Читать книгу Die Brüder Karamsow - Fjodor M. Dostojewski - Страница 13
1. Ankunft im Kloster
ОглавлениеEs war ein schöner, warmer, klarer Tag Ende August. Die Zusammenkunft mit dem Starez war gleich nach der Spätmesse verabredet, ungefähr halb zwölf. Die Besucher erschienen aber nicht zur Messe, sondern erst in dem Augenblick, als die Gläubigen die Kirche verließen. Man fuhr in zwei Wagen vor, im ersten, einer eleganten Kutsche mit zwei wertvollen Pferden, saß Pjotr Alexandrowitsch Miussow mit einem entfernten Verwandten, einem sehr jungen, erst zwanzigjährigen Menschen namens Pjotr Fomitsch Kalganow. Der junge Mann bereitete sich auf die Universität vor, aber Miussow, bei dem er vorläufig wohnte, redete ihm zu, mit ihm ins Ausland zu gehen, nach Zürich oder Jena, und dort sein Studium zu absolvieren. Der junge Mann hatte sich noch nicht entschieden. Er war nachdenklich und irgendwie zerstreut. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war kräftig gebaut und ziemlich groß. In seinem Blick lag mitunter etwas seltsam Starres; Wie alle zerstreuten Menschen schaute er jemand lange Zeit an, ohne ihn überhaupt zu sehen. Er war schweigsam und etwas linkisch, wurde aber bisweilen – übrigens vor allem unter vier Augen – unvermittelt gesprächig, impulsiv und lachlustig; Gott weiß, über was alles er manchmal lachte. Seine Lebhaftigkeit erlosch jedoch ebenso plötzlich, wie sie entstanden war. Gekleidet war er stets gut, sogar elegant; er besaß schon ein kleines eigenes Vermögen und hatte noch weit mehr zu erwarten. Mit Aljoscha war er befreundet.
In einer alten klapprigen, aber geräumigen Droschke, die mit ihren zwei alten rötlich-grauen Gäulen weit hinter Miussows Kutsche zurückgeblieben war, kamen Fjodor Pawlowitsch und sein Sohn Iwan. Dem ältesten Sohn Dmitri Fjodorowitsch hatte man den Termin tags zuvor genau mitgeteilt, doch er verspätete sich. Die Besucher ließen ihre Wagen vor der Klostermauer beim Gasthaus stehen und traten durch das Klostertor ein. Außer Fjodor Pawlowitsch hatte anscheinend noch keiner von ihnen ein Kloster gesehen, und Miussow war vielleicht seit dreißig Jahren in keiner Kirche gewesen. Er sah sich mit einiger Neugier um, die nicht frei war von einer gewissen gespielten Ungeniertheit. Aber seinem beobachtenden Auge boten sich außer den sehr alltäglichen Kirchen- und Wirtschaftsgebäuden keine weiteren Objekte. Die letzten Besucher, die gerade aus der Kirche kamen, nahmen die Mützen ab und bekreuzigten sich. Unter dem einfachen Volk waren auch einige Mitglieder der höheren Gesellschaft: zwei oder drei Damen und ein sehr alter General; alle waren in dem Gasthaus abgestiegen. Bettler umringten sofort die Ankömmlinge, aber keiner gab ihnen etwas. Nur Petruscha Kalganow entnahm seiner Geldbörse ein Zehnkopekenstück, reichte es eilig und aus irgendeinem Grunde verlegen einer alten Frau und sagte dabei hastig: »Verteil das gleichmäßig.« Niemand aus seiner Begleitung sagte etwas darüber, so daß er eigentlich keinen Anlaß zur Verlegenheit hatte; doch, als er das selbst bemerkte, wurde er erst recht verlegen.
Es war sonderbar; eigentlich hätten die Klosterleute sie doch erwarten und womöglich mit gewissen Ehrenbezeigungen empfangen müssen; einer der Besucher hatte erst kürzlich tausend Rubel gespendet, und ein anderer war der reichste Gutsbesitzer und sozusagen der gebildetste Mensch weit und breit; hier hingen alle wegen des Fischfangs im Fluß zum Teil von ihm ab, falls der Prozeß eine solche Wendung nahm. Und trotzdem kam ihnen keine der offiziellen Persönlichkeiten entgegen. Miussow blickte zerstreut auf die Grabsteine neben der Kirche und wollte schon die Bemerkung fallenlassen, die Hinterbliebenen hätten für das Recht, ihre Toten an einem so »heiligen« Ort zu bestatten, gewiß gehörig zahlen müssen; aber er schwieg: die einfache Ironie des Liberalen hatte sich schon fast in Zorn verwandelt.
»Zum Teufel, bei wem können wir uns in diesem Durcheinander hier bloß erkundigen? Das müßten wir klären, sonst vergeht unnütz die Zeit«, murmelte er wie im Selbstgespräch.
Auf einmal trat ein ältlicher, kahlköpfiger Herr im bequemen Sommermantel, mit süßlichen kleinen Augen zu ihnen. Er lüftete den Hut und stellte sich mit honigsüßem Lispeln als Gutsbesitzer Maximow aus Tula vor. Sogleich ging er auf die Verlegenheit der Reisenden ein.
»Der Starez Sossima wohnt in der Einsiedelei, vollkommen abgeschlossen, vierhundert Schritte vom Kloster, durch das Wäldchen, durch das Wäldchen ...«
»Das weiß ich auch, daß wir durch ein Wäldchen müssen«, erwiderte Fjodor Pawlowitsch, »aber ich habe den Weg vergessen; ich bin lange nicht hier gewesen.«
»Durch dieses Tor und dann geradeaus durch das Wäldchen ... Durch das Wäldchen. Kommen Sie nur! Wenn es Ihnen recht ist. Ich muß selbst ... Ich selbst ... Bitte hier, hier ...«
Sie gingen durch das Tor und schlugen die Richtung nach dem Wäldchen ein. Der Gutsbesitzer Maximow, ein Mann von etwa sechzig Jahren ging oder, richtiger, lief neben ihnen her, wobei er alle mit einer krampfhaften, schier unglaublichen Neugier betrachtete. Seine Augen hatten etwas Glotzendes.
»Wissen Sie, wir wollen in einer persönlichen Angelegenheit zu diesem Starez«, sagte Miussow in strengem Ton. »Wir haben sozusagen eine Audienz bei dieser Persönlichkeit bewilligt erhalten. Und daher möchten wir Sie doch bitten, so dankbar wir Ihnen für die Führerschaft sind, nicht gleichzeitig mit uns hineinzugehen.«
»Ich war schon drin, ich war schon ... Un chevalier parfait!« Der Gutsbesitzer schnippte mit den Fingern in der Luft.
»Wer ist so ein chevalier?« fragte Miussow.
»Der Starez, dieser prächtige Starez. Der Starez. Die Ehre und der Ruhm des Klosters. Sossima. Das ist ein Starez, der ...«
Sein wirres Gerede wurde durch einen Mönch, der die Besucher einholte, unterbrochen; er trug eine Kapuze, war von kleiner Statur und sah blaß und abgezehrt aus. Fjodor Pawlowitsch und Miussow blieben stehen, und der Mönch sagte mit überaus höflicher, tiefer Verbeugung: »Der Vater Abt bittet Sie, meine Herren, gehorsamst, nach Ihrem Besuch in der Einsiedelei bei ihm speisen zu wollen. Bitte um ein Uhr bei ihm, nicht später. Und Sie ebenfalls«, wandte er sich an Maximow.
»Das werde ich unbedingt tun!« rief Fjodor Pawlowitsch, der sich über die Einladung gewaltig freute. »Unbedingt. Und wissen Sie, wir haben uns das Wort gegeben, uns anständig zu betragen. Und Sie, Pjotr Alexandrowitsch, kommen Sie auch mit?«
»Warum denn nicht? Wieso bin ich sonst hergefahren, wenn ich nicht alle Bräuche hier kennenlerne! Nur eines stimmt mich bedenklich, Fjodor Pawlowitsch, daß ich jetzt mit Ihnen ...«
»Ja, ja, Dmitri Fjodorowitsch ist noch nicht da.«
»Das beste wäre, er bliebe ganz weg. Glauben Sie vielleicht, Ihre Stümpereien machen mir Spaß, und dazu noch mit Ihnen? Also wir kommen zum Mittagessen; bestellen Sie dem Vater Abt unseren Dank!« wandte er sich an den Mönch.
»Es ist auch noch meine Pflicht, Sie zum Starez zu führen«, antwortete der Mönch.
»Ich aber will, wenn es so ist, zum Vater Abt. Ich werde inzwischen geradewegs zum Vater Abt gehen«, schnatterte der Gutsbesitzer Maximow.
»Der Vater Abt ist augenblicklich beschäftigt; aber wie es Ihnen beliebt ...«, sagte der Mönch unsicher.
»Ein aufdringlicher alter Kerl« meinte Miussow, als der Gutsbesitzer Maximow zum Kloster zurücklief.
»Er hat Ähnlichkeit mit von Sohn«, sagte plötzlich Fjodor Pawlowitsch.
»Weiter wissen Sie wohl auch nichts! Wieso hat er Ähnlichkeit mit von Sohn? Haben Sie vielleicht von Sohn gesehen?«
»Eine Photographie von ihm. Die Ähnlichkeit liegt nicht in den Gesichtszügen, sondern – das läßt sich nicht erklären. Das vollkommenste Ebenbild des Herrn von Sohn. Ich erkenne das immer schon an der Physiognomie.«
»Na meinetwegen, Sie sind ja Kenner in solchen Dingen. Nur noch eines, Fjodor Pawlowitsch: Sie haben eben selbst gesagt, wir hätten versprochen, uns anständig zu benehmen. Sie erinnern sich. Ich rate Ihnen, beherrschen Sie sich! Sollten Sie anfangen, den Possenreißer zu spielen – ich bin nicht gewillt, mich mit Ihnen auf eine Stufe stellen zu lassen ... Sehen Sie, was das für ein Mensch ist!« wandte er sich an den Mönch. »Ich fürchte mich, mit ihm unter anständige Leute zu gehen.«
Auf den blassen, blutlosen Lippen des Mönchs erschien ein leises, diskretes Lächeln, in seiner Art nicht ohne Schlauheit, doch er erwiderte nichts, und man spürte deutlich: er schwieg im Bewußtsein der eigenen Würde. Miussows Gesicht wurde noch finsterer.
›Ach, hol sie alle der Teufel!‹ dachte er. Ein bißchen Fassade, die sie sich im Laufe der Jahrhunderte erarbeitet haben – aber im Grunde ist das Scharlatanerie und dummes Zeug!‹
»Da ist die Einsiedelei; wir sind am Ziel!« rief Fjodor Pawlowitsch. »Aber das Tor in der Mauer ist zu.« Und er begann vor den Heiligen, die über und neben dem Tor gemalt waren, große Kreuze zu schlagen.
»Wenn man in ein fremdes Kloster geht, darf man sein eigenes Reglement nicht mit hineinnehmen«, sagte er. »Insgesamt fünfundzwanzig Heilige leben hier in der Einsiedelei für ihr Seelenheil, beobachten sich gegenseitig und essen Kohl. Und keine einzige Frau lassen sie durch dieses Tor, das ist besonders interessant! Es soll tatsächlich so sein. Bloß ich habe auch gehört, daß der Starez Damen empfängt?« fragte er auf einmal den Mönch.
»Frauen aus dem Volk sind auch jetzt hier. Sehen Sie, dort an der Galerie warten welche. Für bessere Damen sind auf der Galerie, aber außerhalb der Mauer, zwei kleine Zimmer angebaut; das dort sind die Fenster. Der Starez kommt, wenn er gesund ist, von innen durch einen Gang zu ihnen heraus, doch, wie gesagt, immer nur außerhalb der Mauer. Auch jetzt ist eine Dame da, eine Frau Chochlakowa, Gutsbesitzerin aus Charkow; sie wartet mit ihrer gelähmten Tochter. Wahrscheinlich hat er versprochen, zu ihnen herauszukommen, obgleich er in der letzten Zeit so schwach ist, daß er sich auch dem Volk kaum zeigt.«
»Es gibt also doch ein Schlupfloch aus der Einsiedelei zu den Damen! Glauben Sie nicht, daß ich etwas Böses denke, frommer Vater, ich meine nur so. Wissen Sie, auf dem Athos, von dem haben Sie doch schon gehört, sind nicht nur Weiberbesuche verboten, es sind überhaupt keine Weiber oder sonstige weibliche Wesen gestattet, keine Hennen, Puten, Kühe ...«
»Fjodor Pawlowitsch, ich kehre gleich um und lasse Sie allein! Man wird Sie, wenn ich nicht dabei bin, zur Tür hinausführen; das prophezeie ich Ihnen!«
»Was habe ich Ihnen denn getan, Pjotr Alexandrowitsch? Sehen Sie nur«, rief er plötzlich, als er hinter die Mauer der Einsiedelei getreten war, »sehen Sie nur, in was für einem Rosental die Leute hier leben!«
In der Tat wuchsen dort zwar keine Rosen mehr, aber doch zahlreiche seltene, schöne Herbstblumen, wo immer man nur welche anpflanzen konnte. Offenbar wurden sie von kundiger Hand gepflegt. Auf dem Kirchenplatz und zwischen den Gräbern waren Blumenbeete angelegt. Das einstöckige, vor dem Eingang mit einer Galerie versehene Holzhäuschen, in dem die Zelle des Starez lag, war ebenfalls von Blumen umgeben.
»War das auch schon bei dem früheren Starez so, bei Warsonofi? Man sagt, er habe nichts Schönes leiden können? Aufgesprungen soll er sein, um mit dem Stock nach Frauen zu schlagen«, bemerkte Fjodor Pawlowitsch, als er die Stufen zur Eingangstür hinaufstieg.
»Der Starez Warsonofi machte wirklich mitunter den Eindruck eines frommen Irren; aber vieles, was von ihm erzählt wird, ist dummes Zeug. Mit dem Stock hat er niemand geschlagen«, antwortete der Mönch. »Jetzt bitte ich einen Augenblick zu warten, meine Herren; ich werde Sie melden.«
»Zum letztenmal die Bedingung, Fjodor Pawlowitsch, hören Sie gut zu! Benehmen Sie sich anständig, oder ich zahle es Ihnen heim!« brummte Miussow noch einmal.
»Ich verstehe nicht, warum Sie so aufgeregt sind«, erwiderte Fjodor Pawlowitsch spöttisch. »Haben Sie Angst ihrer Sünden wegen? Es heißt, er sieht jedem an den Augen an, weshalb er kommt. Und wie hoch Sie die Meinung dieser Leute schätzen, Sie, ein Pariser und Vorkämpfer des Fortschritts! Ich muß über Sie geradezu staunen, tatsächlich!«
Miussow konnte auf diese sarkastischen Worte nicht mehr antworten; sie wurden hereingebeten. In ziemlich gereizter Stimmung trat er ein.
›Na, ich kenne mich: ich bin gereizt und fange Streit an. Ich werde mich aufregen – und mich und die Idee entwürdigen!‹ ging es ihm durch den Kopf.