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IV. Die ersten Eindrücke
ОглавлениеDer erste Monat und überhaupt der Anfang meines Zuchthauslebens stehen mir lebhaft in Erinnerung. Die folgenden Tage meines Zuchthauslebens schweben in meiner Erinnerung nicht so deutlich. Manche Tage sind gleichsam gänzlich verwischt und zusammengeflossen und haben nur einen einzigen Eindruck hinterlassen: einen schweren, eintönigen, erstickenden.
Aber alles, was ich in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens durchgemacht habe, erscheint mir jetzt so, als wäre es erst gestern geschehen. Und so muss es wohl auch sein.
Ich besinne mich deutlich, wie ich gleich beim ersten Schritt auf diesem Wege darüber staunte, dass ich darin gar nichts besonders Erstaunliches, Ungewöhnliches oder, genauer gesagt, Unerwartetes fand. Alles hatte mir gleichsam schon früher vorgeschwebt, als ich auf dem Wege nach Sibirien mich bemühte, das mir vorstehende Los zu erraten. Bald stieß ich aber bei jedem Schritt auf eine Menge der seltsamsten und unerwartet Sten Dinge, auf eine Menge ungeheuerlicher Tatsachen. Erst viel später, als ich eine recht lange Zeit im Zuchthaus verbracht hatte, erfasste ich vollkommen die ganze Ausschließlichkeit, die Eigenart dieser Existenz und musste über sie immer mehr und mehr staunen. Ich gestehe, dass dieses Erstaunen mich während der ganzen langen Frist meiner Strafe begleitete; ich konnte mich mit ihm niemals ganz abfinden.
Mein erster Eindruck beim Eintritt ins Zuchthaus war im allgemeinen der denkbar abstoßendste; aber trotzdem erschien mir das Leben im Zuchthause seltsamerweise viel leichter, als ich es mir unterwegs vorgestellt hatte. Die Arrestanten bewegten sich, wenn auch in Ketten, frei im ganzen Zuchthause, sie fluchten, sangen Lieder, arbeiteten für sich, rauchten Pfeifen und tranken sogar (allerdings nur wenige von ihnen) Branntwein; nachts spielten sie aber Karten. Die Arbeit selbst erschien mir beispielsweise gar nicht so schwer, wie ich es von der berühmten »sibirischen Zwangsarbeit« erwartete, und ich kam erst recht spät dahinter, dass die Schwere dieser Arbeit weniger in ihrer Schwierigkeit und ihrer ununterbrochenen Dauer bestand, als darin, dass sie erzwungen, obligatorisch, unter dem Stocke war. Der freie Bauer arbeitet vielleicht unvergleichlich mehr, er arbeitet zuweilen auch nachts, besonders im Sommer; aber er arbeitet für sich, arbeitet mit einem vernünftigen Ziel und hat es infolgedessen unvergleichlich leichter als der Zuchthäusler mit seiner erzwungenen und für ihn vollkommen zwecklosen Arbeit. Mir kam einmal dieser Gedanke: wenn man einen Menschen vollkommen erdrücken und vernichten, einer so entsetzlichen Strafe unterziehen will, dass vor ihr selbst der grausamste Mörder erbebte und sie schon im Voraus fürchtete, so braucht man nur seiner Arbeit den Charakter vollkommener Zwecklosigkeit und Sinnlosigkeit zu verleihen. Wenn die jetzige Zwangsarbeit für den Zuchthäusler auch uninteressant und langweilig ist, so ist sie doch an sich, als Arbeit vernünftig: der Arrestant stellt Ziegelsteine her, gräbt Erde um, baut und mauert; in dieser Arbeit liegen ein Sinn und ein Zweck. Aber wenn man ihn z.B. zwingen wollte, Wasser aus einem Kübel in einen anderen zu gießen und dann wieder in den ersten zurückzugießen, oder Sand zu stoßen, oder einen Haufen Erde von einem Ort an den anderen zu schleppen und dann wieder zurückzuschleppen, so würde sich der Arrestant, glaube ich, schon nach einigen Tagen erhängen oder tausend Verbrechen begehen, um sich wenigstens durch den Tod von dieser Erniedrigung, Schmach und Qual zu befreien. Eine solche Strafe würde natürlich zu einer Tortur, zu einem Racheakt werden und wäre sinnlos, weil dadurch kein vernünftiges Ziel erreicht wäre. Da aber eine solche Tortur, Sinnlosigkeit, Erniedrigung und Schmach zum Teil unbedingt auch in jeder erzwungenen Arbeit liegt, so ist die Zwangsarbeit unvergleichlich qualvoller als jede freie Arbeit, eben deshalb, weil sie eine erzwungene ist.
Ich trat übrigens ins Zuchthaus im Winter, im Dezember, ein und hatte zunächst keine Ahnung von der fünfmal schwereren Sommerarbeit. Im Winter gab es in unserer Festung überhaupt wenig ärarische Arbeit. Die Arrestanten gingen zum Irtyschufer, um alte, dem Staate gehörende Barken abzubrechen, arbeiteten in den Werkstätten, schaufelten vor den Amtsgebäuden den Schnee, den die Stürme anwehten, brannten und stießen Alabaster usw. Ein Wintertag war kurz; die Arbeit war schnell erledigt, und alle unsere Leute kehrten früh ins Zuchthaus zurück, wo fast nichts zu tun wäre, wenn sie nicht irgendwelche eigene Arbeit hätten. Mit eigener Arbeit befasste sich aber vielleicht nur ein Drittel aller Arrestanten; die übrigen taten aber nichts, trieben sich ohne jedes Ziel in allen Kasernen des Zuchthauses herum, fluchten, intrigierten, machten Radau und betranken sich, wenn sie zufällig Geld hatten; nachts verspielten sie beim Kartenspiel das letzte Hemd; alles aus Langeweile, Müßiggang und Nichtstun. In der Folge begriff ich, dass das Zuchthausleben außer der Freiheitsberaubung und der erzwungenen Arbeit noch eine andere Qual enthielt, die vielleicht noch unerträglicher war als alle anderen. Das ist das erzwungene allgemeine Zusammenleben. Solch ein Zusammenleben gibt es natürlich auch an anderen Orten, aber ins Zuchthaus kommen doch solche Leute, dass nicht jedermann Lust hat, mit ihnen zusammenzuleben, und ich bin überzeugt, dass jeder Zuchthäusler diese Qual empfand, wenn auch natürlich in den meisten Fällen unbewusst.
Die Verpflegung erschien mir ziemlich reichlich. Die Arrestanten behaupteten, dass es in den Strafkompagnien im Europäischen Russland kein solches Essen gäbe. Darüber vermag ich nicht zu urteilen, denn ich bin dort nicht gewesen. Außerdem hatten viele die Möglichkeit, sich selbst zu verpflegen. Fleisch kostete bei uns eine halbe Kopeke das Pfund, im Sommer drei Kopeken. Eigenes Essen hatten aber nur die, die ständig über Geld verfügten; die meisten Zuchthäusler aßen Kommiss. Wenn die Arrestanten ihr Essen lobten, sprachen sie übrigens nur vom Brot allein und segneten die Einrichtung, dass das Brot allen gemeinsam und nicht jedem einzelnen nach Gewicht ausgegeben wurde. Vor dem letzteren System hatten sie ein Grauen, denn bei der Brotausgabe nach Gewicht blieb ein Drittel der Menschen hungrig, während bei der Selbstverteilung alle satt wurden. Unser Brot war besonders schmackhaft und wurde deswegen in der ganzen Stadt geschätzt. Man schrieb dies der guten Einrichtung der Backofen im Zuchthause zu. Die Kohlsuppe war aber gar nicht berühmt. Sie wurde in einem gemeinsamen Kessel gekocht und mit Graupen versetzt und war, besonders an Wochentagen, dünn und mager. Mich erschreckte an ihr die große Menge der in ihr schwimmenden Schabenkäfer. Die Arrestanten schenkten aber dem nicht die geringste Beachtung.
In den ersten drei Tagen ging ich noch nicht zur Arbeit; so verfuhr man mit jedem Neuankömmling, damit er nach der Reise ausruhe. Aber am zweiten Tage musste ich das Zuchthaus verlassen, um neue Fesseln angelegt zu bekommen. Meine Fesseln waren nicht die vorschriftsmäßigen, sondern bestanden aus Ringen; die Arrestanten nannten sie »feines Geläute«. Sie wurden außen über den Kleidern getragen. Aber die vorschriftsmäßigen, für die Arbeit geeigneten Fesseln bestanden nicht aus Ringen, sondern aus vier eisernen, fast fingerdicken Stangen, die miteinander durch drei Ringe verbunden waren. Sie wurden unter den Beinkleidern getragen. An den Mittelring wurde ein Riemen gebunden, der seinerseits an den Gürtelriemen befestigt wurde, den man direkt über dem Hemde trug.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Morgen im Zuchthause. In der Wache am Zuchthaustore schlug die Trommel Reveille, und der wachhabende Unteroffizier fing nach etwa zehn Minuten an, die Kasernen aufzuschließen. Die Arrestanten erwachten. Sie standen beim trüben Scheine eines Talglichtes, vor Kälte zitternd, von ihren Pritschen auf. Die meisten waren schweigsam und mürrisch vom Schlaf. Sie gähnten, reckten sich und runzelten ihre gebrandmarkten Stirnen. Die einen bekreuzigten sich, andere begannen Streit. Die Luft war entsetzlich stickig. Sobald die Türe aufgemacht wurde, drang frische Winterluft ein und zog mit Dampfwolken durch die Kaserne. Die Arrestanten drängten sich um die Wassereimer; sie ergriffen einer nach dem anderen die Schöpfkelle, nahmen den Mund voll Wasser und wuschen sich Gesicht und Hände aus dem Munde. Das Wasser wurde schon am vorhergehenden Abend vom »Paraschnik« vorbereitet. In jeder Kaserne gab es nach dem Statut einen von allen Insassen gewählten Arrestanten, der den Stubendienst in der Kaserne hatte. Er hieß »Paraschnik« und war von anderer Arbeit befreit. Er hatte auf die Reinlichkeit in der Kaserne zu sehen, die Pritschen und die Fußböden zu waschen und zu scheuern, den Nachtkübel zu bringen und hinauszuschaffen und zwei Eimer frisches Wasser zu besorgen: des Morgens zum Waschen und am Tage zum Trinken. Wegen der Schöpfkelle, die in nur einem Stück vorhanden war, entstand sofort Streit.
»Was drängst du dich vor, du aussätziger Kopf!« brummte ein mürrischer, hagerer, großgewachsener Arrestant mit dunklem Gesicht und seltsamen Beulen auf seinem rasierten Schädel, indem er einen andern wegstieß, der dick und klein war und ein lustiges rotes Gesicht hatte. »Halt!«
»Was schreist du! Für das >Halt< zahlt man bei uns Geld. Scher dich! Was reckst du dich wie ein Monument! Es ist nicht die geringste Fortikularität in ihm, Brüder.«
Die »Fortikularität« machte einigen Effekt: viele begannen zu lachen. Der lustige Dicke, der in der Kaserne wohl eine Art freiwilliger Hanswurst war, hatte nur das gewollt. Der lange Arrestant sah ihn mit tiefster Verachtung an.
»Rindvieh!« sagte er wie vor sich hin. »Wie er sich mit dem Zuchthausbrot gemästet hat. Ist wohl froh, dass er zu Ostern zwölf Ferkel werfen wird.«
Der Dicke wurde endlich böse.
»Was bist du denn für ein Vogel?« rief er aus, plötzlich errötend.
»Das ist es eben: ein Vogel!«
»Was für einer?«
»So einer.«
»Ja, was für einer?«
»Mit einem Worte, ein Vogel.«
»Aber was für einer?«
Die beiden durchbohrten einander mit den Blicken. Der Dicke wartete auf Antwort und ballte die Fäuste, als wollte er sofort raufen. Ich dachte, dass gleich wirklich eine Schlägerei beginnen würde. Für mich war das alles neu, und ich sah interessiert zu. Später erfuhr ich, dass ähnliche Auftritte durchaus harmlos waren und mehr als Komödie zum allgemeinen Ergötzen gespielt wurden; zu einer Schlägerei kam es fast nie. Dies alles war für die Sitten des Zuchthauses sehr bezeichnend und charakteristisch.
Der lange Arrestant stand ruhig und majestätisch da. Er fühlte, dass alle ihn ansahen und warteten, ob er sich mit seiner Antwort blamieren würde oder nicht; dass er seine Haltung wahren und beweisen müsse, dass er tatsächlich ein Vogel sei, und zwar was für einer. Er schielte seinen Gegner mit unsagbarer Verachtung an und bemühte sich, um ihn noch mehr zu verletzen, ihn über die Schulter, von oben herab, anzublicken, als betrachtete er ein winziges Käferchen. Dann sagte er langsam und deutlich:
»Ein Enterich!..«
Das heißt, dass er Enterich sei. Eine laute Lachsalve belohnte die Findigkeit des Arrestanten.
»Du bist ein Schuft und kein Enterich!« brüllte der Dicke, da er sich in allen Punkten geschlagen fühlte und die äußerste Grenze der Wut erreicht hatte.
Kaum hatte aber der Streit eine ernste Wendung angenommen, als man die beiden Kerle sofort zur Vernunft brachte.
»Was macht ihr für Skandal!« schrie ihnen die ganze Kaserne zu.
»Rauft doch lieber statt zu schreien!« rief jemand aus der Ecke.
»Ja, wart', sie werden schon raufen!« erklang es als Antwort. »Wir haben ja lauter tapfere, rauflustige Jungen hier: ihrer sieben haben keine Furcht vor einem ...«
»Alle beide sind nett! ... Der eine ist wegen eines Pfundes Brot ins Zuchthaus gekommen, der andere aber hat aus der Schüssel genascht, hat einem Weibe die ganze Sauermilch ausgesoffen und dafür die Knute gekostet.«
»Hört doch auf, genug!« schrie der Invalide, der über die Ordnung in der Kaserne zu wachen hatte und auf einem eigenen Bett in der Ecke schlief.
»Wasser her, Kinder! Newalid Petrowitsch ist erwacht! Wasser für Newalid Petrowitsch, unsern teuren Bruder!«
»Bruder ... Was bin ich dir für ein Bruder? Wir haben zusammen noch keinen Rubel vertrunken, und du nennst mich Bruder!« brummte der Invalide, den Mantel über die Arme ziehend.
Man bereitete sich zum Appell vor; der Morgen dämmerte; in der Küche gab es ein solches Gedränge, dass man nicht herein konnte. Die Arrestanten drängten sich in ihren Halbpelzen und zweifarbigen Mützen um die Brote, die von einem der Köche verteilt wurden. Die Köche wurden von der ganzen Gemeinschaft gewählt, je zwei für jede Küche. Sie hatten auch das Küchenmesser zum Schneiden von Brot und Fleisch in Verwahrung, ein einziges Messer für die ganze Küche.
In allen Ecken um die Tische herum verteilten sich die Arrestanten in Mützen, Halbpelzen und Gürteln, bereit, zur Arbeit zu gehen. Vor manchen standen hölzerne Schalen mit Kwas. Sie brockten in den Kwas Brot und tranken das Gemisch. Der Lärm und das Geschrei waren unerträglich; einige unterhielten sich aber vernünftig und leise in den Ecken.
»Willkommen, Alterchen Antonytsch, guten Appetit!« sprach ein junger Arrestant, sich neben einen mürrischen, zahnlosen Arrestanten setzend.
»Guten Morgen, wenn du es ernst meinst,« erwiderte jener, ohne die Augen zu heben, bemüht, das Brot mit seinen zahnlosen Kiefern zu zerkauen.
»Ich hatte schon geglaubt, dass du gestorben seist, Antonytsch. Wahrhaftig!«
»Nein, stirb du zuerst, ich komme nach ...«
Ich setzte mich neben sie. Rechts von mir unterhielten sich zwei solide Arrestanten, offenbar bemüht, ihre Würde vor einander zu wahren.
»Mir wird man nichts stehlen,« sagte der eine. »Ich fürchte, Bruder, ich selbst könnte einen anderen bestehlen.«
»Aber auch mich soll man nicht mit bloßer Hand anfassen: man kann sich an mir leicht verbrennen.«
»Wer wird sich an dir verbrennen? Bist der gleiche sibirische Bauer wie ich ... sie wird dich schröpfen und dir nicht mal guten Tag sagen. So ist auch mein Geld flöten gegangen. Neulich kam sie selbst. Wohin sollte ich mit ihr? Ich bat Fedjka, den Henker, um Unterkunft: der hat in der Vorstadt ein Haus gehabt, dem räudigen Juden Salomon hatte er es abgekauft, demselben, der sich später erhängt hat.«
»Ich weiß schon. Er hat bei uns vor drei Jahren einen Ausschank gehabt, Grischka die >finstere Schenke< hat er geheißen. Ich kenne ihn.«
»Nein, du kennst ihn nicht; es war eine andere finstere Schenke.«
»Wieso, eine andere! Du weißt wohl viel! Ich kann dir genug Zeugen bringen ...«
»Zeugen willst du mir bringen! Wer bist du denn?«
»Wer ich bin? Gar oft habe ich dich geprügelt, prahle aber damit nicht, und du fragst mich noch, wer ich bin!«
»Du hast mich geprügelt! Einer, der mich prügeln wird, ist noch nicht geboren, und wer mich geprügelt hat, der liegt tief in der Erde.«
»Ach, du Aussatz von Bendery!«
»Die sibirische Pest soll dich treffen!«
»Ein türkischer Säbel soll mit dir reden! ...«
Und das Fluchen ging los.
»Na, na, na! Da machen sie schon Radau!« schrie man ringsum. »Sie haben nicht verstanden, in der Freiheit zu leben, nun sind sie froh, dass sie hier das Zuchthausbrot fressen können ...«
Man bringt sie sofort zur Ruhe. Das Fluchen und »Zungendreschen« ist gestattet. Es ist ja eine Art Zerstreuung für alle. Aber Schlägereien werden nicht immer erlaubt, nur in den ausschließlichsten Fällen geraten sich die Gegner in die Haare. Eine Schlägerei wird dem Major gemeldet; es beginnt eine Untersuchung, der Major selbst kommt gefahren, mit einem Wort, allen drohen Unannehmlichkeiten; darum wird eine Schlägerei nicht zugelassen. Auch die Gegner selbst schimpfen mehr zur Unterhaltung, zur Übung im Stil. Oft betrügen sie sich selbst: sie beginnen mit furchtbarer Wut, man glaubt, dass sie sich gleich aufeinander stürzen werden; aber keine Spur: wenn sie einen gewissen Punkt erreicht haben, gehen sie auseinander. Dies alles setzte mich anfangs in Erstaunen. Ich habe soeben ansichtlich ein Beispiel der gewöhnlichsten Zuchthausunterhaltung angeführt. Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, wie man bloß zum Vergnügen fluchen und darin einen Zeitvertreib, eine angenehme Übung sehen kann. Übrigens ist auch die Ruhmsucht nicht außer acht zu lassen. Ein Künstler im Fluchen genoß immer allgemeine Achtung. Nur dass man ihm nicht applaudierte wie einem Schauspieler.
Schon am Vorabend hatte ich bemerkt, dass man mich scheel ansah.
Ich fing einige düstere Blicke auf. Andere Arrestanten suchten dagegen in meiner Nähe zu bleiben, da sie bei mir Geld vermuteten. Sie begannen sich sofort bei mir einzuschmeicheln: sie unterwiesen mich, wie man die neuen Fesseln trägt; sie verschafften mir, natürlich für Geld, einen Kasten mit einem Schloss zur Verwahrung der mir bereits gelieferten Kommißsachen und meiner Privatwäsche, die ich ins Zuchthaus mitgebracht hatte. Schon am nächsten Tage stahlen sie mir den Kasten und vertranken ihn. Einer der Diebe war mir später außerordentlich ergeben, obwohl er nicht aufhörte, mich bei jeder passenden Gelegenheit zu bestehlen. Er machte es ohne Bedenken, fast unbewusst, gleichsam aus Pflicht, und es war unmöglich, ihm zu zürnen.
Unter anderem brachten sie mir bei, dass man seinen eigenen Tee haben müsse und dass ich mir eine Teekanne anschaffen solle; vorläufig verschafften sie mir leihweise eine fremde und empfahlen mir einen Koch, von dem sie sagten, dass er mir für dreißig Kopeken im Monat beliebige Sachen kochen würde, wenn ich den Wunsch hätte, mich selbst zu beköstigen und mir eigene Lebensmittel zu kaufen ... Selbstverständlich liehen sie von mir Geld, und ein jeder von ihnen kam an diesem ersten Tage an die dreimal zu mir, um mich um Geld zu bitten.
Ehemalige Adlige werden im Zuchthause überhaupt scheel und wenig wohlwollend angesehen.
Obwohl sie aller ihrer Standesrechte beraubt und den anderen Arrestanten vollkommen gleichgestellt sind, werden sie von diesen niemals als ihre Genossen angesehen. Das entspringt nicht einmal einem bewußten Vorurteil, sondern geschieht aufrichtig und unbewusst. Sie hielten uns mit Überzeugung noch immer für Adlige, obwohl sie uns selbst gerne mit unserer Degradierung neckten.
»Nein, jetzt ist's genug, warte nur! Pjotr pflegte früher stolz durch Moskau zu fahren, und jetzt muss er Stricke drehen!« und ähnliche Liebenswürdigkeiten.
Sie sahen mit Befriedigung unseren Leiden zu, die wir vor ihnen zu verheimlichen suchten. Besonders viel hatten wir von ihnen in der ersten Zeit bei der Arbeit auszustehen, weil wir nicht so viel Kraft hatten wie sie und ihnen nur ungenügend helfen konnten. Es gibt nichts Schwereres, als das Vertrauen des Volkes (und besonders dieses Volkes) und seine Liebe zu erwerben.
Im Zuchthause befanden sich mehrere Arrestanten adliger Abstammung. Erstens an die fünf Polen. Von diesen werde ich später einmal besonders sprechen. Die Zuchthäusler konnten die Polen nicht ausstehen, sogar weniger als die Russen adliger Abstammung. Die Polen (ich spreche nur von den politischen Verbrechern) behandelten sie aber mit einer raffinierten, verletzenden Höflichkeit, waren äußerst verschlossen und konnten ihren Ekel vor den übrigen Arrestanten nicht verhehlen, diese aber sahen es wohl und zahlten es mit der gleichen Münze heim.
Ich musste fast zwei Jahre im Zuchthause verbringen, bevor ich mir die Zuneigung einiger Zuchthäusler erwarb. Aber die Mehrzahl von ihnen gewann mich schließlich lieb und erkannte mich als einen »guten Menschen«.
Von russischen Adligen waren außer mir noch vier da. Einer von ihnen war ein gemeines und niederträchtiges, furchtbar verdorbenes Geschöpf, ein Spion und Anzeiger aus Beruf. Ich hatte über ihn schon vor meiner Ankunft im Zuchthause gehört und gleich am ersten Tage jeden Verkehr mit ihm abgebrochen. Der andere war der Vatermörder, von dem ich in diesen Aufzeichnungen schon gesprochen habe. Der dritte war Akim Akimytsch; selten habe ich einen solchen Sonderling, wie er es war, gesehen. Er hat sich meinem Gedächtnisse scharf eingeprägt. Er war groß, hager, schwachsinnig, furchtbar ungebildet, ein außergewöhnlicher Räsonneur und in allen Dingen peinlich genau wie ein Deutscher. Die Zuchthhäusler lachten über ihn, aber viele von ihnen fürchteten, sich mit ihm einzulassen wegen seines streitsüchtigen, empfindlichen und unberechenbaren Charakters. Er stellte sich gleich bei seinem Eintritt ins Zuchthaus auf einen vertrauten Fuß mit den übrigen Zuchthäuslern und schimpfte und raufte sogar mit ihnen. Seine Ehrlichkeit war phänomenal. Wenn er nur irgendeine Ungerechtigkeit bemerkte, so mischte er sich sofort in die Sache ein, selbst wenn sie ihn in keiner Weise anging. Naiv war er bis zur äußersten Grenze: wenn er z. B. mit den Arrestanten zankte, warf er ihnen zuweilen vor, dass sie Diebe seien, und ermahnte sie ernsthaft, nicht mehr zu stehlen. Er hatte als Fähnrich im Kaukasus gedient. Ich schloß mich ihm gleich am ersten Tage an, und er berichtete mir sofort seine ganze Geschichte. Er hatte seine Laufbahn im Kaukasus als Junker in einem Infanterieregiment begonnen, hatte lange gedient, war endlich zum Offizier befördert und als höchster Vorgesetzter nach einer kleinen Festung versetzt worden. Einer der »pazifizierten« Fürsten in der Nachbarschaft steckte ihm die Festung in Brand und machte auf sie einen nächtlichen Überfall, der ihm jedoch mißlang. Akim Akimytsch wandte nun eine List an und tat so, als wüßte er nicht, wer der Übeltäter gewesen sei. Man schrieb den Überfall den nicht pazifizierten Eingeborenen zu, Akim Akimytsch lud aber den Fürsten nach einem Monat in aller Freundschaft zu sich zu Gast. Jener kam, ohne etwas zu ahnen. Akim Akimytsch stellte nun seine Truppen in Reih und Glied auf, bezichtigte den Fürsten öffentlich des Verbrechens und hielt ihm vor, dass es eine Schande sei, Festungen in Brand zu stecken. Er erteilte ihm eine ausführliche Lektion, wie ein pazifizierter Fürst sich in Zukunft zu verhalten habe, und ließ ihn zum Schluß füsilieren, worüber er selbst unverzüglich einen genauen Bericht an die vorgesetzte Behörde erstattete. Deswegen kam er vors Gericht und wurde zum Tode verurteilt; das Urteil wurde gemildert, und so kam er als Sträfling zweiter Kategorie nach Sibirien zur Abbüßung einer zwölfjährigen Festungsstrafe. Er war sich vollkommen bewußt, dass er ungesetzlich gehandelt hatte; er sagte mir, dass er es schon vor der Füsilierung des Fürsten gewußt habe, auch dass ein Pazifizierter nur nach dem Gesetz verurteilt werden dürfe; obwohl er aber dies wusste, konnte er seine Schuld unmöglich richtig erfassen.
»Aber erlauben Sie! Er hat mir doch meine Festung in Brand gesteckt! Soll ich mich vielleicht bei ihm deswegen noch bedanken?« sagte er mir auf meine Einwände.
Die Arrestanten machten sich zwar über die Geistesschwäche Akim Akimytschs lustig, achteten ihn aber doch wegen seiner Genauigkeit und Geschicklichkeit.
Es gab kein Handwerk, das Akim Akimytsch nicht verstanden hätte. Er war Tischler, Schuster, Schuhmacher, Maler, Vergolder und Schlosser und hatte dies alles erst im Zuchthause gelernt. Er lernte alles ohne fremde Anleitung: wenn er die Arbeit nur einmal sah, so konnte er sie sofort machen. Er stellte auch allerlei Schachteln, Körbchen, Laternen und Spielsachen her, die er in der Stadt verkaufte. So verdiente er einiges Geld, das er sofort zur Vergrößerung seiner Wäschevorräte, zur Anschaffung eines weicheren Kissens oder einer zusammenlegbaren Matratze verwandte. Er war in der gleichen Kaserne mit mir untergebracht und hatte mir in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens viele Dienste geleistet.
Wenn die Arrestanten aus dem Zuchthause zur Arbeit gingen, stellten sie sich vor dem Wachgebäude in zwei Reihen auf; vor und hinter ihnen standen die Wachsoldaten mit geladenen Gewehren. Es erschienen: der Ingenieur-Offizier, der Zugführer und mehrere Gemeine von der Ingenieurkompagnie, die die Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Der Zugführer zählte die Arrestanten und kommandierte sie partieweise zu den notwendigen Arbeiten.
Ich kam mit anderen in die Ingenieurwerkstätte. Es war ein niederes steinernes Gebäude, das sich auf einem großen, mit Material jeder Art angefülltem Hofe befand. Hier gab es eine Schmiede, eine Schlosserei, eine Tischlerei, eine Malerwerkstätte usw. Akim Akimytsch arbeitete in der Malerwerkstätte: er kochte Firnis, mischte die Farben und strich Tische und andere Möbelstücke nußholzartig an.
Während ich auf das Umschmieden der Fesseln wartete, kam ich mit Akim Akimytsch ins Gespräch über meine ersten Eindrücke im Zuchthause.
»Jawohl, sie mögen die Adligen nicht,« bemerkte er, »besonders die politischen Verbrecher, sie könnten sie einfach auffressen, und das ist kein Wunder. Erstens sind wir andere Menschen, die ihnen gar nicht gleichen; zweitens waren sie vorher alle entweder Leibeigene oder Soldaten. Urteilen Sie nun selbst, ob sie Sie lieb gewinnen können! Das Leben ist hier schwer, das muss ich Ihnen sagen. In den Strafkompagnien im Europäischen Russland ist es aber noch schwerer. Wir haben hier solche, die in den Kompagnien gewesen sind, und diese können unser Zuchthaus gar nicht genug loben, als wären sie aus der Hölle ins Paradies gekommen. Es ist nicht die Arbeit, was das Leben schwer macht. Es heißt, dass in der ersten Kategorie die Obrigkeit nicht ganz militärisch sei; jedenfalls benimmt sie sich anders als bei uns. Man sagt, dass ein Verbannter dort eine eigene Wirtschaft haben kann. Ich bin dort nicht gewesen, aber die Leute sagen es. Dort wird man weder rasiert, noch muss man eine Uniform tragen, obwohl es eigentlich gut ist, dass bei uns alle uniformiert und rasiert sind: so ist mehr Ordnung, und es ist auch angenehmer für das Auge. Aber ihnen gefällt das nicht. Schauen Sie doch selbst, was es für ein Gesindel ist! Der eine ist ein ehemaliger Kantonist, der andere ein Tscherkesse, der dritte ein Raskolnik, der vierte ein orthodoxer Bauer, der seine Familie und die lieben Kinderchen in der Heimat zurückgelassen hat; der fünfte ist ein Jud, der sechste ein Zigeuner, der siebente, – man weiß nicht was, und diese alle müssen sich hier miteinander einleben, sich einander anpassen, aus der gleichen Schüssel essen und auf der gleichen Pritsche schlafen. Man hat auch nicht die geringste Freiheit: einen übrigen Bissen kann man nur heimlich essen, jede Kopeke muss man in den Stiefeln verstecken, und man vergißt für keinen Augenblick, dass man im Zuchthause ist ... So wird man, ob man will oder nicht, verrückt.«
Aber ich wusste es schon. Ich wollte mich besonders über unseren Major erkundigen. Akim Akimytsch verheimlichte nichts, und ich erinnere mich, dass der Eindruck nicht sehr angenehm war.
Aber es war mir beschieden, noch zwei Jahre unter seinem Kommando zu leben. Alles, was Akim Akimytsch mir über ihn erzählte, erwies sich als vollkommen wahr, nur mit dem Unterschied, dass der Eindruck der Wirklichkeit immer stärker ist als der eines einfachen Berichts. Er war ein schrecklicher Mensch, eben aus dem Grunde, weil er ein fast unbeschränkter Befehlshaber über zweihundert Seelen war. An sich war er nur ein unordentlicher und böser Mensch, sonst nichts. Die Arrestanten betrachtete er als seine natürlichen Feinde, und darin lag sein erster und größter Fehler. Er hatte tatsächlich einige Fähigkeiten, aber alles, sogar das Gute war in ihm zu einer Karrikatur geworden. Unbeherrscht und wütend überfiel er das Zuchthaus manchmal sogar nachts, und wenn er merkte, dass ein Arrestant auf der linken Seite oder auf dem Rücken schlief, so bestrafte er ihn gleich am nächsten Morgen: »Schlaf auf der rechten Seite, wie ich es dir befohlen habe!« Im Zuchthause haßte und fürchtete man ihn wie die Pest. Sein Gesicht war blaurot und böse. Alle wussten, dass er sich ganz in den Händen seines Burschen Fedjka befand. Über alles liebte er aber seinen Pudel Tresorka und kam fast von Sinnen, als dieser Hund erkrankte. Man erzählte sich, er hätte über ihn wie über einen leiblichen Sohn geweint; er hätte einen Tierarzt hinausgeworfen und seiner Gewohnheit gemäß fast verprügelt, als er von Fedjka erfahren habe, dass es im Zuchthause einen Arrestanten gäbe, einen Autodidakten in der Tierarzneikunde, der die Tiere mit großem Erfolg behandle. Diesen ließ er sofort kommen:
»Hilf mir! Ich werde dich vergolden, wenn du mir den Tresorka kurierst!« rief er dem Arrestanten zu.
Jener war ein Sibirier, verschlagen, klug, ein wirklich tüchtiger Veterinär, aber ganz ein Bauer.
»Ich schau mir den Tresorka an,« erzählte er später den Arrestanten, übrigens eine lange Zeit nach seinem Besuch beim Major, als die ganze Sache schon vergessen war: »der Hund liegt auf dem Sofa, auf einem weißen Kissen; ich sehe, dass es eine Entzündung ist, dass man ihn zur Ader lassen müsste und der Hund dann gesund werden würde, bei Gott! Aber ich denke mir: wie, wenn ich ihn nicht kuriere und der Hund krepiert? Nein, sage ich ihm, Euer Hochwohlgeboren, Sie haben mich zu spät holen lassen; gestern oder vorgestern um dieselbe Stunde hätte ich ihn noch kurieren können, jetzt kann ich es aber nicht mehr ...«
So krepierte Tresorka.
Man erzählte mir mit allen Einzelheiten, wie man einmal unsern Major hat erschlagen wollen. Im Zuchthaus war ein Arrestant, der sich da schon seit einigen Jahren aufhielt und sich durch sein stilles Betragen auszeichnete. Es war aufgefallen, dass er fast nie mit jemand sprach. Man hielt ihn für etwas geistesgestört. Er verstand zu lesen und las das ganze letzte Jahr ständig in der Bibel, bei Tag und bei Nacht. Wenn alle eingeschlafen waren, stand er um Mitternacht auf, zündete ein Kirchenlicht aus Wachs an, stieg auf den Ofen, schlug das Buch auf und las bis zum Morgen. Eines Tages ging er zum Unteroffizier und erklärte ihm, dass er nicht zur Arbeit gehen wolle. Man meldete es dem Major; dieser brauste auf und kam sofort selbst ins Zuchthaus. Der Arrestant stürzte sich über ihn mit einem schon früher vorbereiteten Ziegelstein, traf ihn aber nicht. Man packte ihn, stellte ihn vors Gericht und unterzog ihn einer Körperstrafe. Dies alles spielte sich sehr schnell ab. Nach etwa drei Tagen starb er im Krankenhause. Vor dem Tode sagte er, dass er niemand etwas Böses gewünscht und nur leiden gewollt habe, übrigens gehörte er keiner Sekte an. Man gedachte seiner im Zuchthause mit Achtung.
Endlich schmiedete man mir die Fesseln um. In die Werkstatt kamen indessen mehrere Semmelverkäuferinnen. Einige von ihnen waren noch ganz kleine Mädchen. Solange sie noch klein waren, pflegten sie die Semmeln auszutragen: die Mütter buken, und sie verkauften sie. Wenn sie ins reifere Alter kamen, fuhren sie fort, ins Zuchthaus zu kommen, aber ohne die Semmeln; so war es fast immer der Brauch. Es waren auch solche dabei, die nicht mehr so klein waren. Eine Semmel kostete eine halbe Kopeke, und fast alle Arrestanten kauften sich welche.
Ich beobachtete einen schon ergrauten, aber noch rotbackigen Arrestanten, einen Tischler, der lächelnd mit den Semmelmädchen schäkerte. Vor ihrem Erscheinen hatte er sich eben ein rotes Tüchlein um den Hals gebunden. Eine dicke pockennarbige junge Frau stellt auf seine Hobelbank ihren Korb hin. Zwischen ihnen begann ein Gespräch.
»Warum sind Sie denn gestern nicht hingekommen?« begann der Arrestant mit selbstzufriedenem Lächeln.
»Na! Ich war ja gekommen, statt Ihrer war aber Mitjka da,« antwortete keck die Frau.
»Man hatte mich wo anders gebraucht, sonst wär ich unbedingt zur Stelle gewesen ... Vorgestern waren aber zu mir alle Ihrigen gekommen.«
»Wer denn?«
»Marjaschka war gekommen, Chawroschka war gekommen, Tschekunda war gekommen, das Zweigroschenmädel war gekommen ...«
»Was soll denn das heißen?« fragte ich Akim Akimytsch: »Ist es denn möglich ...«
»Es kommt vor,« antwortete er mit diskret gesenkten Augen, denn er war ein äußerst keuscher Mensch.
Es kam in der Tat vor, aber nur sehr selten und mit den größten Schwierigkeiten. Es gab im allgemeinen viel mehr Liebhaber für das Trinken als für diese Dinge, trotz des ganzen natürlichen Dranges bei diesem unfreien Leben. Es war sehr schwer mit einem Frauenzimmer zusammenzukommen. Man musste eine passende Zeit und einen passenden Ort wählen, sich verabreden, ein Stelldichein ausmachen, Einsamkeit suchen, was besonders schwer war, die Wachsoldaten für sich gewinnen, was noch schwerer war, und überhaupt eine Menge Geld ausgeben, natürlich nur verhältnismäßig viel. Es gelang mir aber später doch manchmal, Zeuge von Liebesszenen zu sein. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal im Sommer zu dritt in irgendeinem Schuppen am Ufer des Irtysch befanden und einen Brennofen anheizten; die Wachsoldaten waren gutmütig. Endlich erschienen zwei »Souffleusen«, wie sie die Arrestanten nennen.
»Nun, wo habt ihr denn so lange gesteckt? Wohl bei den Swjerkows?« fragte sie der Arrestant, zu dem sie kamen und der schon lange auf sie gewartet hatte.
»Ich habe dort lange gesteckt? Neulich hat ja eine Elster länger auf einem Pfahl gesessen als ich bei den Swjerkows,« antwortete das Mädel lustig.
Es war das allerschmutzigste Mädel in der Welt. Es war die schon erwähnte Tschekunda. Mit ihr war das Zweigroschenmädel gekommen. Diese spottete aber schon jeder Beschreibung.
»Auch Sie habe ich schon lange nicht gesehen,« fuhr der Schürzenjäger fort, sich an das Zweigroschenmädel wendend. »Mir scheint, Sie sind etwas magerer geworden?«
»Kann sein. Einst war ich viel dicker, jetzt aber bin ich so mager, als hätte ich eine Nadel verschluckt.«
»Sie laufen wohl immer mit den Soldaten herum?«
»Nein, böse Zungen haben uns wohl verleumdet; aber warum auch nicht? Es gibt doch nichts Schöneres als die Soldatenliebe!«
»Lassen Sie doch die Soldaten und lieben Sie uns: wir haben ja Geld ...«
Man stelle sich dabei den Galan mit rasiertem Schädel, in Fesseln, in gescheckter Kleidung und unter Bewachung vor.
Ich verabschiedete mich von Akim Akimytsch. Als ich hörte, dass ich ins Zuchthaus zurückkehren dürfe, nahm ich mir einen Wachsoldaten und ging mit ihm heim. Die Leute begannen eben heimzukommen. Früher als alle kommen diejenigen, die ein bestimmtes Arbeitspensum zu leisten haben. Das einzige Mittel, den Arrestanten zum Fleiß zu zwingen, ist, ihm eine bestimmte Arbeitsleistung vorzuschreiben. Diese ist oft sehr groß, wird aber doch doppelt so schnell bewältigt, als wenn der Arrestant einfach bis zur Mittagstrommel zu arbeiten hätte. Wenn der Arrestant mit seinem Pensum fertig war, ging er unbehindert heim, und niemand durfte ihn zurückhalten.
Man ißt nicht gleichzeitig zu Mittag, sondern durcheinander, ein jeder, wann er eben kommt; die Küche hätte auch nicht Platz für alle zusammen. Ich versuchte von der Kohlsuppe, konnte sie aber, da ich dieses Essen noch nicht gewohnt war, nicht hinunterbringen und kochte mir Tee. Wir setzten uns an ein Tischende. Neben mir saß ein Sträfling wie ich aus dem Adelstande.
Die Arrestanten kamen und gingen. Es war übrigens viel Platz da: es waren noch nicht alle versammelt. Eine Gruppe von fünf Mann setzte sich abseits an einen großen Tisch. Der Koch stellte ihnen zwei Schüsseln, Kohlsuppe und einen ganzen Eimer gebratene Fische hin. Sie feierten etwas und aßen auf eigene Rechnung. Uns sahen sie scheel an. Einer der Polen trat ein und setzte sich neben uns.
»Ich bin zwar nicht daheim gewesen, weiß aber alles!« rief laut ein langer Arrestant, in die Küche tretend und mit einem Blick alle musternd.
Er war an die fünfzig Jahre alt, muskulös und hager. Sein Gesicht hatte einen verschlagenen und zugleich lustigen Ausdruck. Auffallend war seine dicke, überhängende Unterlippe, die seinem Gesicht etwas äußerst Komisches verlieh.
»Nun, habt ihr gut geschlafen? Warum sagt ihr mir nicht guten Tag? Ich grüße die Kursker!« fügte er hinzu, indem er sich neben die auf eigene Kosten Essenden setzte. »Guten Appetit! Traktiert doch den Gast!«
»Wir sind ja gar nicht aus Kursk.«
»Dann aus Tambow?«
»Auch nicht aus Tambow. Du kannst von uns nichts holen, Bruder. Geh lieber zum reichen Bauern und bettle den an.«
»Ich habe heute Iwan den Hungerleider und Marja die Rülpserin im Magen. Wo wohnt denn der reiche Bauer?«
»Da sitzt Gasin, er ist der reiche Bauer, geh doch zu ihm.«
»Gasin leistet sich heute einen guten Tag: er will seinen ganzen Geldbeutel vertrinken.«
»An die zwanzig Rubel hat er sicher,« bemerkte ein anderer. »Es ist doch lohnend, Schnapsverkäufer zu sein.«
»Wollt ihr den Gast nicht bewirten? Nun, dann essen wir halt Kommiss.«
»Geh doch und bitte um Tee. Da trinken Herrschaften Tee.«
»Was für Herrschaften, hier gibt es keine Herrschaften! Sind jetzt die gleichen Menschen wie wir,« bemerkte düster ein Arrestant, der in der Ecke saß und bisher noch kein Wort gesprochen hatte.
»Ich würde schon gerne Tee trinken, schäme mich aber zu bitten, denn ich habe auch Scham im Leibe!« versetzte der Arrestant mit der dicken Lippe, uns gutmütig anblickend.
»Wenn Sie wünschen, will ich Ihnen Tee geben,« sagte ich, ihn einladend. »Ist's gefällig?«
»Ob's mir gefällig ist? Wie sollte es mir nicht gefällig sein!«
Er trat an den Tisch.
»Schau ihn nur einer an: daheim hat er Kohlsuppe mit dem Bastschuh gelöffelt, und hier hat er den Tee kennengelernt. Es gelüstet ihn nach dem herrschaftlichen Getränk,« versetzte der düstere Arrestant.
»Trinkt denn hier niemand Tee?« fragte ich ihn, aber er würdigte mich keiner Antwort.
»Da bringt man gerade Semmeln. Verehren Sie mir doch auch eine Semmel!«
Ein junger Arrestant trug einen ganzen Kranz von Semmeln, die er im Zuchthause verkaufte. Die Semmelfrau überließ ihm dafür jede zehnte Semmel; auf diese rechnete er eben.
»Semmeln, Semmeln!« rief er, in die Küche tretend: »Heiße Moskauer Semmeln! Würde sie selbst essen, aber ich brauche mein Geld. Jetzt habe ich nur noch diese letzte: wer von euch hat eine Mutter gehabt?«
Dieser Appell an die Mutterliebe brachte alle zum Lachen, und man nahm ihm einige Semmeln ab.
»Was glaubt ihr, Brüder,« sagte er, »Gasin wird heute so lange bummeln, bis er etwas Böses erlebt! Bei Gott! Was ist es auch für eine Zeit zum Bummeln: jeden Augenblick kann der Achtäugige kommen.«
»Man wird ihn schon verstecken. Ist er denn sehr betrunken?«
»Und wie! Ist schon ganz wütend und greift alle an.«
»Nun, dann wird es wohl auch zu einem Faustkampf kommen ...« »Von wem sprechen sie?« fragte ich den Polen, der neben mir saß.
»Vom Arrestanten Gasin, der hier den Schnapsverkauf hat. Sobald er etwas Geld verdient, vertrinkt er es sofort. Er ist grausam und boshaft; im nüchternen Zustande verhält er sich übrigens ruhig; aber wenn er sich betrunken hat, kommt alles zum Durchbruch; dann stürzt er sich mit einem Messer auf die Menschen. Dann bringt man ihn zur Vernunft.«
»Wie bringt man ihn denn zur Vernunft?«
»An die zehn Arrestanten fallen über ihn her und schlagen ihn so lange, bis er die Besinnung verliert, d. h. sie prügeln ihn halb tot. Dann legt man ihn auf die Pritsche und bedeckt ihn mit einem Pelz.«
»So können sie ihn doch auch totschlagen!«
»Ein anderer an seiner Stelle wäre auch schon längst tot, er aber nicht. Er hat eine ungeheure Kraft, ist stärker als alle im Zuchthause und wie aus Eisen gebaut. Am nächsten Morgen ist er immer wieder vollkommen gesund.«
»Sagen Sie bitte,« fragte ich den Polen weiter, »sie alle essen doch auf eigene Kosten, und ich trinke meinen eigenen Tee. Dabei schauen sie mich so an, als beneideten sie mich um diesen Tee. Was soll das heißen?«
»Es ist nicht wegen des Tees,« antwortete der Pole. »Sie ärgern sich über Sie, weil Sie ein Adliger sind und sich von ihnen unterscheiden. Viele von ihnen möchten wohl mit Ihnen anbinden. Sie haben große Lust, Sie zu beleidigen und zu erniedrigen. Sie werden hier noch viele Unannehmlichkeiten erleben. Wir alle haben es hier furchtbar schwer. Wir haben es in jeder Beziehung schwerer als alle anderen. Es bedarf einer großen Gleichgültigkeit, um sich daran zu gewöhnen. Sie werden hier noch viel Unannehmlichkeiten wegen des Tees und der eigenen Beköstigung erleben, obwohl hier viele sehr oft auf eigene Kosten essen und manche ständig Tee trinken. Die andern dürfen es, Sie aber nicht.«
Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Tisch. Schon nach einigen Minuten gingen seine Worte in Erfüllung.