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Kapitel Neun

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Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht recht verstanden hätten und nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr.

Die Ankunft Nastasja Filippownas, und dazu noch in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Male hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb, im stillen aber kreidete er ihr diesen Hochmut doch an. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstage, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich.

Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite.

»Endlich ist es mir gelungen hereinzukommen ... Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja, der eilig zu ihr hinstürzte, die Hand. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, machen Sie mich doch bekannt...«

Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und spielte die Heitere, Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät, so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm nachzugeben, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation ein bißchen; sie hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne weiter zuzuhören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief:

»Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und ... und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer ab?«

Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern, aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu:

»Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna.

»Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst ...«

Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende, sie blickte Ganja an, lachte und rief:

»Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? O mein Gott, was machen Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!«

Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen, aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen.

Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Platz in der Tür des Salons stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinahe erschrocken darüber, trat er plötzlich unwillkürlich vor.

»Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so...«

Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte, aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten, er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn trat beunruhigt einige Schritte vor; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren finsteren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt.

Ganja gewann jedoch schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen.

»Ja, Fürst, sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Tone. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.«

Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an.

»Ein Fürst? Er ist Fürst? Denken Sie nur, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!«

»Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig näher trat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts, se non è vero1 ...«

»Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir! ... Aber, Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier gewiß nicht treffen ... Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« fragte sie Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, den er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte.

»Unser Untermieter«, wiederholte Ganja.

Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität hinzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus der unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Erklärung für Nastasja Filippowna flüsterte.

»Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich ... irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise. Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, als wäre sie im voraus völlig überzeugt, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie darüber werde lachen müssen.

»Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen ...«, murmelte der Fürst.

»Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?«

»Nun los! Los!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Los doch! O mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun los doch!... Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!«

»Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen... und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoshin viel von Ihnen erzählt... Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.«

»Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?«

»Nach dem Bilde und ...«

»Und woher noch?«

»Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe... Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.«

»Wo denn? Wo denn?«

»Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen... aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur ein ... Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traume...«

»Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non è vero zurück. Übrigens... übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu.

Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt.

Das war mehr, als Ganja ertragen konnte.

Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Renommee zu geben. Er fühlte, daß er auf dem gewählten Wege noch ein Neuling war und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, bei sich zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich hoch und heilig geschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal kindlich davon geträumt hatte, alles in Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen im eigenen Hause erröten zu müssen! In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ist denn überhaupt der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und diese Schmerzen wert?‹

Jetzt vollzog sich das, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei dem Trauakt machen würde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen, aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie wegzuschaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche überhaupt nicht gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade in dem Augenblick, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. (Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt.) Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, die beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen wie entehrt abseits, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden ... Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!

Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.

»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß ...«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu bringen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben, aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein.

»Ich habe gehört, daß mein Sohn ...«, begann der General.

»Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemand zu kompromittieren.«

»Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter ...«, fing der General wieder an.

»Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch bitte meinen Mann für einen Augenblick fortgehen, es fragt jemand nach ihm.«

»Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich doch im Ruhestande? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird, aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.«

»Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt. Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch närrischer zu gebärden.

»Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.

»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mamachen«, fragte Warja laut.

»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«

Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben, aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.

Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.

»Führen doch Sie ihn weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganjka!« fügte er für sich hinzu.

»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach zwanzigjähriger Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Athos, Portos und Aramis2. Aber leider liegt der eine von uns im Grabe, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...«

»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.

»Sie sitzen hier in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«

»Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn! ...« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.

»Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja, aber ... es lohnt nicht die Mühe, es zu erzählen.«

»Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig.

»Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »C'est du nouveau.3«

»Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Tone.

»Papachen, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja.

»Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ...skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit – es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung – eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich steige ein, setze mich hin und rauche. Das heißt, ich fahre fort zu rauchen, angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, steigen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzen sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören, aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoße der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie meine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es trug ein silbernes Halsband, mit einer Inschrift darauf. Ich kümmere mich um nichts, merke aber, daß die Damen sich ärgern, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern, denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können, wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schweigen ... Auf einmal – und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug saust dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das muß ein tolles Frauenzimmer gewesen sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster. Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«

»Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.

»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«

»Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«

»Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«

»Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.

»Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«

»Und Sie?«

Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:

»Ich ließ mich hinreißen!«

»Haben Sie ihr weh getan? Ja?«

»Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben, aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst seine Hand im Spiel: es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja, und die im schwarzen Kleide, das war die älteste Prinzessin Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskijschen Hause steht. Alle Prinzessinnen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Prinzessinnen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf!«

»Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich, »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ – ich lese die Indépendance ständig – genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Abteil zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«

Der General wurde sehr rot, auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen, Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte unsagbare, unerträgliche Qualen durch.

»Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist ...«

»Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskijs gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.« »Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten einschließlich des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken.

»Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.«

»Ja, das ist entscheidend!«

Nastasja Filippowna brach in ein geradezu hysterisches Lachen aus.

»Papachen, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter.

Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blicke.

In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen, Kolja lief hin, um zu öffnen.

1 se non è vero: wenn es auch nicht wahr ist (ital.)

2 Athos, Portos und Aramis: die drei Musketiere in dem bekannten Roman von Dumas

3 C'est du nouveau.: Das ist eine Neuigkeit. (frz.)

Der Idiot

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