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VII.

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Dieser »morgige Tag«, das heißt eben jener Sonntag, an welchem sich Stepan Trofimowitschs Schicksal unwiderruflich entscheiden sollte, war einer der merkwürdigsten Tage der Geschichte, die ich hier erzähle. Es war ein Tag der Überraschungen, ein Tag, an welchem frühere Knoten ihre Lösung fanden und neue sich schürzten, ein Tag greller Aufklärungen und noch ärgerer Verwirrungen. Am Mittag sollte ich, wie dem Leser bereits bekannt ist, meinen Freund zu Warwara Petrowna begleiten, und um drei Uhr nachmittags sollte ich bereits bei Lisaweta Nikolajewna sein, um ihr, ich wußte selbst nicht was, zu erzählen und ihr, ich wußte selbst nicht wobei, behilflich zu sein. Aber alles gestaltete sich in einer Weise, die niemand hatte voraussehen können. Kurz, es war ein Tag, an dem eine Anzahl von Zufällen wunderbar zusammentrafen.

Es begann damit, daß wir, Stepan Trofimowitsch und ich, als wir bei Warwara Petrowna ihrer Bestimmung gemäß pünktlich um zwölf Uhr erschienen, sie nicht zu Hause trafen; sie war noch nicht von der Messe zurückgekehrt. Mein armer Freund befand sich in einer solchen Stimmung oder, richtiger gesagt, in einer solchen Zerrüttung, daß dieser Umstand ihn sogleich niederschmetterte; halb ohnmächtig sank er im Salon auf einen Lehnstuhl. Ich bot ihm ein Glas Wasser an; aber obwohl er ganz blaß im Gesicht aussah und ihm sogar die Hände zitterten, wies er dies doch würdevoll zurück. Ich bemerke beiläufig, daß sich sein Kostüm bei dieser Gelegenheit durch ungewöhnliche Eleganz auszeichnete: er trug fast ballmäßige gestickte Batistwäsche, ein weißes Halstuch und neue strohgelbe Handschuhe; in der Hand hielt er einen neuen Hut, und er hatte sich sogar ein ganz klein wenig parfümiert. Kaum hatten wir uns hingesetzt, als Schatow, von dem Kammerdiener geführt, hereintrat; offenbar war auch er offiziell eingeladen worden. Stepan Trofimowitsch schickte sich schon an, aufzustehen, um ihm die Hand zu reichen; aber Schatow drehte, nachdem er uns beide aufmerksam angesehen hatte, sich kurz um, ohne uns auch nur zuzunicken, ging in eine Ecke und setzte sich dort hin. Stepan Trofimowitsch blickte mich wieder erschrocken an.

So saßen wir noch mehrere Minuten in völligem Stillschweigen da. Stepan Trofimowitsch fing an, mir etwas sehr schnell zuzuflüstern; aber ich konnte ihn nicht verstehen, und er selbst sprach vor Aufregung nicht zu Ende, sondern brach ab. Der Kammerdiener kam noch einmal herein, um etwas auf dem Tische in Ordnung zu bringen, wahrscheinlicher aber, um uns anzusehen. Plötzlich wandte sich Schatow an ihn mit der lauten Frage:

»Alexei Jegorowitsch, wissen Sie nicht, ob Darja Pawlowna mit ihr mitgefahren ist?«

»Warwara Petrowna sind allein nach dem Dom gefahren, und Darja Pawlowna sind oben in ihrem Zimmer geblieben; Fräulein sind nicht ganz wohl,« meldete Alexei Jegorowitsch feierlich und zeremoniös.

Mein armer Freund warf mir wieder einen flüchtigen, unruhigen Blick zu, so daß ich mich endlich von ihm abwandte. Plötzlich fuhr an der Haustür eine Equipage vor, und eine entfernte Bewegung im Hause benachrichtigte uns, daß die Hausfrau zurückgekehrt sei. Wir sprangen sämtlich von unseren Plätzen auf; aber es begab sich wieder etwas Unerwartetes: es wurde das Geräusch vieler Schritte hörbar, woraus sich entnehmen ließ, daß die Hausfrau nicht allein zurückgekehrt war, und dies war wirklich einigermaßen sonderbar, da sie uns doch selbst diese Stunde bestimmt hatte. Zuletzt hörten wir, daß jemand mit ungewöhnlicher Schnelligkeit herbeikam oder geradezu lief; so konnte doch Warwara Petrowna nicht kommen? Und auf einmal kam sie ins Zimmer hereingestürzt, ganz atemlos und in höchster Aufregung. Hinter ihr folgte in einigem Abstande und weit ruhiger Lisaweta Nikolajewna und mit Lisaweta Nikolajewna Arm in Arm – Marja Timofejewna Lebjadkina! Wenn mir das geträumt hätte, so hätte ich es nicht einmal da geglaubt.

Um dieses völlig unerwartete Ereignis zu erklären, muß ich eine Stunde zurückgreifen und ausführlich das ungewöhnliche Erlebnis erzählen, das Warwara Petrowna im Dom gehabt hatte.

Zur Messe hatte sich an diesem Sonntage fast die ganze Stadt zusammengefunden, ich meine damit die höchste Schicht unserer Gesellschaft. Man wußte, daß die Frau Gouverneur zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in der Kirche erscheinen werde. Ich bemerke, daß bei uns schon Gerüchte im Umlauf waren, sie sei eine Freidenkerin und huldige »neuen Prinzipien«. Ferner war allen Damen bekannt, daß sie prächtig und mit außerordentlichem Geschmack gekleidet sein werde; und deshalb zeichneten sich die Kostüme unserer Damen diesmal durch besondere Eleganz und Kostbarkeit aus. Nur Warwara Petrowna trug wie immer ihr bescheidenes schwarzes Kleid; so war sie unveränderlich die ganzen letzten vier Jahre gegangen. Als sie in den Dom gekommen war, nahm sie auf ihrem gewöhnlichen Sitz links in der ersten Reihe Platz, und ein Diener in Livree legte ein Samtkissen für das Niederknien vor ihr auf den Fußboden; kurz, es war alles wie gewöhnlich. Aber man konnte bemerken, daß sie diesesmal während des ganzen Gottesdienstes besonders eifrig betete; man behauptete sogar nachher, als man sich alles ins Gedächtnis zurückrief, es hätten ihr die Tränen in den Augen gestanden. Endlich war die Messe zu Ende, und unser Bischof, Vater Pawel, kam heraus, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten waren bei uns sehr beliebt und wurden sehr geschätzt; man hatte ihm sogar schon oft zugeredet, sie drucken zu lassen; er hatte sich aber dazu noch nicht entschließen können. Diesmal fiel die Predigt besonders lang aus.

Und siehe da, als die Predigt schon begonnen hatte, fuhr beim Dome eine Dame in einer leichten Droschke alter Bauart vor, das heißt in einer jener Droschken, in denen Damen nur seitwärts sitzen können, sich an dem Leibgurt des Kutschers festhalten müssen und von den Stößen des Wagens wie ein Halm auf dem Felde im Winde hin und her schwanken. Solche Droschken fahren in unserer Stadt immer noch. Die Droschke hielt an der Ecke des Domes (denn am Portale standen eine Menge Equipagen und sogar Gendarmen); die Dame stieg aus und reichte dem Kutscher vier Kopeken.

»Das ist wohl zu wenig, Kutscher?« rief sie, als sie sah, was er für eine Grimasse schnitt. »Aber es ist alles, was ich habe,« fügte sie in kläglichem Tone hinzu.

»Na, in Gottes Namen; ich habe vorher keinen Preis festgemacht!« sagte der Kutscher mit einer Handbewegung des Verzichtes und sah sie an, wie wenn er dachte: »Es wäre ja auch Sünde, zu dir ein böses Wort zu sagen.«

Dann steckte er sein ledernes Geldbeutelchen vorn in die Brust, trieb sein Pferd an und fuhr davon, von den Spöttereien der dabeistehenden Droschkenkutscher begleitet. Ausdrücke des Spottes und der Verwunderung begleiteten auch die Dame die ganze Zeit über, während sie sich zwischen den Equipagen und den auf das baldige Herauskommen ihrer Herrschaften wartenden Dienern hindurch nach dem Domportale hinarbeitete. Und es lag auch wirklich etwas Ungewöhnliches und für alle Überraschendes in dem Umstande, daß eine Dame dieser Art auf einmal von irgendwoher auf der Straße unter dem Volke erschien. Sie war von einer krankhaften Magerkeit und hinkte; das Gesicht war stark weiß und rot geschminkt, der lange Hals ganz bloß; sie trug kein Tuch und keinen Mantel, sondern nur ein altes, dunkles Kleid trotz des kalten und windigen, wenn auch hellen Septembertages; der Kopf war völlig unbedeckt; in die Haare, die im Nacken in einen winzigen Kauz zusammengefaßt waren, war auf der rechten Seite nur eine künstliche Rose hineingesteckt, von der Art, wie man sie zum Schmucke der Osterengel benutzt. Einen solchen Osterengel mit einem Kranze aus Papierrosen hatte ich Tags zuvor, als ich bei Marja Timofejewna saß, in der Ecke unter den Heiligenbildern bemerkt. Die Verwunderung wurde aufs höchste gesteigert dadurch, daß die Dame zwar mit bescheiden niedergeschlagenen Augen, aber doch gleichzeitig mit einem heiteren, schlauen Lächeln einherging. Hätte sie noch einen Augenblick gezaudert, so würde man sie vielleicht gar nicht in den Dom hineingelassen haben. Aber es gelang ihr hineinzuschlüpfen, und als sie das Gotteshaus betreten hatte, drängte sie sich unauffällig nach vorn.

Obgleich es mitten in der Predigt war und die ganze dicht gedrängte Menge, die das Gotteshaus anfüllte, ihr mit voller, lautloser Aufmerksamkeit lauschte, so schielten doch einige Augen neugierig und erstaunt nach der Eingetretenen hin. Sie warf sich auf den Fliesensteinen der Kirche nieder, beugte ihr blasses Gesicht zu ihnen hinab, lag lange so da und schien zu weinen; aber als sie den Kopf wieder in die Höhe gehoben und sich von den Knien aufgerichtet hatte, war sie sehr bald wieder gefaßt und munter. Heiter und mit sichtlichem, großem Vergnügen ließ sie ihre Augen über die Anwesenden und über die Wände des Doms hingleiten; mit besonderer Neugier betrachtete sie einige Damen und hob sich zu diesem Zwecke sogar auf die Fußspitzen; ja, sie lachte sogar ein paarmal mit seltsamem Kichern. Aber nun war die Predigt zu Ende, und es wurde das Kreuz herausgetragen. Die Frau Gouverneur war die erste, die auf das Kreuz zuging; aber als sie noch nicht zwei Schritte gemacht hatte, blieb sie stehen, in der offenkundigen Absicht, Warwara Petrowna den Vortritt zu lassen, die ihrerseits geradeswegs darauf losging, als ob sie niemanden vor sich bemerkte. In der ungewöhnlichen Höflichkeit der Frau Gouverneur lag zweifellos eine deutliche und in ihrer Art kluge Stichelei; so faßten es alle auf; so faßte es jedenfalls auch Warwara Petrowna auf; aber sie tat wie vorher, als ob sie niemanden bemerke, küßte mit einer Miene unerschütterlicher Würde das Kreuz und begab sich sogleich zum Ausgange. Ihr Livreediener bahnte ihr den Weg, obgleich auch ohne dies alle auseinandertraten. Aber unmittelbar am Ausgange, in der Vorhalle, versperrte ein dicht zusammengeballter Menschenhaufe ihr für einen Augenblick den Weg. Warwara Petrowna blieb stehen, und auf einmal drängte ein seltsames, auffallendes Wesen, eine Frauensperson mit einer Papierrose im Haar, sich durch die Menschen hindurch und fiel vor ihr auf die Knie. Warwara Petrowna, die sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ, namentlich nicht in der Öffentlichkeit, blickte sie würdevoll und streng an.

Ich beeile mich hier möglichst kurz zu bemerken, daß Warwara Petrowna zwar in den letzten Jahren außerordentlich ökonomisch, wie man sich ausdrückte, und sogar geizig geworden war, manchmal aber, und besonders zu wohltätigen Zwecken, mit dem Gelde nicht knauserte. Sie war Mitglied eines Wohltätigkeitsvereins in der Hauptstadt. In dem vorigen Hungerjahre hatte sie nach Petersburg an das Hauptkomitee zur Annahme von Unterstützungen für die Notleidenden fünfhundert Rubel geschickt, worüber bei uns viel gesprochen worden war. Ferner hatte sie in der allerletzten Zeit vor der Ernennung des neuen Gouverneurs die Gründung eines lokalen Damenkomitees zur Unterstützung der ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im übrigen Gouvernement bereits so gut wie zustande gebracht. Man tadelte bei uns heftig ihren Ehrgeiz; aber das bekannte Ungestüm ihres Charakters, verbunden mit ihrer Ausdauer, hatte beinahe schon alle Hindernisse überwunden; der Verein hatte sich fast schon konstituiert, und der ursprüngliche Gedanke entwickelte sich in der entzückten Phantasie der Gründerin zu größeren Dimensionen: sie träumte schon von der Gründung eines ebensolchen Komitees in Moskau und von der allmählichen Ausbreitung der Wirksamkeit desselben über alle Gouvernements. Aber siehe da, durch den plötzlichen Personalwechsel in der Verwaltung des Gouvernements geriet alles ins Stocken; die neue Frau Gouverneur hatte, wie man sagte, in der Gesellschaft bereits einige spitze und, was die Hauptsache war, zutreffende sachliche Einwendungen in betreff der Undurchführbarkeit der Grundideen eines solchen Komitees zum Ausdruck gebracht, was, selbstverständlich mit Ausschmückungen, Warwara Petrowna bereits hinterbracht worden war. Nur Gott kennt die Tiefen des Menschenherzens; aber ich glaube, daß Warwara Petrowna jetzt sogar mit einem gewissen Vergnügen am Portal des Domes stehen blieb, da sie wußte, daß im nächsten Augenblicke die Frau Gouverneur und nach dieser alle andern Damen an ihr vorbeikommen mußten. Sie sagte sich: »Mag sie mit eigenen Augen sehen, wie gleichgültig es mir ist, was sie über mich denkt, und was sie über die Eitelkeit meiner Wohltätigkeitsbestrebungen witzelt. Nun könnt ihr alle zusehen!«

»Was wollen Sie, liebes Kind? Um was bitten Sie?« fragte Warwara Petrowna, indem sie die vor ihr Kniende aufmerksam betrachtete.

Diese sah mit einem überaus zaghaften, schüchternen, aber beinah andächtigen Blicke zu ihr auf und lachte auf einmal in derselben sonderbaren kichernden Manier wie vorher.

»Was hat sie? Wer ist sie?«

Warwara Petrowna ließ ihren befehlshaberischen, fragenden Blick bei den Umstehenden herumgehen. Alle schwiegen.

»Sind Sie unglücklich? Bedürfen Sie einer Unterstützung?«

»Ja ... ich bin gekommen ...« stammelte die »Unglückliche« mit einer Stimme, die vor Aufregung versagte. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu küssen ...« Und wieder kicherte sie.

Mit einem ganz kindlichen Blicke, so wie Kinder blicken, wenn sie schmeichelnd um etwas bitten, streckte sie den Arm aus, um Warwara Petrownas Hand zu ergreifen, zog ihn aber, wie erschrocken, auf einmal wieder zurück.

»Nur deswegen sind Sie gekommen?« fragte Warwara Petrowna mit mitleidigem Lächeln, zog aber sofort ihr Perlmutterportemonnaie aus der Tasche, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und reichte ihn der Unbekannten hin.

Diese nahm ihn. Warwara Petrownas Interesse war stark angeregt, und sie hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.

»Nun seht mal an, zehn Rubel hat sie ihr gegeben!« sagte jemand in der Menge.

»Gestatten Sie mir, bitte, Ihre Hand!« stammelte die »Unglückliche«; sie hielt mit den Fingern der linken Hand die empfangene Banknote an einer Ecke fest, so daß sie im Winde wehte.

Warwara Petrowna runzelte ein wenig die Stirn (es mußte ihr wohl etwas mißfallen) und hielt ihr mit ernster, fast strenger Miene die Hand hin; diese küßte sie ehrfurchtsvoll. In ihrem dankbaren Blicke leuchtete sogar eine Art von Entzücken. Und gerade in diesem Augenblicke kam die Frau Gouverneur heran, und hinter ihr her strömte die ganze Schar unserer Damen und höchsten Würdenträger. Die Frau Gouverneur mußte notgedrungen einen Augenblick im Gedränge stehen bleiben; und ebenso die andern.

»Sie zittern ja; frieren Sie?« fragte Warwara Petrowna plötzlich.

Sie warf ihren Mantel ab, den der Diener im Fallen auffing, nahm ihr schwarzes, sehr kostbares Schaltuch von den Schultern und hüllte den entblößten Hals der immer noch knienden Bittstellerin eigenhändig damit ein.

»Aber stehen Sie doch auf; erheben Sie sich; ich bitte Sie darum!«

Jene stand auf.

»Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo sie wohnt?« fragte Warwara Petrowna ungeduldig und sah sich rings um.

Aber die frühere Volksmenge war nicht mehr da; es waren nur bekannte, der besseren Gesellschaft angehörige Personen zu sehen, die den Vorgang verfolgten, die einen mit großem Erstaunen, andere mit schlauer Neugier und zugleich mit einer unschuldigen Freude an einem kleinen Skandal; wieder andere fingen sogar an, sich darüber lustig zu machen.

»Ich glaube, sie ist eine Angehörige eines gewissen Lebjadkin,« meldete sich schließlich ein gutmütiger Mensch mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage, nämlich unser achtungswerter und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew mit der Brille, dem grauen Barte, der russischen Tracht und dem in der Hand gehaltenen Zylinderhute. »Sie wohnen im Filippowschen Hause in der BogojawlenskajaStraße.«

»Lebjadkin? Im Filippowschen Hause? Davon habe ich schon etwas gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch; aber wer ist dieser Lebjadkin?«

»Er nennt sich Hauptmann und ist, man muß sagen, ein unsolider Mensch. Dies aber ist jedenfalls seine Schwester. Ich denke mir, daß sie jetzt der Aufsicht entlaufen ist,« fügte Nikon Semjonowitsch leiser hinzu und blickte Warwara Petrowna bedeutsam an.

»Ich verstehe Sie, ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch. Sie sind Fräulein Lebjadkina, liebes Kind?«

»Nein, ich heiße nicht Lebjadkina.«

»Aber vielleicht ist Lebjadkin Ihr Bruder?«

»Ja, Lebjadkin ist mein Bruder.«

»Also, da werde ich es so machen: ich werde Sie jetzt mit mir in meine Wohnung mitnehmen, liebes Kind, und von da sollen Sie zu Ihrer Familie gebracht werden. Wollen Sie mit mir mitfahren?«

»Ach ja, gern!« antwortete jene und klatschte in die Hände.

»Tante, Tante! Nehmen Sie mich auch mit!« rief Lisaweta Nikolajewna.

Ich bemerke, daß Lisaweta Nikolajewna mit der Frau Gouverneur zusammen der Messe beigewohnt hatte, während Praskowja Iwanowna unterdessen auf ärztliche Vorschrift spazieren gefahren war und zu ihrer Zerstreuung Mawriki Nikolajewitsch mitgenommen hatte. Nun verließ Lisa auf einmal die Frau Gouverneur und trat eilig zu Warwara Petrowna heran.

»Liebes Kind, du weißt, daß ich mich immer über das Zusammensein mit dir freue; aber was wird deine Mutter sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll, stutzte aber plötzlich, da sie Lisas ungewöhnliche Aufregung bemerkte.

»Tante, Tante, ich muß jetzt unter allen Umständen mit Ihnen mit,« bat Lisa inständig und küßte Warwara Petrowna.

»Mais qu'avezvous donc, Lise?« fragte die Frau Gouverneur erstaunt und nachdrücklich.

»Ach, verzeihen Sie, mein Täubchen, chère cousine, ich muß zu meiner Tante!« erwiderte Lisa, indem sie sich schnell zu ihrer unangenehm überraschten chère cousine umwendete und sie zweimal küßte. »Und sagen Sie doch zu Mama, sie möchte gleich mit dem Wagen zur Tante fahren, um mich abzuholen; Mama wollte ganz bestimmt, ganz bestimmt mit herankommen; sie hat es vorhin selbst gesagt; ich habe vergessen, es Ihnen mitzuteilen,« sagte Lisa eilig. »Pardon! Seien Sie nicht böse, Julie, chère ... cousine ... Tante, ich bin bereit!«

»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, so laufe ich hinter Ihrem Wagen her und schreie Ihnen nach,« flüsterte sie schnell und in Verzweiflung dicht an Warwara Petrownas Ohr.

Es war nur gut, daß es niemand gehört hatte. Warwara Petrowna trat sogar einen Schritt zurück und sah das wahnsinnige Mädchen mit einem durchdringenden Blicke an. Dieser Blick entschied alles: sie beschloß, Lisa unter allen Umständen mitzunehmen.

»Dem muß ein Ende gemacht werden!« entfuhr es ihr leise. »Nun gut, ich werde dich mit Vergnügen mitnehmen, Lisa,« fügte sie sogleich laut hinzu, »selbstverständlich nur, wenn Julija Michailowna einwilligt, dich fortzulassen,« wandte sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Frau Gouverneur.

»Oh, gewiß; ich will Sie dieses Vergnügens nicht berauben, um so weniger, da ich selbst ...« begann Julija Michailowna auf einmal mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit zu plaudern, »da ich selbst recht wohl weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen wir auf unseren Schultern haben.« Hier lächelte Julija Michailowna bezaubernd.

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar,« versetzte Warwara Petrowna mit einer höflichen, würdevollen Verbeugung.

»Und es ist mir um so angenehmer,« fuhr Julija Michailowna in ihrem Geplauder fort, die nun schon ganz entzückt war und vor angenehmer Erregung errötete, »da, abgesehen von dem Vergnügen, mit Ihnen zusammen zu sein, Lisa sich jetzt auch durch ein so schönes, durch ein, man kann sagen, so edles Gefühl hinreißen läßt ... durch das Mitleid ...« (hier warf sie einen Blick auf die »Unglückliche«) »... und ... und gerade in der Vorhalle des Gotteshauses ...«

»Eine solche Anschauung macht Ihnen Ehre,« versetzte Warwara Petrowna in würdigem, beifälligem Tone.

Julija Michailowna streckte ihr eifrig die Hand hin, und Warwara Petrowna berührte dieselbe sehr bereitwillig mit ihren Fingern. Der allgemeine Eindruck war ein sehr guter; die Gesichter mehrerer Anwesenden strahlten vor Vergnügen, und es erschien auf ihnen ein süßes, schmeichlerisches Lächeln.

Kurz, es wurde der ganzen Stadt auf einmal klar, daß nicht etwa Julija Michailowna durch Unterlassung einer Visite bisher eine Geringschätzung gegen Warwara Petrowna an den Tag gelegt, sondern umgekehrt diese letztere »die Frau Gouverneur in einem gewissen Abstande von sich gehalten habe, während dieselbe doch vielleicht sogar zu Fuß zu ihr gelaufen wäre, um ihr einen Besuch zu machen, wenn sie nur überzeugt gewesen wäre, daß Warwara Petrowna ihr nicht die Tür weisen werde«. Warwara Petrownas Ansehen hatte sich außerordentlich gehoben.

»Steigen Sie ein, liebes Kind!« sagte Warwara Petrowna zu Mademoiselle Lebjadkina und wies auf den Wagen, der vorgefahren war.

Die »Unglückliche« lief fröhlich zu dem Wagenschlage hin, wo ihr der Lakai beim Einsteigen behilflich war.

»Wie? Sie hinken?« rief Warwara Petrowna ganz erschrocken und wurde blaß. Alle bemerkten dies damals, ohne es zu verstehen ...

Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Haus lag nicht weit vom Dom. Lisa erzählte mir später, Fräulein Lebjadkina habe während der drei Minuten dauernden Fahrt fortwährend hysterisch gelacht und Warwara Petrowna habe »wie in einem magnetischen Schlafe« dagesessen; das war Lisas eigener Ausdruck.

Die Dämonen

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