Читать книгу Die Dämonen - Fjodor Dostojewski - Страница 16
II.
ОглавлениеUnser Prinz beging auf einmal aus heiler Haut zwei, drei unglaubliche Dreistigkeiten gegen verschiedene Personen; die Hauptsache war dabei, daß diese Dreistigkeiten ganz unerhört waren, alles überstiegen, gar keine Ähnlichkeit mit solchen hatten, wie sie gang und gäbe sind, ganz gemein und bubenhaft waren und jedes Anlasses vollständig entbehrten. Einer der hochachtbaren Vorsteher unseres Klubs, Peter Pawlowitsch Gaganow, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Gewohnheit angenommen, zu jedem Satze zornig hinzuzufügen: »Nein, ich werde mich nicht an der Nase herumführen lassen!« Nun, mochte er! Aber als er wieder einmal im Klub aus Anlaß eines hitzigen Disputs dieses Sprüchlein zu einem um ihn versammelten Häuschen von Klubgästen (lauter Männern höheren Ranges) gesagt hatte, da trat Nikolai Wsewolodowitsch, der etwas abseits allein stand, und an den sich überhaupt niemand gewendet hatte, auf einmal an Peter Pawlowitsch heran, faßte ihn unerwartet, aber kräftig mit zwei Fingern bei der Nase und zog ihn zwei, drei Schritte weit im Saale hinter sich her. Irgendwelchen Groll konnte er gegen Herrn Gaganow nicht haben. Man hätte dies für einen reinen Schülerstreich, selbst verständlich allerdings für einen unverzeihlichen, halten können; aber Nikolai war, wie später erzählt wurde, im Augenblick der Tat fast nachdenklich, »wie wenn er den Verstand verloren gehabt hätte«; indes war es erst später, daß man sich daran erinnerte und sich darüber klar wurde. In der ersten Erregung erinnerten sich alle nur an den zweiten Augenblick, wo Nikolai das Getane sicherlich schon in seiner wahren Gestalt begriffen hatte, aber statt verlegen zu werden vielmehr im Gegenteil boshaft und heiter lächelte, »ohne die geringste Reue«. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; man umringte ihn. Nikolai Wsewolodowitsch drehte sich nach allen Seiten um und sah alle an, gab aber niemandem eine Antwort und betrachtete neugierig die Gesichter der ihn Anschreienden. Endlich machte er plötzlich, wie wenn er wieder nachdenklich würde (so erzählte man wenigstens), ein finsteres Gesicht, ging festen Schrittes auf den beleidigten Peter Pawlowitsch zu und murmelte hastig und anscheinend verdrossen:
»Sie entschuldigen wohl ... Ich weiß wirklich nicht, wie ich auf einmal Lust dazu bekam ... Es war eine Dummheit ...«
Die Nachlässigkeit der Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Ein noch ärgeres Geschrei erhob sich. Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus.
Dies alles war sehr dumm, um noch nicht von der Unanständigkeit zu reden, einer, wie es auf den ersten Blick schien, wohlüberlegten, beabsichtigten Unanständigkeit, die somit eine beabsichtigte, im höchsten Grade freche Beleidigung unserer ganzen Gesellschaft bildete. So wurde die Sache denn auch allgemein aufgefaßt. Das erste war, daß man unverzüglich und einmütig Herrn Stawrogin aus dem Klub ausschloß; dann beschloß man, sich im Namen des ganzen Klubs an den Gouverneur zu wenden und ihn zu bitten, er möge sofort, ohne ein formelles Gerichtsverfahren abzuwarten, »den gemeingefährlichen Händelsucher und großstädtischen Raufbold mittels der ihm anvertrauten Administrativgewalt unschädlich machen und so die Ruhe der gesamten anständigen Gesellschaft unserer Stadt gegen dreiste Angriffe schützen.« Mit boshafter Harmlosigkeit wurde noch hinzugefügt, »es werde sich vielleicht auch gegen Herrn Stawrogin ein Gesetz finden lassen.« Gerade diese Wendung hatte man für den Gouverneur ausgesucht, um ihm wegen seiner Beziehungen zu Warwara Petrowna einen Stich zu versetzen. Das besprach man mit vielem Vergnügen. Es traf sich, daß der Gouverneur damals nicht in der Stadt war; er war nicht weit davon zur Kindtaufe zu einer netten, kürzlich Witwe gewordenen Dame gefahren, die ihr Mann in interessanten Umständen zurückgelassen hatte; aber man wußte, daß er bald zurückkehren werde. In der Zwischenzeit bereitete man dem allgemein verehrten, beleidigten Peter Pawlowitsch eine vollständige Ovation: man umarmte und küßte ihn; die ganze Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner auf Subskription und nahm nur auf seine dringenden Bitten von diesem Gedanken wieder Abstand, vielleicht weil man sich schließlich sagte, der Mann habe sich ja doch an der Nase herumziehen lassen, und es sei somit kein Anlaß, ihn besonders zu feiern.
Aber wie, wie war das nur zugegangen? Wie hatte das nur geschehen können? Bemerkenswert war namentlich der Umstand, daß niemand bei uns in der ganzen Stadt dieses rohe Benehmen auf Wahnsinn zurückführte; denn man meinte, sich von Nikolai Wsewolodowitsch, auch wenn er bei Verstande sei, solcher Handlungen versehen zu müssen. Ich für meine Person weiß noch bis auf den heutigen Tag nicht, wie ich mir die Sache erklären soll, trotzdem ein bald danach stattfindender Vorfall alles zu erklären schien und alle anscheinend versöhnlich stimmte. Ich füge noch hinzu, daß vier Jahre nachher Nikolai Wsewolodowitsch auf meine vorsichtige Frage nach jener Begebenheit im Klub mir mit finsterer Miene antwortete: »Ja, ich war damals nicht ganz wohl.« Aber es liegt kein Grund vor, der Erzählung vorzugreifen.
Interessant war mir auch der Ausbruch des allgemeinen Hasses, mit dem alle bei uns damals über den »Händelsucher und großstädtischen Raufbold« herfielen. Sie wollten in seinem Verhalten unbedingt einen frechen Vorsatz und die wohlüberlegte Absicht, die ganze Gesellschaft mit einem Mal zu beleidigen, sehen. In der Tat hatte er während seines bisherigen Aufenthaltes sich niemanden zum Freunde gemacht, sondern im Gegenteil alle gegen sich aufgebracht; wodurch eigentlich? Vor diesem letzten Falle hatte er nie mit jemand Streit gehabt und niemanden beleidigt, sondern war so höflich gewesen wie ein Herr auf einem Modebilde, wenn man sich so ausdrücken darf. Ich nehme an, daß man ihn wegen seines Stolzes haßte. Sogar unsere Damen, die ihn anfangs vergöttert hatten, erhoben gegen ihn jetzt ein noch schlimmeres Verdammungsgeschrei als die Männer.
Warwara Petrowna bekam einen furchtbaren Schreck. Sie gestand später ihrem Freunde Stepan Trofimowitsch, daß sie das alles längst geahnt habe, dieses ganze Halbjahr über, jeden Tag, und sogar etwas »gerade in dieser Art«, ein merkwürdiges Bekenntnis von seiten einer leiblichen Mutter. »Nun hat es angefangen!« dachte sie zusammenfahrend. Am Morgen nach dem verhängnisvollen Abend im Klub schickte sie sich vorsichtig, aber entschlossen zu einer Aussprache mit ihrem Sohne an; aber trotz ihrer Entschlossenheit zitterte die Ärmste an allen Gliedern. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und war sogar am frühen Morgen zu Stepan Trofimowitsch gegangen, um ihn um Rat zu fragen, und hatte bei ihm geweint, was ihr noch nie in Gegenwart anderer begegnet war. Sie wünschte, Nikolai möchte ihr wenigstens ein Wort über die Sache sagen, sie einer erklärenden Mitteilung würdigen. Nikolai, der sich sonst immer gegen seine Mutter so höflich und respektvoll benahm, hörte sie eine Weile mit finsterem Gesichte, aber sehr ernst an; auf einmal stand er, ohne ein Wort zu erwidern, auf, küßte ihr die Hand und ging hinaus. Gleich an demselben Tage aber, als wenn es Absicht gewesen wäre, erfolgte abends noch eine andere Skandalgeschichte, die zwar erheblich zahmer und gewöhnlicher war als die erste, aber nichtsdestoweniger infolge der allgemeinen Stimmung das Gerede in der Stadt sehr vermehrte.
Diesmal war unser Freund Liputin der davon Betroffene. Er kam zu Nikolai Wsewolodowitsch, gleich nachdem dieser die Begegnung mit seiner Mutter gehabt hatte, und bat ihn inständigst, ihm an diesem selben Tage die Ehre seines Besuches zu einer kleinen Abendgesellschaft zu erweisen, die bei ihm anläßlich des Geburtstages seiner Frau stattfinde. Warwara Petrowna hatte schon lange mit Unruhe und Besorgnis die niedrige Geschmacksrichtung beobachtet, die ihr Sohn bei der Wahl seiner Bekanntschaften bekundete, wagte aber nicht, ihm etwas darüber zu sagen. Er hatte außer der in Rede stehenden Bekanntschaft auch schon einige andere ebenfalls in der dritten Gesellschaftsschicht unserer Stadt angeknüpft und sogar noch tiefer; dazu neigte er nun eben. Bei Liputin hatte er bisher noch nicht im Hause verkehrt, wiewohl er mit ihm selbst anderweitig zusammengetroffen war. Er erriet, daß Liputin ihn jetzt infolge des gestrigen Skandals im Klub einlade und als Liberaler sich über diesen Skandal höchlichst freue und aufrichtig der Ansicht sei, so müsse man alle Vorsteher des Klubs behandeln, und es sei sehr gut, daß ein Anfang gemacht sei. Nikolai Wsewolodowitsch lachte und versprach zu kommen.
Es hatten sich eine Menge Gäste eingefunden, nicht vornehme, aber geistig rege Leute. Der selbstsüchtige, neidische Liputin gab nur zweimal im Jahre Gesellschaften; aber bei diesen beiden Gelegenheiten zeigte er sich dann auch nicht knauserig. Der ansehnlichste Gast, Stepan Trofimowitsch, war krankheitshalber nicht gekommen. Es wurde Tee gereicht; auch war ein reichlicher kalter Imbiß mit Likören aufgestellt; an drei Tischen wurde Karte gespielt; die Jugend aber amüsierte sich in Erwartung des Abendessens damit, nach dem Klavier zu tanzen. Nikolai Wsewolodowitsch forderte Madame Liputina auf, eine sehr hübsche Dame, die vor ihm schreckliche Bange hatte, und tanzte mit ihr einige Touren; dann setzte er sich neben sie, unterhielt sich mit ihr und brachte sie zum Lachen. Da er schließlich bemerkte, wie hübsch sie war, wenn sie lachte, faßte er sie plötzlich vor den Augen aller Gäste um die Taille und küßte sie dreimal hintereinander nach Herzenslust auf den Mund. Die arme Frau fiel vor Schreck in Ohnmacht. Nikolai Wsewolodowitsch ergriff seinen Hut, trat an den Ehemann heran, der in der allgemeinen Erregung wie betäubt dastand, wurde, als er ihn anblickte, ebenfalls verlegen, murmelte ihm schnell zu: »Seien Sie nicht böse!« und ging hinaus. Liputin lief ihm nach ins Vorzimmer, reichte ihm eigenhändig den Pelz und begleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinunter. Aber gleich am folgenden Tage hatte dann diese vergleichsweise wirklich harmlose Geschichte ein ganz amüsantes Nachspiel, welches seitdem Herrn Liputin sogar zu einem gewissen Ansehen verhalf, das er zu seinem Vorteil auszunutzen verstand.
Um zehn Uhr morgens erschien in Frau Stawroginas Hause Liputins Magd Agafja, ein gewandtes, flinkes, rotbackiges Frauenzimmer im Alter von ungefähr dreißig Jahren; sie war von ihm mit einer Bestellung zu Nikolai Wsewolodowitsch geschickt und wünschte sogleich »den jungen Herrn selbst zu sprechen.« Er hatte starke Kopfschmerzen, kam aber doch heraus. Warwara Petrowna war bei der Ausrichtung der Bestellung anwesend.
»Sergei Wasiljewitsch« (das heißt Liputin), begann Agafja flink zu plappern, »läßt sich Ihnen erstens bestens empfehlen und sich nach Ihrer Gesundheit erkundigen, wie Sie nach dem gestrigen Abend geruht haben, und wie Sie nach dem gestrigen Abend sich befinden.«
Nikolai Wsewolodowitsch lächelte.
»Bestelle wieder eine Empfehlung, Agafja, und ich ließe bestens danken; und sage deinem Herrn von mir, er wäre der klügste Mensch in der ganzen Stadt.«
»Und dann hat er mir befohlen, Ihnen darauf zu antworten,« erwiderte Agafja noch flinker, »das wisse er auch ohne Sie, und er wünsche Ihnen ebendasselbe.«
»Nun sieh mal an! Wie konnte er denn wissen, was ich dir sagen würde?«
»Das weiß ich nicht, woher er das wußte; aber als ich hinausgegangen und schon die ganze Gasse hinuntergegangen war, da hörte ich, wie er mir nachgelaufen kam, ohne Mütze. ›Du,‹ sagte er, ›Agafja, wenn er etwa zu dir sagen sollte: Bestelle deinem Herrn, daß er der klügste Mann in der ganzen Stadt ist, dann antworte ihm doch sogleich: Das weiß er selbst recht gut und wünscht Ihnen ebendasselbe.‹«