Читать книгу Die Dämonen - Fjodor Dostojewski - Страница 39
V.
ОглавлениеDie Tür zu der Lebjadkinschen Wohnung war nur zugemacht, aber nicht verschlossen, und wir traten ungehindert ein. Ihre ganze Behausung bestand aus zwei häßlichen kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen Tapeten buchstäblich in Fetzen hingen. Es war dort früher einige Jahre lang eine Speisewirtschaft gewesen, bevor der Hausbesitzer Filippow sie in sein neues Haus verlegt hatte. Die übrigen Zimmer, die zur Speisewirtschaft gedient hatten, waren jetzt zugeschlossen, und diese beiden waren dem Hauptmann Lebjadkin überlassen worden. Das Mobiliar bestand aus einfachen Bänken und Brettertischen, dazu noch aus einem sehr alten Lehnstuhl ohne Seitenlehnen. In dem zweiten Zimmer stand in einer Ecke ein mit einer baumwollenen Decke zugedecktes Bett, welches Mademoiselle Lebjadkina gehörte; der Hauptmann selbst warf sich, wenn er sich schlafen legte, jedesmal auf den Fußboden, nicht selten in den Kleidern. Überall waren Speisereste, Schmutz und Nässe zu sehen; ein großer, dicker, ganz nasser Lappen lag im ersten Zimmer mitten auf dem Fußboden, und ebendort lag in einer Lache ein alter ausgetretener Schuh. Es war klar, daß sich hier niemand um etwas kümmerte; die Öfen wurden nicht geheizt, Speisen nicht zubereitet; nicht einmal einen Samowar hatten sie, wie mir Schatow ausdrücklich erzählte. Der Hauptmann war mit seiner Schwester in größter Armut hier angekommen, wie Liputin gesagt hatte, und tatsächlich anfangs in einigen Häusern betteln gegangen; dann aber hatte er unerwartet Geld erhalten, sogleich angefangen zu trinken und war vom Branntwein so dumm und duselig geworden, daß er sich um den Haushalt gar nicht mehr kümmerte.
Mademoiselle Lebjadkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß still und ruhig im zweiten Zimmer in einer Ecke auf einer Bank an einem bretternen Küchentisch. Sie redete uns nicht an, als wir die Tür öffneten, und rührte sich nicht einmal vom Platze. Schatow sagte, die Türen würden bei ihnen nie zugeschlossen, und einmal habe die Flurtür die ganze Nacht über sperrangelweit aufgestanden. Bei dem matten Scheine eines dünnen Lichtes, das in einem eisernen Leuchter steckte, erblickte ich eine weibliche Person von vielleicht dreißig Jahren, von schrecklicher Magerkeit, bekleidet mit einem alten dunklen Kattunkleide; der lange Hals war unbedeckt, die dünnen, dunklen Haare im Nacken in einen kleinen Kauz zusammengefaßt, der nicht größer war als die Faust eines zweijährigen Kindes. Sie blickte uns ganz heiter an; außer dem Leuchter befanden sich vor ihr auf dem Tische ein kleiner Spiegel in einem Holzrahmen, ein altes Spiel Karten, ein abgegriffenes Liederbüchelchen und eine Semmel, von der schon ein- oder zweimal abgebissen war. Bemerkenswert war, daß Mademoiselle Lebjadkina sich weiß und rot schminkte und sich die Lippen mit etwas bestrich. Auch malte sie sich die Augenbrauen schwarz, die auch ohnedies lang, schmal und dunkel waren. Auf ihrer schmalen, hohen Stirn zeichneten sich trotz der weißen Schminke drei lange Runzeln ziemlich scharf ab. Ich wußte bereits, daß sie lahm war; aber diesmal stand sie während unserer Anwesenheit nicht auf und ging nicht. Früher einmal, in der ersten Jugend, mochte dieses abgemagerte Gesicht ganz schön gewesen sein; aber die stillen, freundlichen grauen Augen waren auch jetzt noch merkwürdig; aus ihrem stillen, offenen, beinah fröhlichen Blicke leuchtete eine sanfte Träumerei heraus. Diese stille, ruhige Fröhlichkeit, die auch in ihrem Lächeln zum Ausdruck kam, setzte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und den Roheiten des Bruders gehört hatte, in Erstaunen. Sonderbar: statt des peinlichen und sogar ängstlichen Gefühles, das man gewöhnlich in Gegenwart all solcher von Gott gestraften Wesen empfindet, war es mir gleich vom ersten Augenblicke an beinah angenehm, sie anzusehen, und das Gefühl, das sich nachher meiner bemächtigte, war nur Mitleid, aber keineswegs Widerwillen.
»So sitzt sie nun buchstäblich Tage lang allein da, ohne sich zu rühren, legt sich Karten oder sieht in den Spiegel,« sagte Schatow, auf sie hinweisend, als wir auf der Schwelle standen. »Er gibt ihr nichts zu essen. Die alte Frau aus dem Seitengebäude bringt ihr manchmal etwas aus Barmherzigkeit. Da sitzt sie nun hier so allein beim Lichte!«
Zu meiner Verwunderung redete Schatow laut, wie wenn sie gar nicht im Zimmer wäre.
»Guten Abend, lieber Schatow!« sagte Mademoiselle Lebjadkina freundlich.
»Ich habe dir einen Gast mitgebracht, Marja Timofejewna,« sagte Schatow.
»Nun, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da hergebracht hast; ich kann mich auf so einen nicht besinnen,« erwiderte sie, indem sie mich ein Weilchen unverwandt hinter dem Lichte hervor betrachtete; dann aber wendete sie sich sogleich wieder zu Schatow; um mich kümmerte sie sich nun während des ganzen Gespräches gar nicht mehr, wie wenn ich überhaupt nicht anwesend wäre.
»Es ist dir wohl langweilig geworden, so allein in deinem Zimmer umherzuwandern?« sagte sie lachend, wobei zwei Reihen wunderschöner Zähne sichtbar wurden.
»Ja, es wurde mir langweilig, und dann wollte ich dich auch gern besuchen.«
Schatow rückte eine Bank an den Tisch, setzte sich hin und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen.
»Ein Gespräch habe ich immer gern; aber du kommst mir doch lächerlich vor, lieber Schatow; du siehst ja aus wie ein Mönch. Wann hast du dich denn zuletzt gekämmt? Komm, ich werde dich wieder einmal kämmen!« Mit diesen Worten zog sie ein Kämmchen aus der Tasche. »Seit ich dich zum letzten Male gekämmt habe, hast du wohl dein Haar nicht mehr angerührt?«
»Ich habe ja keinen Kamm!« versetzte Schatow lachend.
»Wirklich nicht? Dann werde ich dir meinen schenken; nicht diesen hier, sondern einen andern; aber du mußt mich daran erinnern.«
Mit dem ernstesten Gesichte machte sie sich daran, ihn zu kämmen, zog ihm sogar einen Scheitel auf der Seite, bog sich ein wenig zurück, um zu sehen, ob alles gut gelungen war, und steckte den Kamm wieder in die Tasche.
»Weißt du was, lieber Schatow,« sagte sie, den Kopf hin und her wiegend, »du bist doch sonst ein vernünftiger Mensch, aber doch langweilst du dich. Ich muß mich wundern, wenn ich euch alle so ansehe: ich verstehe gar nicht, wie sich die Leute langweilen können. Sehnsucht ist nicht langweilig. Ich bin ganz vergnügt.«
»Auch wenn dein Bruder da ist?«
»Du meinst Lebjadkin? Der ist mein Bedienter. Es ist mir ganz gleich, ob er da ist oder nicht. Wenn ich ihm befehle: ›Lebjadkin, bring Wasser! Lebjadkin, gib die Schuhe her!‹ dann läuft er nur so; manchmal versündige ich mich sogar und lache über ihn.«
»Und das ist wirklich genau so,« sagte Schatow wieder laut und ungeniert, indem er sich zu mir wandte. »Sie behandelt ihn ganz wie einen Bedienten; ich habe selbst gehört, wie sie ihn anherrschte: ›Lebjadkin, bring Wasser!‹ und dazu lachte; der Unterschied besteht nur darin, daß er nicht nach Wasser läuft, sondern sie dafür schlägt; aber sie fürchtet sich gar nicht vor ihm. Sie hat beinahe täglich eine Art von Nervenanfällen, die ihr das Gedächtnis benehmen, so daß sie nach ihnen alles vergißt, was soeben geschehen ist, und immer die Zeiten verwechselt. Sie denken wohl, daß sie sich daran erinnert, wie wir hereingekommen sind? Vielleicht tut sie es; gewiß aber hat sie alles schon in ihrer Weise umgestaltet und hält uns jetzt für ganz andere Menschen, obwohl sie sich erinnert, daß ich der liebe Schatow bin. Daß ich laut spreche, tut nichts; wenn man nicht mit ihr spricht, hört sie sofort auf zuzuhören und überläßt sich ihren Träumereien, in denen sie ganz versinkt. Sie ist eine erstaunliche Träumerin; sie sitzt manchmal acht Stunden, ja einen ganzen Tag lang auf einem Fleck. Da liegt nun eine Semmel; sie hat vielleicht seit dem Morgen nur einmal davon abgebissen und wird sie erst morgen zu Ende essen. Da! Jetzt hat sie angefangen, sich Karten zu legen ...«
»Ich lege und lege, lieber Schatow; aber es kommt nicht ordentlich heraus,« fiel auf einmal Marja Timofejewna ein, die die letzten Worte gehört hatte; und ohne hinzusehen, streckte sie die linke Hand nach der Semmel aus; wahrscheinlich hatte sie auch gehört, daß diese erwähnt wurde.
Endlich erfaßte sie die Semmel; aber nachdem sie sie eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, ließ sie sich durch das neu in Gang kommende Gespräch fesseln und legte sie, ohne abgebissen zu haben, wieder auf den Tisch; sie war sich dieser Handlungen gar nicht bewußt geworden.
»Es kommt immer dasselbe heraus: eine Reise, ein böser Mensch, eine Hinterlist jemandes, ein Sterbebett, ein Brief von irgendwoher, eine unerwartete Nachricht, – ich meine, das ist alles Lug und Trug; wie denkst du darüber, lieber Schatow? Wenn die Menschen lügen, warum sollten die Karten nicht auch lügen?« Sie mischte die Karten. »Dasselbe sagte ich auch einmal zu Mutter Praskowja; das war eine sehr achtbare Frau, die kam immer zu mir in meine Zelle gelaufen, um sich ohne Wissen der Mutter Äbtissin Karten legen zu lassen. Und es kamen auch noch andere mit ihr mitgelaufen. Da sagten sie nun ›Ach!‹ und ›Oh!‹ und wiegten die Köpfe hin und her und redeten und schwatzten; aber ich lachte: ›Na, Mutter Praskowja,‹ sagte ich, ›wie werden Sie denn einen Brief bekommen, wenn zwölf Jahre lang keiner angekommen ist?‹ Ihre Tochter hatte der Mann derselben irgendwohin in die Türkei mitgenommen, und es war zwölf Jahre lang nichts von ihr zu hören gewesen. Aber da saß ich am folgenden Tage abends zum Tee bei der Mutter Äbtissin (sie war aus einer fürstlichen Familie), und bei ihr saß auch eine Dame von auswärts, eine große Phantastin, und auch ein Mönch vom Berge Athos, ein sehr komischer Mensch nach meiner Ansicht. Und was meinst du wohl, lieber Schatow? Dieser selbe Mönch hatte an demselben Morgen der Mutter Praskowja aus der Türkei von ihrer Tochter einen Brief gebracht, – siehst du, da ist Karo-Bube, eine unerwartete Nachricht! Also wir tranken da Tee, und der Mönch vom Athos sagte zur Mutter Äbtissin: ›Und am allermeisten, ehrwürdige Mutter Äbtissin, hat Gott Ihr Kloster dadurch gesegnet, daß Sie einen so kostbaren Schatz in seinen Mauern bewahren.‹ ›Was für einen Schatz?‹ fragte die Mutter Äbtissin. ›Die gottwohlgefällige Mutter Lisaweta,‹ antwortete der Mönch. Diese gottwohlgefällige Mutter Lisaweta war in der Umfassungsmauer des Klosters eingemauert, in einem Käfig, der drei Ellen lang und zwei Ellen hoch war, und saß da hinter einem eisernen Gitter schon siebzehn Jahre, Sommer und Winter im bloßen hänfenen Hemde, und stach immer mit einem Strohhalm oder einem Stöckchen in ihr Hemd, in die Leinwand, hinein und redete nichts und kämmte sich nicht und wusch sich nicht, die ganzen siebzehn Jahre lang. Im Winter schob man ihr einen Schafpelz durchs Gitter und alle Tage ein Körbchen mit Brot und einen Krug Wasser. Die Wallfahrer sahen sie an, staunten, seufzten und legten Geld hin. ›Na, ja, ein schöner Schatz,‹ versetzte die Mutter Äbtissin (sie ärgerte sich; denn sie konnte Lisaweta gar nicht leiden); ›Lisaweta sitzt da nur aus Bosheit, nur aus Eigensinn; es ist alles nur Verstellung.‹ Das gefiel mir nicht; ich wollte mich damals selbst einsperren lassen. ›Meiner Ansicht nach‹, sagte ich, ›ist Gott und die Natur ein und dasselbe.‹ Da riefen sie alle wie aus einem Munde: ›Aber so etwas!‹ Die Äbtissin lachte, fing an mit der fremden Dame zu flüstern, rief mich zu sich und streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa Band; wenn du willst, werde ich es dir zeigen. Na, und der Mönch hielt mir eine belehrende Rede und sprach so freundlich und ruhig und gewiß auch sehr verständig, und ich saß da und hörte zu. ›Hast du es verstanden?‹ fragte er. ›Nein,‹ antwortete ich, ›ich habe nichts verstanden; lassen Sie mich nur ganz in Ruhe!‹ Seitdem ließen sie mich ganz in Ruhe, lieber Schatow. Aber als ich einmal aus der Kirche kam, da flüsterte mir eine unserer Nonnen, die bei uns Buße tun mußte für ihre Weissagungen, leise zu: ›Was ist die Muttergottes? Was meinst du?‹ ›Die Muttergottes‹, antwortete ich, ›ist die Hoffnung des Menschengeschlechtes.‹ ›Ja,‹ sagte sie, ›die Muttergottes ist die kühle Mutter Erde, und sie schließt für den Menschen große Freude ein. Und jeder irdische Kummer und jede irdische Träne wird uns zur Freude; und wenn du mit deinen Tränen die Erde unter dir eine halbe Elle tief getränkt haben wirst, dann wirst du dich sogleich über alles freuen. Und du wirst keinen, gar keinen Kummer mehr haben,‹ sagte sie; ›eine solche Prophezeiung gibt es.‹ Dieses Wort prägte sich mir damals ein. Seitdem fing ich an, beim Gebete, wenn ich die tiefen Verbeugungen machte, jedesmal die Erde zu küssen; ich küßte sie und weinte. Und ich kann dir sagen, lieber Schatow: diese Tränen sind etwas Gutes; und wenn du auch keinen Kummer hast, so fließen deine Tränen doch vor lauter Freude. Die Tränen fließen von selbst, das ist sicher. Ich ging manchmal an das Seeufer: auf der einen Seite lag unser Kloster und auf der andern unser spitzer Berg; er hieß darum auch der Spitzberg. Ich stieg auf diesen Berg hinauf und wandte mich mit dem Gesichte nach Osten, fiel auf die Erde nieder, weinte und weinte und konnte mich nicht erinnern, wie lange ich geweint hatte, und konnte mich damals an nichts erinnern und wußte damals nichts. Dann stand ich auf und wandte mich um, und die Sonne ging unter, so groß und prächtig und herrlich, – siehst du gern in die Sonne, lieber Schatow? Es ist ein schöner, aber trauriger Anblick. Dann wandte ich mich wieder nach Osten, und der Schatten, der Schatten unseres Berges lief wie ein Pfeil weit über den See hin, schmal und lang, ganz lang, über eine Werst weit, bis zu der Insel im See, und da zerschnitt er diese steinige Insel in zwei Hälften, und wenn er sie in zwei Hälften zerschnitten hatte, dann ging die Sonne ganz unter, und alles erlosch plötzlich. Dann wurde ich ganz traurig; dann kam mir auf einmal die Erinnerung wieder, und ich fürchtete mich vor der Dunkelheit, lieber Schatow. Und am meisten weinte ich um mein Kindchen ...«
»Hast du denn eines gehabt?« fragte Schatow, der die ganze Zeit über sehr aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich mit dem Ellbogen an.
»Gewiß doch! Ein ganz kleines, rosiges, mit so winzigen Nägelchen, und mein ganzer Kummer ist, daß ich mich nicht erinnern kann, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Bald ist es mir, als sei es ein Knabe, bald, als sei es ein Mädchen gewesen. Und als ich es damals geboren hatte, wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen und umwand es mit rosa Bändern und bestreute es mit Blumen und putzte es an und verrichtete ein Gebet über ihm und trug es ungetauft weg; ich trug es durch einen Wald und fürchtete mich vor dem Walde, und mir war so bange, und am meisten weinte ich darüber, daß ich es geboren hatte und meinen Mann nicht kannte.«
»Hast du denn einen gehabt?« fragte Schatow vorsichtig.
»Du kommst mir lächerlich vor, lieber Schatow, mit deinen Einwendungen. Ich hatte einen, ich werde wohl einen gehabt haben; aber was hilft mir das, wenn es ganz ebenso ist, als ob ich keinen gehabt hätte? Da hast du ein leichtes Rätsel; nun rate mal!« fügte sie lächelnd hinzu.
»Wo hast du das Kind denn hingetragen?«
»In den Teich habe ich es getragen,« antwortete sie seufzend.
Schatow stieß mich wieder mit dem Ellbogen an.
»Wie aber, wenn du überhaupt kein Kind gehabt hast und das alles nur ein Hirngespinst ist, wie?«
»Da legst du mir eine schwere Frage vor, lieber Schatow,« antwortete sie nachdenklich und ohne über eine solche Frage irgendwie erstaunt zu sein. »Darüber kann ich dir nichts sagen; vielleicht habe ich auch keins gehabt; meiner Meinung nach ist das von dir nur Neugier. Aber jedenfalls werde ich immer über das Kindchen weinen; habe ich es denn nicht im Traume gesehen?« Und große Tränen glänzten in ihren Augen. »Lieber Schatow, lieber Schatow, ist das wahr, daß dir deine Frau weggelaufen ist?« fragte sie, indem sie ihm plötzlich beide Hände auf die Schultern legte und ihn mitleidig anblickte. »Sei mir nicht böse wegen der Frage; mir ist ja auch traurig ums Herz. Weißt du, lieber Schatow, mir hat geträumt, er käme wieder zu mir und riefe lockend: ›Komm her, mein Kätzchen; komm zu mir, mein Kätzchen!‹ Am meisten freute ich mich darüber, daß er ›mein Kätzchen‹ sagte; er liebt mich noch, dachte ich.«
»Vielleicht wird er auch in Wirklichkeit kommen,« murmelte Schatow halblaut.
»Nein, lieber Schatow, das war ein Traum ... in Wirklichkeit kann er nicht kommen. Kennst du das Lied:
›Statt deines Prunkgemachs erwähle
Ich diese enge Zelle mir;
Daß meiner und auch deiner Seele
Sich Gott erbarme, bet' ich hier.‹
Ach, mein lieber, guter Schatow, warum fragst du mich nie nach etwas?«
»Du sagst ja doch nichts; deshalb frage ich dich erst gar nicht.«
»Ich werde nichts sagen, ich werde nichts sagen, und wenn man mich in Stücke reißt; ich werde nichts sagen,« fiel sie schnell ein. »Und wenn man mich brennt, werde ich nichts sagen. Was ich auch erdulden muß, ich werde nichts sagen, die Leute werden nichts erfahren.«
»Nun, siehst du, so hat also jeder sein Geheimnis,« sagte Schatow noch leiser und ließ den Kopf immer tiefer herabsinken.
»Aber wenn du mich bätest, würde ich es vielleicht doch sagen!« wiederholte sie verzückt. »Warum bittest du mich nicht? Bitte mich, bitte mich hübsch, lieber Schatow; vielleicht werde ich es dir sagen; bitte mich inständig, lieber Schatow, damit ich es gern tue ... lieber Schatow, lieber Schatow!«
Aber der liebe Schatow schwieg; das allgemeine Schweigen dauerte ungefähr eine Minute lang. Die Tränen rannen still über ihre blassen Wangen; sie saß da, ohne zu wissen, daß ihre beiden Hände noch auf Schatows Schultern lagen; aber sie blickte ihn nicht mehr an.
»Ach was! Was gehst du mich an! Es ist sogar unrecht!« rief Schatow und erhob sich plötzlich von der Bank. »Stehen Sie auf!« Er zog mir ärgerlich die Bank unter dem Leibe weg und stellte sie an ihren früheren Platz.
»Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Es ist Zeit, daß wir gehen.«
»Ach, du sprichst immer von meinem Bedienten!« sagte Marja Timofejewna auflachend. »Du hast Angst vor ihm! Nun, lebt wohl, meine lieben Gäste; aber höre noch einen Augenblick, was ich sagen will! Heute kam dieser Nilowitsch mit dem rotbärtigen Hauswirt Filippow her, gerade als mein Bedienter auf mich losstürzte. Nein, wie der Hauswirt ihn packte und durch das Zimmer schleifte und mein Bedienter immer schrie: ›Ich trage keine Schuld; ich leide für fremde Sünden!‹ Kannst du es glauben: wir alle, die wir da waren, schüttelten uns nur so vor Lachen ...«
»Ach was, Timofejewna, das war ja ich und nicht der Rotbart; ich habe ihn ja heute an den Haaren von dir weggerissen. Der Hauswirt aber ist vorgestern zu euch gekommen, um euch zu schimpfen. Das hast du verwechselt.«
»Warte mal, das habe ich wirklich verwechselt; vielleicht bist du es gewesen. Nun, wozu sollen wir über Kleinigkeiten streiten; ihm kann es ganz gleich sein, wer ihn wegreißt,« sagte sie lachend.
»Kommen Sie!« rief Schatow und zog mich fort. »Das Tor hat geknarrt; wenn er uns hier antrifft, schlägt er sie.«
Wir waren kaum die Treppe hinaufgelaufen, als am Tore das Geschrei eines Betrunkenen und massenhafte Schimpfworte hörbar wurden. Schatow ließ mich in seine Wohnung hinein und schloß die Tür zu.
»Sie müssen ein Weilchen hier warten, wenn Sie nicht einen großen Skandal hervorrufen wollen. Hören Sie, er schreit wie ein Schwein; gewiß ist er wieder über die Schwelle gestrauchelt; jedesmal schlägt er da lang hin.«
Ohne Skandal ging es jedoch nicht ab.