wissen.

»Keine Spur!« leugnete Geno. Barsch fügte er hinzu: »Unsinn! Weshalb sollte ich vor Ihrem Piepsen erschrecken?«

»Ich piepse nicht!« entrüstete sich der Waldkauz.

»Mir ist es sehr gleichgültig, was Sie tun«, meinte Geno. Ihn freute es nun, seinerseits den Waldkauz zu ärgern.

Das war ihm gelungen.

»Sie sind ein kecker Bursche!« schalt der Waldkauz, »ein kecker kleiner Bursche!«

»Sie auch!« gab Geno zurück, »und Sie sind viel kleiner als ich!«

»Ihr Vater«, fuhr der Waldkauz mit zornig gesträubten Federn fort, »Ihr Vater war viel netter. Er ist immer so hübsch erschrocken.«

Geno murrte beleidigt: »Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Nun«, lenkte der Waldkauz ein, »vielleicht ist er gar nicht wirklich erschrocken; dennoch sagte er das jedesmal, und ich hatte mein Vergnügen, aber Sie haben mir den ganzen Spaß verdorben.«

»Wenn Sie keine andern Späße wissen, tun Sie mir leid, alter Herr. Mir gegenüber unterlassen Sie künftig solche Scherze!«

Faline kam herbei. »Was gibt's denn hier?«

»Ach«, der Waldkauz wimmerte beinahe, »diese Jugend ... diese Jugend ...!«

»Diese Jugend«, unterbrach ihn Geno, »diese Jugend, von der verstehen Sie gar nichts. Dazu sind Sie viel zu alt!« Er lief davon.

»Nein!« rief ihm der Waldkauz nach, »diese Jugend, diese neue Jugend verstehe ich nicht! Die will ich nicht verstehen! Diese Jugend versteht sich selber nicht, mein Lieber!«

Er saß da, ganz in seinen Federflaum versunken und schwer gekränkt. Sein ernstes Antlitz, das zuweilen durch einen schalkhaften Ausdruck liebenswürdig schien, war jetzt melancholisch, hatte die schmerzliche Miene des Verschmähten. Der gebogene Schnabel bohrte sich dolchartig in das kurze Kinn, als würde er sich gegen die eigene Brust kehren. Nur die großen, klugen Augen glänzten dunkel vor enttäuschter Empörung.

»Ich muß Ihnen sagen«, fauchte er Faline an, »Sie brauchen auf Ihren Sohn nicht stolz zu sein!«

»Stolz bin ich überhaupt nie«, wehrte Faline ab.

»Ah! Ah!« fiel er ihr in die Rede, »alle stolzen Leute behaupten immer, nicht stolz zu sein. Das kenne ich!«

»Hat Ihnen mein Geno etwas getan, weil Sie so böse sind?«

»Böse? Ich bin nicht böse!« protestierte der Waldkauz zornig. »Der Bursche ist meinen Zorn gar nicht wert!«

Heiter gab Faline zurück: »Alle Leute, die böse geworden sind, behaupten, nicht böse zu sein.«

»Was geht mich Ihr Söhnchen an?« eiferte der Waldkauz, »nicht so viel!« Er knappte mit dem Schnabel, und das klapperte, wie wenn zwei Stückchen Holz aufeinandergeschlagen würden. »Ihr Söhnchen! Hah! Er ist mir nur ein Beispiel für die heutige Jugend! Eine saubere Jugend, fürwahr! Eine Jugend ohne Respekt, ohne Rücksicht auf andere, ohne Manieren ... unhöflich ... anmaßend ... frech!« Der Atem ging ihm aus.

»Ich glaube, Sie irren sich«, entgegnete Faline geduldig, »Sie sind ein wenig ungerecht. Die Jugend von heute ist nicht schlecht. Gewiß nicht. Wir hatten auch unsere Fehler, unsere Schwächen in unserer Jugend. Heutzutage sind sie nicht schlechter und nicht besser, als wir einst waren. Nur anders sind sie; das gebe ich zu.«

»Anders! Sehr wahr! Ganz anders!« stimmte der Waldkauz ironisch bei, »wenn ich denke, was für ein reizender junger Prinz Ihr Gatte gewesen ist.«

»Ja, Bambi!« flüsterte Faline.

»Wie höflich er immer war«, fuhr der Waldkauz fort, »wie freundlich; wie angenehm im Umgang, wie verständig! Er hatte freilich auch eine bessere Erziehung genossen als dieser dreiste Bursche, der Geno ...«

»Soll das ein Vorwurf sein?« fragte Faline.

»Nein ... n... nein!« stotterte der Waldkauz.

»Erziehung«, sprach Faline ruhig, »halten Sie so viel von Erziehung? Man warnt die Kinder vor Gefahren, die sie nicht kennen, weil sie noch nichts erlebt haben. Man behütet sie, man sorgt sich um sie. Mehr hat man früher auch nicht leisten können; mehr zu leisten ist heute ebenso unmöglich. Drüber weg wird doch ein jeder das, was er im Kern seines Wesens eigentlich von Anfang ist. Höchstens kann das Beispiel etwas Einfluß wirken, aber selten. Oft zeigt sich das Gegenteil.«

»Ja, das Gegenteil! Da haben Sie recht! Nehmen Sie Ihren Sohn. Wenn ich Bambi fragte, ob ich ihn erschreckt habe, antwortete er jedesmal sehr höflich: ›Ja‹, und ich hatte meinen Spaß; es war unterhaltend.« Der Waldkauz verdrehte sentimental die Augen; gleich darauf rollte er sie grimmig. »Ihr Sohn hat auf meine Frage frech ›Nein‹ gesagt und mich noch dazu unverschämt ausgespottet.«

»Oh, dann ist er sicher sehr erschrocken«, begütigte Faline.

»Warum leugnet er also?«

»Er hat sich eben geschämt.«

Der Waldkauz war mit diesem Erfolg zufriedener, als er sich anmerken ließ. »Ich habe ihn an seinen Vater erinnert, wie artig der erschrocken ist. Aber da wurde ich beschimpft.«

»Geno hat seinen Vater verteidigen wollen«, erwiderte Faline sanft.

»Na, lassen wir das. Es war peinlich«, grollte der Waldkauz, »... diese Jugend ...«

»Jugend ist immer ein großer Vorzug«, erklärte Faline.

»Ein großer Vorzug«, höhnte der Waldkauz, »ein Vorzug, der mit jedem Tag kleiner wird. Alle müssen einmal alt werden oder vorher sterben.«

Er sah einen dicken Nachtfalter, breitete die Schwingen, haschte ihn und entschwebte.

Als sie beim ersten blassen Dämmerschein des Morgens ihrem Schlafplatz zueilten, trat ihnen Bambi entgegen.

Gurri sprang munter an ihm empor. »Vater! Vater!«

Schweigend legte ihm Geno die junge Stirne an die Flanke.

Und Faline sagte demütig: »Zum Gruß.«

»Hört mich an, Kinder«, redete Bambi beinahe feierlich, »sehr bald werde ich eure Mutter zu mir holen. Sie muß lange bei mir bleiben. Versteht ihr mich?«

»Wir kommen mit der Mutter zu dir«, Gurri war vorlaut.

»Das verbiete ich«, gelassen wies Bambi sie zurecht.

»Warum denn?« etwas verschüchtert erlaubte sich Gurri dennoch diesen Einspruch.

»Keine Fragen stellen«, gebot der Vater ruhig, »ich kann euch nicht brauchen.«

»Auch die Mutter kann uns nicht brauchen?« Von Neugier gestoßen, wagte Gurri noch einmal, sich zu melden.

Mild kam die Antwort: »Auch die Mutter nicht, mein Kind.«

Die Geschwister schauten die Mutter an, aber da Falinens Blick liebevoll in Bambis Augen versunken war, wurden die Kinder von einer seltsam fremden Empfindung und von Bangigkeit ergriffen.

Bambi redete weiter: »Ihr zwei werdet allein sein.«

Gurri zitterte. »Ganz allein?«

»Allein miteinander«, sagte der Vater, »ihr seid besser dran als andere Kinder, die keinen Bruder oder keine Schwester haben. Haltet euch zusammen.«

Geno ließ sich stockend vernehmen: »Werden wir lange ... allein ...?«

»Das weiß ich nicht genau, mein Sohn.«

Faline schwieg dauernd weiter und sah Bambi zärtlich ins Antlitz. Den Kindern schien sie wie verwandelt.

»Merkt gut auf«, sprach der Vater, »wenn ihr allein seid, ohne Obhut der Mutter, müßt ihr doppelt wachsam sein und zehnfach vorsichtig. Ihr müßt euch wie Erwachsene betragen und doch nie vergessen, daß ihr als Kinder noch keine Erfahrung habt. Lauscht so emsig ihr könnt. Geht immer so, daß euch die Luft entgegenzieht; da könnt ihr jede Gefahr wittern. Ihr dürft die Warnungszeichen eurer Wächter nicht überhören. Wer sind eure Wächter?«

Geno zählte sie her: »Die Elster ... der Häher ...«

»Die Krähen«, setzte Gurri fort, »das Eichhörnchen, die Amsel ...«

Bambi nickte: »Manchmal auch die Amsel. Es ist gut. Denkt daran, gleich beim ersten Zeichen hinein in die Büsche, dort wo sie am dichtesten sind! Wirst du nicht verspielt und sorglos sein, Gurri?«

»Ich will schon aufpassen, Vater«, sagte Geno fest.

Ehrlich beteuerte Gurri: »Ich werde sehr brav sein ...«

»Kennt ihr den Geruch, den Er ausströmt?« erkundigte sich Bambi.

Die Kinder schüttelten stumm verneinend das Haupt.

»Wenn euch eine Witterung um die Nase haucht, furchtbarer als die von Fuchs und Iltis, drohender als die vom Hund ...«

»Die vom Hund kennen wir auch noch nicht«, unterbrach Gurri.

»Ihr seid eben unerfahrene Kinder«, erwiderte Bambi, »aber sowie nur der leiseste Hauch, den Er verbreitet, euch trifft, überfällt euch eine Erregung, die ihr jetzt kaum ahnt, eine Erregung wie ein Sturm, die das Innerste durchwühlt. Man muß alle Kraft aufbieten, um besonnen zu bleiben. Da heißt es fort! Fort! Fort! So schnell und so weit wie möglich!«

»Fort ... Fort ... Fort!« stammelte Geno erschrocken.

»Und noch etwas«, sprach Bambi weiter, »noch etwas sehr Wichtiges. Andere Kinder, die allein sind, haben die schlechte Gewohnheit, ihre Mutter zu rufen. Aus Angst, aus Sehnsucht, aus Langeweile; was weiß man denn, warum solch dumme Kinder ihre Mutter stören, ihre Eltern in arge Verwirrung bringen? Ihr werdet eure Mutter niemals rufen. Schärft euch das ein! Nie dürft ihr sie rufen! Unter gar keinen Umständen! Sie kommt sicher wieder zurück, sobald ich es ihr erlaube; sie findet euch, wo ihr auch seid. Aber ruft nicht nach ihr. Und somit lebt wohl.«

Er kehrte sich weg, schritt majestätisch davon, lautlos, hocherhobenen Hauptes, darauf die prachtvolle Krone ragte. Er glitt in die dichteste Dickung wie ein Schatten, ohne daß ein Zweig raschelte, ohne daß ein Blatt sich regte.

Die Kinder glaubten, sie hätten den Vater nie zuvor so nahe gesehen, hätten seine gütige Herrscherstimme nie so lange hören können. Sie starrten ihm nach, verzaubert und erschüttert.

»Ich weiß gar nicht, was er gesagt hat«, Gurri war verwirrt; doch sie wußte alles.

Geno erklärte: »Jedes Wort habe ich im Gedächtnis.«

Faline blieb schweigend stehen, wo sie stand; ihre Blicke hafteten an der Stelle, an der Bambi entschwunden war.

Von nun an wurde Faline durch die Kinder bewacht. Sie drängten sich enger ihr zur Seite, ließen sie keinen Moment aus den Augen. Mitten im Schlaf schreckten sie auf, um sich zu versichern, ob die Mutter noch bei ihnen weile.

Aber Faline war in ihren Gedanken schon fern. Sie hörte die Fragen der Kinder oft gar nicht, gab oft verkehrte Antwort. Keine Ermahnungen, keine Ratschläge teilte sie aus. Wie von Träumen umfangen schlich sie umher.

Und eines Morgens, die Sonne glühte heiß hernieder, wurden die Kinder durch ein Zischen des Laubes geweckt.

Das war Faline, die durchs Gebüsch raste.

»Mutter! Mutter!« bat Gurri.

»Nicht rufen!« erinnerte sie Geno, »du darfst sie doch nicht rufen!«

»Jetzt sind wir allein ...« seufzte Gurri.

»Wir müssen es aushalten ...«, bestimmte Geno charaktervoll. Aber auch er seufzte.

»Schlafen wir«, rief er.

Die Kinder taten sich nieder, und während die Vögel sangen, gelang es ihnen zu schlummern.

* * *

Bambis Kinder

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