Читать книгу Bajass - Flavio Steimann - Страница 5

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Es war noch vor Tag, als Gauch die steilen Kehren des Karrwegs von der Station Maria Zell hinauf zur Gand unter die Füße nahm.

Man hatte ihn avisiert, dass die dortigen Bauersleute tot im Holz lägen, erschlagen mit einem Beil.

Gauch hatte schlecht geschlafen, eine Angst nagelte ihn aufs Bett, kaum dass er lag.

Eigentlich bloß ganz beiläufig war ihm in einer der letzten Nächte der Gedanke an ein taubes Bein gekommen – aber gerade diese Beiläufigkeit begann, sich unversehens in ein schwarzes Segel zu verwandeln, das alsbald hinter ihm stand, wohin er sich auch wandte. Er hatte sich seither beinahe stündlich untersucht und tatsächlich eine bläuliche Trutenhaut vorgefunden, die ihm bisher nie aufgefallen war; und nun mochte er die böse Vermutung verscheuchen, wie er wollte, sie abtun als bloße Einbildung – sie blieb in seinem Hirn und ließ ihm keine Ruhe.

Der Berg machte ihm zu schaffen.

Gauch hielt an und spuckte eine Borste, die ihn lange schon geplagt hatte, über die gestülpte Zunge.

Dann schaute er auf den See.

Es hatte zu hellen begonnen, dünner Aprilschnee war über Nacht gefallen und hatte die Flanken der Hügel in die Felle von Forellenschimmeln verwandelt; wieder lag dieser Nebel über der Ebene, der wohl die Farben beließ und das Licht, aber mit seiner Dämpfung ein Bewusstsein von Gefälschtheit schuf und dabei das Wasser nicht nass, sondern gläsern und unbewegt erscheinen ließ.

Gauch schob den Hut in den Nacken – der Schweiß zeichnete einen kühlen Strich hinter sein Ohr.

Im See stand ein Kahn. Gauch zögerte. Er fragte sich, was er tat.

Er war zeitlebens zu gehorsam gewesen – und mit dieser Angst vor einem faulenden Stumpf war ihm nun wieder bewusst geworden, dass er jeden Gedanken verscheuchte, der über das bloße Jetzt hinauswies. Je mehr Zweifel an seiner bisher eisernen Gesundheit an ihm nagten, desto weniger wagte er sich zu fragen, von welcher Hoffnung er eigentlich lebte und wozu. Er hatte lebenslänglich mitgespielt in einer notorischen Unentschiedenheit – ein Staatsdiener, den das Leben langweilte im Grunde, auch wenn er sich und andere wenig davon merken ließ.

Im Acker, der oberhalb des doppelten Wetterkreuzes in die letzte Wegschlinge eingebettet war, hing – an ein Leiterstück genagelt – eine vom Sturm zerfetzte Krähe. Gauch ging an dem toten Vogel vorbei in einer Furche durch den Winterweizen. Vom Weidschopf auf der Höhe blickte er wieder zu Tal.

Der Gandhof lag nun zu seinen Füßen in einer leichten Mulde auf der Sonnenseite des ausgreifenden Hügels. Es war ein breites Holzhaus mit den hier üblichen Klebdächern, das etwas abseits von Stall und Scheune geborgen unter einer mächtigen Linde stand. Gleichmäßig verstreut fanden sich weitere Gehöfte, deren Ziegeldächer trotz ihrer Größe nicht über die Kuppen ragten, sondern wie ruhende Tiere sich unauffällig in die Senken duckten.

Die Gegend schien friedlich. In alten Zeiten war eine Mutter vom Kirchgang nicht mehr nach Hause gekommen, vor Jahrzehnten hatte man eine schwangere Magd mit einer Garbenschnur erdrosselt. Sonst war nichts vorgefallen.

Und nun die zwei Toten.

Die Bluttat war am Ostermontag abends kurz vor der Dämmerung entdeckt worden, als entfernte Verwandte den taubstummen Hofknecht, den Bruder der Bäuerin, von einem Besuch zurückbrachten und ein herrenloses Rückepferd – noch im Schleppgeschirr – verstört vor den Ställen fanden.

Im Dorf hatte man den Gandbauern indessen schon am früheren Abend vermisst, dabei aber noch nicht an das Schlimmste gedacht, weil es schon hin und wieder vorgekommen war, dass er die Fuhre bei kühlem Wetter erst mit der Morgenmilch machte. Die beiden Bauersleute waren ihrer Raffgier wegen ohnehin schlecht gelitten gewesen, und so hatten auch die Nachbarn sich lieber um ihre eigenen Dinge gekümmert, statt in der Dunkelheit und ungewohnten Kälte unnütze Nachforschungen anzustellen.

Gauch krempelte seine nassen Hosenbeine hoch, dann schritt er weiter durch den Matsch.

Ein harziger Rauch, der aus der Waldung durch die Stämme über die Wiese schlich, wies ihm den Weg zum Schlag.

Als Gauch auf die Lichtung trat, war es ein seltsames Bild.

Der Bezirkslandjäger hatte rings um den Holzplatz Wäscheleinen von Baum zu Baum gezogen und mit Stalllaternen behängt, die trotz des Taglichts noch immer blakten. Er selber saß bleich und aufgeregt auf einem Stumpf und hielt unter der Pelerine Pistole und Feldstecher gemäß Dienstvorschrift in den klammen Fingern bereit.

Die beiden Toten lagen unter schweren Pferdedecken, im Laub grinste wie ein Gebiss ein brauner Kamm, die Mordwaffe, einen blutigen Spalthammer, hatte der junge Korporal mit einer geschälten Birkenrute, an die schwarzer Flor geknüpft war, markiert.

Gauch stieg auf einen liegenden Stamm und hielt sich, bis er das Gleichgewicht gefunden hatte, an einem herunterhängenden Aste fest. Dann balancierte er bis zum Ende.

Brauchbare Spuren waren nicht mehr zu sichern. Das erschreckte Pferd hatte mit seinen Hufen alles aufgewühlt, im Brei aus Sägemehl, Matsch und Geäst lag das Werkzeug halb unter Hölzern, halb im Gedorn, der Essenskorb, der noch an einer eingerammten Sapine hing, war ausgeleert, nasses Brot zerbrockte neben dem Rindenschäler, eine Flasche, die zum Warmhalten in eine wollene Wadenbinde eingewickelt war, steckte im Kraut. Gauch stieg vom Stamm, hob sie auf und öffnete den Bügel. Eine Fahne von Schnaps stieg aus dem kalten Kaffee.

Der Gandbauer sei das Opfer eines Raubmordes geworden, das könne man deutlich daran erkennen, dass man ihm die silberne Uhr von der Weste gerissen habe, zudem sei die Truhe in der Schlafkammer der Eheleute aufgebrochen und alles Wertvolle gestohlen worden. Man verdächtige die Fecker, die beim Zeller Moos am See lagerten und alles mitlaufen ließen, was nicht angebunden sei. Ein gottverdammtes Pack.

Gauch ließ den Polizisten reden. Dann warf er Reisig auf die Glut. Er schaute zu, wie das Feuer erst fast erstickte, dann aber mit einem hinterhältigen Ton das ölige Grün anbeizte, auffauchend hindurchschlug, mit einem heißen Schwall seine Gesichtshaut spannte, die Nadeln zu schwefligen Stäbchen versengte und nichts übrig ließ als aschengraues Gerippe, das im leisen Wind weiter zerglühte.

Gauch dachte an sein Bein. Dann schickte er den Mann zum Posten und umkreiste langsam den Ort der Tat.

Hinter den Holzbeigen hatte sich in den Karrenspuren grünes Wasser zu Tümpeln gesammelt. Gauch vergewisserte sich, dass er allein war, kauerte dann nieder und betrachtete sein Gesicht, das jetzt zwischen gezackten Wipfeln im grauen Himmel stand.

Wenn er mit dem Absatz stampfte, verwellte sich das Bild. Aus seinem Kopf wuchs ein Schnabel, er wurde ein Vogel mit langem Hals.

Gauch überließ sich dem kindlichen Spiel – dachte an Wärme und an Flaum und an helle Haut, über die lautlos feine Glieder einer goldenen Kette rieselten.

Albin Gauch liebte das Wasser, er liebte die Strudel an den Pfeilern und Wehren, er erlag seinem Rausch, gab sich ihm hin – das wuchtige Rollen mochte er, dieses Taubwerden, das Vergessen – wenn er sich verlor, hineintauchte, allmählich tumb wurde von den Vrillen, die sich formten und aus dem Drall heraus verschaumten, im selben Guss helles Glas wurden und träges Wasser wieder, das nichts verriet, nur weiterzog. Leise, fast ohne einen Laut.

Er erinnerte sich an den Mann am Ufer, der nichts besaß als die Steine, in denen er hauste, und den Wind. Und er dachte daran, dass er zuweilen wünschte, dieser Mann zu sein.

Indessen – Gauch täuschte sich; er war kein einfacher Mensch. Er hörte nichts als seine Schritte. Und er hasste die weichen Tannenzapfen, die wie tote Tiere waren, wenn er darauf trat – er hasste es, nicht mehr gesund zu sein, er trauerte dem Federnden seines Ganges nach; es gab nicht viel, was ihn freute, und dass er Leute fing für einen Staat, der ihn selber gefangen hielt, war ihm nur noch halb geheuer.

Von den Bäumen tropfte Wasser.

Gauch ließ die Toten allein und suchte nach einem Weg zum Hof.

Er war über einen alten Holzpfad wieder aus dem Wald gekommen; südwärts war es heller geworden. Der Föhnwind war eingefallen und ließ tauend den Schnee schmelzen – das Gebirg stand in einem blauen Fenster. Vom Tal her zog in geradem Flug ein Vogelschwarm, teilte sich unvermittelt in zwei Staffeln, die sich in entgegengesetzter Richtung voneinander entfernten, einen Herzschlag lang torkelnd in schwarz kollernde Flocken zerfielen, sich dann aber plötzlich strafften, kehrt machten und auf zwei Ebenen pendelnd durcheinander glitten, um sich wieder zu einem Geschwader zu vereinen, in schnellem, aber ruhigem Kurs gemeinsam zu peilen.

Das letzte Wegstück, das von der Zufahrtsstraße über ein Feld zum Gehöft führte, war flach, erinnerte mit seinen beschnittenen Krüppelbirken an eine verkommene Allee.

Gauch blickte zu den Wipfeln ins Gewölk, verlangsamte seinen Gang, ließ nun den grauen Himmel vor seinen Augen vorbeigleiten wie ein endlos tiefes Wasser; seine Beine wuchsen ins Leere, er ging nicht mehr, er stieß sich ab, bis er in einer Schwebe blieb fast ohne ein richtiges Gewicht und ihn eine Übelkeit zurückholte in die Wirklichkeit seines Tages.

Das Bauernhaus war verlassen.

Die abgewitterte Eingangstür mit den geschnitzten Eichenzöpfen und der kleine rückwärtige Zugang waren auf Anordnung der Amtsschreiberei bereits versiegelt worden, nur der Keller war noch offen. Gauch öffnete die blecherne Luke und stieg die ausgetretene Sandsteintreppe hinab. Erdgeruch schlug ihm entgegen. Er wartete, bis seine Augen sahen. Dann ging er langsam durch die lichtlosen Räume. In ausgeschlagenen Kisten lag die Frühjahrssaat bereit, an einem morschen Brett vermoderte ein Kaninchenbalg, rostige Schermausfallen lagen – mit Draht zu einem Ring gebunden – auf einem leeren Fass. In einer Ecke lehnte eine Vogelscheuche, sie trug die blaue Uniform der Dragoner, an den Tressen hatte sich Grünspan angesetzt, vom Tschako, der auf einem ausgestopften Strumpfsack saß, blätterte der Glanz, der rote Zottel lag abgerissen zwischen verstaubten Einmachgläsern im Lehm. Gauch wollte sich nach dem kleinen Knäuel bücken, als ein Schatten das Kellerloch verdunkelte. Zwei Hosenbeine, die mit Schnüren zugebunden waren, gingen mit schlurfendem Geräusch vorbei. Gauch richtete sich auf und stieg wieder ans Licht. Dann ging er durch die Buchswege des eingefriedeten Gartens zur Scheune.

Auf halbem Weg blieb er stehen.

Die Pferde hatten ihn entdeckt und die Köpfe nach dem Fremden gewendet; sie grasten nicht mehr weiter, standen reglos und spielten nur mit den Ohren.

Gauch wollte die Tiere täuschen. Er schlug einen Bogen, dann trat er durch den Obstgarten auf die Hinterseite des Gebäudes zu.

Das Vieh, welches schon zu brüllen begonnen hatte, war inzwischen versorgt worden, die Halbtüren zu den Ställen standen angelehnt, auf dem Stock dampfte in einer Ecke frischer Mist.

Der Hof war schon seit längerer Zeit offensichtlich nicht mehr richtig unterhalten worden, an der Südwand der Tenne hatte der Regen durch das rinnende Dach die Tresterstöcke durchweicht, zerfledderte Hühner saßen auf einem vermoosten Wagenrad, das neben seinem Reifen mitten auf dem gestampften Lehmplatz lag, eine rostige Hundekette lief ins Leere.

Gauch betrachtete lange das weiß gekalkte Mauerwerk, wo das Riemenzeug für die Pferde an eingemauerten Haken hing. Die hohe Türe war weit geöffnet. Er dachte an den Geruch des Dunkels, an die schlimme Ahnung, die ausgeht von verlassenen Ställen.

Im kleinen Anbau beim Einfahr entdeckte Gauch den blöden Knecht. Er kniete im Hackholz vor einer verrosteten Marderfalle. Mit Fäustlingen aus Sacktuch hielt er einen hölzernen Löffel, auf dem er unendlich langsam ein Hühnerei balancierte und es mit schier beängstigender Geduld ins vergitterte Gehäuse auf die Köderplatte zu bringen versuchte. Sooft er die Falle richten wollte, rollte es fort – er blieb unbeirrt, brachte es immer und immer wieder auf seine Kelle und versuchte von Neuem das Unmögliche.

Endlich stand das Ei, der taube Mensch grinste, dann steckte er den Löffel ins geifernde Maul, ließ sich auf alle Viere, stocherte mit dem Stiel durch die Maschen des Drahtes und betupfte den Köder. Die Türen fielen, die Riegel der Sicherung sperrten sie zu, der irre Mann brüllte auf, winselte und tat einen gellenden Schrei, dann raste er gegen den beschlagenen Rahmen, scharrte mit Händen und Füßen, dass Borken und Rinden flogen, grub seine Zähne fletschend in die eisernen Maschen, warf immer wieder den Kopf nach hinten und riss dabei die schwere Falle mit, endlich wurde er ruhiger, still, lag nun bäuchlings, hob langsam die Hände und richtete die Kelle als Flinte auf seinen geschorenen Schädel, bäumte sich ein letztes Mal auf, ein Zittern lief über seinen Leib bis hin zu den klotzigen Schuhen, dann sackte er in sich zusammen und blieb – aus dem stoppligen Maul bräunlich schäumend – reglos liegen.

Es dauerte lange, bis er wieder auf die Beine kam. Noch immer benommen stand er eine ganze Weile starrend im Verschlag, spuckte, bückte sich nach dem Hut, dessen Krempe ringsherum mit einem Messer grob abgeschnitten war, und ging mit seinem halb watenden Gang weiter zur Säge.

Die schwere Maschine stand – in aufgetrennte Mehlsäcke gemummt – in einem Wall von Sägemehl. Der Stumme löste mit gekonntem Rucken die Schlingen der Verschnürung, faltete mit umständlicher Sorgfalt die groben Tücher und legte sie mit den ineinander gedrehten Stricken in einen Bottich, der neben dem Holz auf einem vernagelten Kirchenschemel stand.

Nun löste er das Gussgewicht vom Wagen, schob diesen zurück und fettete mit einem Schweinenabel die Zähne, hängte den Klöppel wieder an seinen Haken und startete den Antrieb.

Der Riemen lief langsam an, beschleunigte seinen Lauf, geriet mit klatschendem Geräusch in eine schlingernde Bewegung und drehte jetzt das schwirrende Blatt. Der Knecht, der am alten Most schon ein Stück weit erblindet war, stakte durch den stiebenden Ring zur Beige und kehrte mit einer eichenen Spälte zurück zur Maschine. Langsam schob er den Wagen.

Gauch stand gelähmt, wartete auf das Kreischen, sah, wie sich die schlecht geschränkten Zähne rauchend durch beinhartes Astholz quälten, ein brandiger Harzgeruch wehte zu ihm herüber, unter dem Tisch bildete sich aus den Spänen eine frische Düne, der knochige Kopf des Mannes überzog sich mit einem hellen Staub; er stand nun sperrbeinig mit verbissenem Maul, stemmte sich, durch die Unwucht der Welle von einem leisen Rütteln erfasst, mit aller Kraft dicht an das heulende Metall – endlich wurde der Ton wieder höher, der Riemen klatschte schneller, die Hälften kollerten zu Boden, das befreite Blatt teilte wieder grell singend die Luft.

Gauch hatte sich längst abgewandt und war übers Land geflohen. Als er schon auf der Höhe stand, verfolgte ihn noch immer dieses erwürgte Gellen, das an den Hügeln gebrochen unendlich langsam über das Tal verschallte.

Im Acker, der sich über die Kuppe zog, saßen Raben und gruben nach der Saat. Wenn Gauch sich ihnen näherte, flüchteten sie nicht, hüpften bloß auf beiden Füßen zwei, drei Schritte vorwärts und beäugten ihn weiter; erst als er klatschte und sie fauchend verscheuchte, flogen sie auf, hängten sich einen Augenblick drohend über seinen Kopf, er vernahm das Flattern, spürte am Nacken, wie ihre Flügel die Luft schlugen, er sah die großen Vögel wie zum Spott eine Schleife ziehen und sich dann wieder niederlassen am selben Ort.

Zum Seezopf, wo die Fecker seit Jahrzehnten eines ihrer Lager hatten, war es eine gute Stunde Wegs. Gauch hielt durch ein abschüssiges Tobel gerade auf die Ebene zu. Die Geländekerbe, in der vor Zeiten Mergel gewonnen worden war, bekam wenig Licht und diente des lehmigen Grundes wegen zum Seilen von geschlagenem Holz. Überall war ein nässendes Grün, die Bäume, die in der steten Feuchtigkeit dahin-moderten, erstickten unter Schwämmen und Flechtenbärten.

Gauch versuchte, auf den Rändern des Hohlwegs zu bleiben, wenn das Kraut überhandnahm, blieb ihm indes nichts anderes übrig, als durch den schweren Schlick zu gehen.

Dabei dachte er an die Zigeuner. Er sah einen Fahrenden mit breitem Gesicht und verwachsenem Bein, das er hinter sich herschleppte, wenn er vor die Häuser kam, um dem argwöhnischen Bauernvolk in einem gehetzten Deutsch Schirme und Scheren zum Flicken und Schleifen abzunötigen. Und er zog mit diesen fremden Menschen durch ihr fremdes Land – er lag auf dem Boden ihres Wagens, ließ das Stoßen der harten Federn durch seinen Körper fahren, atmete mit dem Kopf zwischen den flirrenden Rädern Staub und Pferdegeruch und rollte die hellen Bänder der Straßen hinter seinen Augen auf.

Das Ried, über dem fern ein Faden hing aus schwarzem Rauch, lag weitab von jeder Behausung. Gauch zog den Hut ins Gesicht, benützte ihn als Bug und teilte vornübergeneigt das Schilf mit seinen Schultern.

Auf der kalten Erde, vom Wind geschützt, war der Schnee weit in den Morgen hinein liegen geblieben und verdeckte das ölige Wasser. Stand Gauch still, war unter den Füßen ein Wanken, ein Beben, von dem er nicht wusste, ob es vom Boden kam oder aus seinem Innern. Er erschrak, drängte vorwärts, wusste längst nicht mehr, wo er war, er fühlte sich gefangen, wollte flüchten vor diesem trockenen Rauschen, das bald ein Klirren wurde, er ging – immer schneller nun – mit geschlossenen Augen, schnitt sich blind hastend am scharfen Röhricht, wollte nur heraus aus dem irren Verlies.

Als er endlich auf die kleine Sandbank trat mit der Tränke, fand er den Platz verlassen. Das Feuer war erst vor kurzem erloschen, die Kiesel in der Asche noch warm wie bebrütete Vogeleier. Durch den feuchten Sand liefen die Gleise von eisernen Reifen und verloren sich.

Der Wind hatte mittlerweile nachgelassen, nichts bewegte sich, nur zwei, drei der frühen Schwalben holten Wasser aus dem See, ritzten im Flug mit einem kurzen Strich die glasige Oberfläche.

Gauch suchte am Ufer nach einem flachen Stein und ließ ihn aufhüpfend übers Wasser schiefern. Als er versunken war, schaute er zurück gegen den Berg. Dann machte er sich auf und folgte den Spuren der Wagen.

Weit waren die Zigeuner nicht gezogen; vom Landvolk gewiesen, fand er sie am späteren Morgen alsbald im Spitzholz, ihrem nächsten Lagerplatz gleich nach dem Fluss, der in leichtem Bogen das flache Land durchzog und die Grenze zum Freienamt bildete, wo man ihr Dasein – so wollten es die Gesetze – bis zum nächsten Leermond wohl oder übel erdulden musste, bevor der Büttel der Gemeinde sie wieder von der kleinen Allmend vertreiben durfte.

Ihre Gefährte standen abseits der Fahrstraße auf einem etwas geschützten Feld im Schachen. Überall hatten die Mäuse ihre Haufen geworfen, an den Gräben mit den struppigen Köpfen der Weidenstrünke, die das Landstück im Schatten schnitten, bildete der Vorabendschnee, von der Nachtkühle vor dem Schmelzen bewahrt und um diese Zeit von einem ungewohnten Sonnenlicht erhellt, samtig gesäumte Biesen.

Gauch näherte sich im Schutz des Gehölzes dem Lager und blickte zwischen aufgehängter Wäsche in das Rondell der Wagenburg, die sich mit ihren runden verwaschenen Planenverdecken wie eine fette Raupe in einem halben Kreise um die Lichtung zog.

Eines der grasenden Pferde, die aus Hanf geflochtene Halfter trugen, äugte argwöhnisch vom eingezäunten Weidstück, ein schmutziges Kind spielte auf einer Wagentreppe sich reckend mit Scheren, die am brusthohen Hinterrad an einem Drahtring aufgehängt baumelten. Ein brauner Knabe, schwarzsträhnig und mit zugeknotetem Leinenhemd, ließ in der Mitte des Platzes einen jungen Hengst an der Longe kreisen; das falbe Tier, das noch wenig erzogen war, tat allerhand Sprünge und ließ sich unvermittelt auf die Seite fallen, wälzte sich über den Rücken rollend und mit den Beinen schlagend über das frühlingsfrische Gras zwischen nassem Laub, bis es schmutzig geworden war und der Alte, der mit einer Kette aus Gänseblümchen spielend lange zugesehen hatte, mit einem energischen Pfiff dazwischenfuhr.

Auf einer Matte, vor einem ungarischen Gehänge, das über eine Doppeldeichsel ausgebreitet trocknete, lag eine Frau in bunten Tüchern, auf ihrem Bauch ein halbnacktes Kind, dem sie die Brust zum Saugen gab, eine zerfurchte Alte mit dicken Schürzen blies in die Glut eines Samowars, zwei Männer kauerten vor einem Tiegel mit kochendem Guss, um den herum allerlei Geflügel Würmer aus dem Boden zerrte, andere in Hüten aus Leder oder Filz hockten rauchend im Kreis und flochten an Körben und Stühlen.

Gauch ließ die Leute machen und ging einem Graben entlang langsam zum Fluss. Mit der wärmenden Sonne im Rücken stand er zwischen spätem Huflattich auf einer sandigen Bank und schaute lange ins Wasser, bis er durch die aushallenden Hammerschläge des Kaltschmieds kaum vernehmbar das Stimmen einer Geige vernahm. Er ging den Tönen nach zurück zur Lichtung.

Hinter dem letzten Wagen entdeckte er die Kindfrau. Sie stand kaum zwei Armlängen von ihm entfernt, getrennt nur durch eine aufgehängte Häkeldecke aus dickem Garn, durch die er sie – trotz des verschatteten Lichts – wie ein Fechter durch seine Maske erkennen konnte; breitbeinig, das verbrauchte Instrument zwischen Kinn und Schulter, schaute sie, die Augen halb geschlossen, leer und nicht wirklich mit einem finsteren in sich gekehrten Blick und geigte, spielte. Etwas Unheimliches ging von ihr aus, wenn sie die Saiten strich, etwas, was Gauch in die Mitte traf; in den Tönen wuchs dieser junge Mensch in ein Erwachsensein, das ihm den Atem nahm und ihn verstörte. Gauch fror, ohne kalt zu haben, und stand wie berauscht. Das Zuhören war ein Schmerz, den er aber wollte, immerfort hingen seine Augen an diesen braunen Händen, die ihn bannten, an dieser Blöße, trotz des geschnürten Göllers. Als die junge Geigerin am Ende des Stücks, das ganz anders war als die schmierigen der Kneipenfiedler, in unbewegter Pose, den Bogen noch auf den Saiten, lange verweilte, bis der letzte Ton verklungen und auch das Holz unter dem Steg wieder vollkommen zur Ruhe gekommen war, wünschte Gauch nichts sehnlicher, als dass sie von neuem und immer weiter musiziere. Aber eine rauchdunkle Frauenstimme hatte streng nach ihr gerufen. Sie gab eine Antwort in einer Sprache, die er nicht verstand, nahm das Instrument vom Kinn, entspannte den schütteren Bogen und tat beides ohne Sorgfalt zurück in einen hölzernen Kasten, an dem der Griff fehlte und dessen spärlich verbliebene Belederung in Fetzen herunterhing, ließ alles auf der Wagentreppe liegen und stieg langsam hinauf in das Innere.

Später, nachdem Gauch lange ohne den Willen zum Gehen kaum zehn Schritte weiter auf einer Erhebung unentschieden gestanden hatte, sah er sie noch einmal mit freiem Auge im hellen Licht. Sie hatte einen Laut gehört und blieb ihm einen Atemzug lang zugewandt, dann drehte sie sich um und folgte der Witterung des Rauchs.

Die Geigerin war wieder ein großes Kind, der tote Blick war ihm geblieben und die tiefe Furche zwischen den pergamentenen Augen; es trug ein korallenfarbenes Tuch um den Kopf und jetzt auch am linken Ohr wieder ein Gehänge aus klimpernden Münzen, hatte, nachdem es mit einem Haselstock in pendelnden Bewegungen einen Weg ertastend langsam über den Platz gegangen war, sich eine Schürze umbinden lassen und saß bei der Alten, die nun über dem Feuer kochte, rittlings auf einem Sattelbock, die blinden Augen zur Sonne gewandt und die Hände in einem Becken mit jungem Löwenzahn, den es wusch – immer wieder auflachend, wenn die nassen Blätter widerspenstig an ihren Fingern mit den Ringen aus Rotgold hängen blieben.

Bevor Gauch einen Mörder gesehen hatte, schlugen die Hunde an.

Über den gleichen Weg, das Moor nun aber auf der Straße umgehend, hatte Gauch wieder die Höhe des Hügels gewonnen, unweit des letzten Gehölzes erkannte er im Licht der tiefen Sonne von weitem die flachen Dächer des Hofs.

Der Kahn war eingelaufen. Im leeren See trieben silbergrüne Schlieren.

Hinter der Waldung beim Tannbühl ragte etwas hell in den Himmel. Es war der Mastbau für die Nachrichtenfunkstation.

Das Holzskelett stand auf dem höchsten Punkt über dem Tal – drei der vier Pfeiler waren bereits aufgerichtet und miteinander verbunden, der letzte wurde eben auf dem noch eingeschalten Fundament aufgebaut. Auf der Zufahrt zum Bühl stand ein Konvoi von Gespannen, die auf tiefen Schemelwagen Bauholz zum Wendeplatz schleppten. Sobald ein Fuhrwerk hielt, wurden die schweren Sparren von einem Trupp auf Kommando des Poliers geschultert, und während ein solcher Tausendfüßler langsam über den Prügelweg zum Abbindplatz kroch, verkürzte der Karrer sein Gefährt zu einer kleinen Lafette, die er mit einer Kette band, führte die verschwitzten Pferde in einem Bogen zurück an der Kolonne vorbei, und die nächste Fuhre rückte nach. Die Zimmerleute hingen an leinenem Gurtzeug zwischen Himmel und Erde, warteten baumelnd auf die Verbindungsstücke, die, mit Flaschenzügen langsam gehievt, sich scheinbar gewichtlos in der Schräge drehten, bis die Männer sie zu sich heranzogen und mit den Bolzen aus den angehängten Werkzeugtaschen Stück für Stück zu einem hölzernen Gerüst verschraubten.

Unter fleckigen Planen lagen kupferne Kabel und Isolatoren aus braunem Porzellan, vom Zelt mit der Funkstation war eine Leitung bis zum Mast gelegt, ein Ingenieur, der über seiner weißen Schürze eine lederne Pilotenjacke trug, hastete mit einem Kopfhörer auf und ab und erteilte durch ein Sprachrohr plärrend Instruktionen.

Vom Waldrand aus sah Gauch Feierabend werden.

Die Schläge der Hämmer wurden seltener und verstummten. Die Männer seilten sich behände wie Spinnen wieder auf die Erde. Der Hügel wurde still.

Das Holzgerippe stand vor dem rötlich aufgehellten Himmel – ein schwarzes Wrack. Gauch träumte sich in seinen Bug.

Bevor die Sonne sank, machte er sich auf und ging durch das Unterholz zurück zum Schlag.

Die Vögel pfiffen sich in den Abend. Vom Tal stieg frischer Nebel.

Gauch war müde.

Er spürte seinen Bart.

Im Gehölz ahnte er jetzt die Dunkelheit; von den drei Feuern stiegen drei gleiche Bänder. Er atmete mit Gier den Rauch, das Wasser holte ihn, er sank in eine Finsternis.

Als er die Augen wieder öffnete, saß er auf einem nassen Stamm und fror. Durch seinen Schenkel sägte ein Schmerz. Unter den Decken lagen noch immer die verrenkten Scheuchen. Er hörte ein Geräusch und hob den Blick. Hinter den Leinen warteten die Sarger mit dem Gendarmen.

Die beiden Toten waren auf Geheiß des Amtsleichenbeschauers tags drauf den Särgen wieder entnommen und – nachdem man sie in einer Pferdeambulanz hingefahren hatte – in der Prosektur der Stadt gerichtsmedizinisch obduziert worden. Sie lagen nackt, das Kinnband lose um den Hals, auf den marmornen Tischen des Leichen- und Sektionshauses. Ihre Körper waren vom Leben verbraucht, die knotigen Hände rissig und braun wie ihre Äcker. Über die verformten Köpfe zogen sich, notdürftig mit schwarzem Zwirn vernäht, tiefe Fissuren, zwischen denen graue Häute des Hirns zu sehen waren, die noch aufgeschminkten Gesichter mit den leicht geöffneten Mündern zeigten erste Leichenflecken. Der rotbärtige Obduzent, ein Hüne von beträchtlichem Umfang, der eine wadenlange, schlecht gebügelte Gurtschürze trug, die ihn, zusammen mit der gefältelten Chirurgenhaube, wie die welke Glocke eines mannsgroßen Märzenbechers aussehen ließ, zitierte aus dem Bericht, während Gauch die verdorrten Geschlechter des hingestreckten Paars betrachtete und alsdann die Phrasen, die in mit Gold ausgelegtem Latein ringsum auf dem steinernen Zinnenfries über den kahlen Klinkerwänden eingehauen waren.

Den beiden Opfern seien Os frontale und paretiale in toto mehrfach scharf durchschlagen worden, dies mit teilweisem Verlust von Fragmenten der Calvaria, dazu dem Herrn Bauersmann der Os nasale und die Mandibula zertrümmert, seiner Frau Gemahlin, als sie wohl bereits am Boden gelegen habe, ein weiterer Hieb in den Os occipitale versetzt. Nicht eben wenig sei da zusammengekommen, wenn man bedenke, dass jede dieser Verletzungen am Neurocranium für sich allein genommen schon zum Exitus letalis führe; dies zufolge intracerebraler Blutungen, wie auch der Herr Kriminalist wohl verstehe.

Der Spalthammer, der – verklebt mit Blut und Haaren und versehen mit einer braunen Etikette – auf dem Rolltisch mit den Instrumenten lag, sei unzweifelhaft als Tatwaffe anzusehen, beim delinquenten Subjekt müsse man von einer mittelgroßen, normal kräftigen und in Anbetracht der Hiebrichtung mit großer Wahrscheinlichkeit linkshändigen Person ausgehen, die den Leuten möglicherweise bekannt gewesen sei, da Abwehrverletzungen weitgehend fehlten.

Eines zeige sich immer wieder, meinte er sodann, das krumme Holz Mensch sei zu mancherlei fähig, und so sehe es eben aus, wenn mehr als Butterblumen ermordet würden. Des Weiteren sei das Umbringen – bei aller Tragik – ein ubiquitäres Phänomen, und wenn man auch darüber staune, es gebe nicht wenige, die es gar als schöne Kunst betrachteten und besängen. Wie auch immer – nihil sine causa – unter all den Menschen, denen es schlechtgehe, gebe es halt nun einmal solche, die auf ihre Art vernommen, wenn auch nicht gesehen werden wollten, wenngleich die meisten ein Leben lang schwiegen. Gut möglich indessen, das wiederum sei in diesem Fall einzuräumen, dass ein aberranter Geist die Untat begangen habe, einer wie jener wirre und umnachtete Perückenmacher.

Gehauen oder gestochen sei aber am Ende einerlei, erwischt hätte es den Alten allemal, gewiss nicht, wie jeder zu sehen vermöge, in Folge eines Mors in coitu, aber – und er bleckte die Zähne – den Rest gegeben hätte ihm in Bälde sein Cancer scroti.

Von dannen zu gehen, fuhr er dann fort und schob Gauch mit dem Fuß einen stählernen Hocker zu, bedeute zweifelsohne etwas Tragisches, es sei aber hinlänglich bekannt, dass auf dieser Welt kein Bestand sei. Noch während des Redens hatte der Rechtsmediziner den beiden Toten Kappen aus Mull über die Köpfe gezogen und ihre Leiber mit karbolgetränkten Tüchern zugedeckt. Nur die knochigen, verschwielten Füße waren noch zu sehen, an deren rechter großer Zehe mit dünnem Messingdraht die Etikette befestigt war mit dem wenigen drauf, was von ihnen bis zum endgültigen Vergessen auf dieser Erde noch bleiben würde.

Dann griff sich der Obduzent die Blauband, die in der Instrumentenschale zwischen Wundhaken und Knochenzangen lag, zündete den Fidibus, nachdem er damit seinen Schmiss unter dem linken Auge gestreichelt hatte, an einem Bunsenbrenner an und hielt die Flamme an die Spitze, bis hinten ein dünner Rauchfaden aus dem Strohhalm stieg. Mit der dunklen Brissago im Mundwinkel band er die marmorierte Kartonmappe, in die er den unterschriebenen Bericht gelegt hatte, zu und gab sie Gauch in die Hand. Dann nahm er einen langen Zug, so dass die Glut hell aufleuchtete, ließ bläuliche Kringel aus seinem Karpfenmaul gegen die hohe Decke steigen und schaute ihnen eine Weile sinnend nach.

Die Seelen der Toten, denke er, so die Herren Theologen Recht hätten und es solche überhaupt gebe, würden sich wohl verhalten wie der Rauch, der für eine kurze Zeit nur noch Form und Struktur und damit das, was man Existenz nenne, bewahre. Dann wandte er den Blick auf die Spitzen seiner neuen Schuhe und schwieg.

Bevor Gauch die Stille nutzend in Erwägung ziehen konnte, den doctor medicinae scheinbar beiläufig und ohne tieferen Grund über die Gefährlichkeit von Thrombosen und Schlaganfällen auszufragen, hatte sich dieser schon längst mit einer verstörenden Bestimmtheit bei ihm untergehakt, ihn mit der Kraft einer eisernen Zwinge haltend vom Hocker aufgezogen und mit einem schwer deutbaren eisigen Lächeln Glück für die Ermittlungen wünschend durch den hinteren Ausgang in den kleinen Park geleitet, wo er ihm mit einem knappen Gruß den gekiesten Weg zurück zur Straße wies.

Als Gauch, nicht ohne Erleichterung, schon ein paar Schritte gegangen war, rief ihn der streng nach Chlor und Äther riechende Chirurgus noch einmal winkend zurück. Was nicht im Bericht stehe, er aber auf den ersten Blick wohl gesehen habe – auch die Bäuerin sei nicht mehr die Gesündeste gewesen. Adipositas cordis, er wies drei Mal nacheinander mit dem Halm der Blauband auf seine linke Brust, ein Fettherz halt – wie meistens beim Bauernstand vom vielen Eberfleisch.

Am Ende der Mauer, als Gauch für einen Augenblick stehen blieb, um einen letzten verstohlenen Blick zurückzuwerfen auf diesen beklemmenden Ort, sah er, wie der kolossale Pathologe einen Flachmann aus den Tiefen seines knittrigen Umhangs zog, ihn vor dem Öffnen nahe am Ohr prüfend schüttelte und dann an die wulstigen Lippen setzte, den Schraubdeckel und die Virginia in der rechten Hand und den Blick unbewegt auf der vom Regen grün vermoosten Inschrift im steinernen Giebeldreieck über seinem Kopf.

MORTUI VIVOS DOCENT.

Zu Leonidas waren die schwarzen Tannensärge auf zwei ungleichen Katafalken, deren einer beim benachbarten Pfarramt von Seeweiler hatte ausgeliehen werden müssen, im Chor der Zeller Dorf- und Bittkirche St. Marien nebeneinander aufgestellt worden.

Um der hiesigen Tradition nachleben zu können, hatte man die Gandbauern am Vortag für ein letztes Mal auf ihren Hof geführt und in einer unversiegelten, mit Efeu und Tannenreisig eiligst als Andachtsraum hergerichteten Vorratskammer für ein paar wenige Stunden im offenen Sarg aufgebahrt. Maskenhaft geschminkt und gepudert, die Mullkäppchen tarnend auf den zertrümmerten Köpfen und den Rosenkranz um die verknoteten Gichthände geschlungen, boten sie, vom wabernden Licht der Unschlittkerzen gespenstisch beleuchtet, für die betreten schauenden Besucher, die ihrer nachbarlichen Pflicht des letzten Grußes nachkamen, einen wenig erbauenden Anblick, so dass diese es als eine große Erleichterung empfanden, als kurz vor dem Eindunkeln die Deckel aufgesetzt und mit wuchtigen, weit über das Gehöft hinhallenden Hammerschlägen für immer vernagelt wurden.

Die Bauern des Sprengels, im Stall und auf den Schollen der weiten Äcker groß geworden und wenig gewohnt, Ansprachen zu lauschen, saßen räuspernd und gekrümmt auf den harten Kirchenbänken, während sie an die versäumten Feldarbeiten dachten und sich nach dem Rauch ihrer Stumpen und Tabakpfeifen sehnten, derweil auf der Frauenseite ihre Gattinnen, viele davon mit geröteten Augen, aufgewühlt wartend zur Türe der Sakristei blickten oder abwesend ins Missale auf die lateinischen Gebete starrten, die sie von Kind auf in der Kirche sprachen oder sangen, aber bis an ihr Lebensende nicht verstanden.

Unter dem scharrierten Kanzelbogen, über den sich gemalt die tröstenden Worte Seine Wundenmäler heileten uns zogen, saß, in seinen Sonntagsstaat gezwängt, der Knecht unruhig und mit gurgelnden Lauten maulend und flankiert von zwei dunkel gewandeten Männern, von denen der kräftigere eine halb geöffnete lederne Hebammentasche auf den Knien hielt, zwischen deren Schließbügeln er unter einem Gebetbuch die Hand mit der aufgezogenen Spritze versteckte.

Seit dem gewaltsamen Ableben des Bauernpaars hatte sich der Waisenvogt um das verlassene Geschöpf gekümmert. Man hatte den Mann, um ihn nach der Tat nicht noch mehr zu verwirren, den Tag danach und auch noch am nächsten Vormittag auf dem Gehöft seinen gewohnten Arbeiten nachgehen lassen und ihm warme Mahlzeiten in die Sattelkammer gebracht, wo er auf Pferdedecken nächtigen und seine Notdurft im Stall hatte verrichten müssen. Wegen seines allgemein bekannten Verhaltens lehnte der Verwalter die Aufnahme ins Ledigenheim des Amtshauptortes ab, und auch eine Anfrage beim Verein für Mäßigung & Volkswohl führte zu keinem Erfolg, weshalb der Knecht in Ermangelung einer anderen Möglichkeit zur Unterbringung zwischenzeitlich in die geschlossene Abteilung der Irren- und Heilanstalt für Gemütskranke Mater Domini eingeliefert und in der dortigen Webstube mit einfachen Handreichungen beschäftigt worden war.

Der Pfarrer, greis, in schwarzer Kasel und den Manipel wie einen steifen Wimpel am rudernden Arm, geißelte von der Kanzel aus die ruchlose Tat, sprach von den unerforschlichen Ratschlüssen des Höchsten und wähnte, indem er auf Gerechtigkeit und Sühne einer unendlich großen Schuld hoffte, die beiden Opfer auf dem Weg in eine neue und bessere Heimat.

Dann dankte er den Heimgegangenen für die unerschütterliche Treue zum Glauben und zur Kirche als alleiniger Besitzerin der göttlichen Wahrheit, für die Duldung einer unbedarften Kreatur unter ihrem Dach und – da ihnen die Gnade einer natürlichen Elternschaft versagt geblieben wäre – für das jahrelange selbstlose Aufnehmen und Aushalten unversorgter Kinder.

Zeitig vor der Wandlung, während hölzerne Kniebänke und arthrotische Beingelenke in stetem Wechsel gleicherweise leise knarrten und die Orgel nach kurzem Schnaufen zu einem Choral ansetzte, verließ Gauch seinen engen Platz neben Taglöhnern und Knechten, öffnete die Türe unter der Empore, trat schnell hinaus und ließ sie, bevor die Hintersten wegen des Luftzugs die Köpfe drehten, zusammen mit einer lauten Fermate von außen langsam ins Schloss gleiten. Unter dem Dach des Vorzeichens blieb er stehen und atmete, den Hut noch in der Hand, die kalte Luft des Morgens.

Auf dem Kirchplatz, nahe beim Nussbaum, stand der Leichenwagen. Das Pferd trug eine bis zu den gewichsten Hufen reichende schwarze Decke, die nur gerade die Nüstern freiließ und die Augen, in denen, wenn es den Kopf verwarf, ein Porzellanweiß drohend aufblitzte. Der große Rappe, der das lange Stehen in solcher Verkleidung offensichtlich nicht gewohnt war, scharrte unruhig mit dem Vorderhuf über das Kopfsteinpflaster und schlug mit seinem Eisen Funken. Derweil sprach der Fuhrmann dem Tier, das langes Nüsternhaar und einen bodenlangen Schweif hatte, beruhigend zu und tätschelte ihm unter der Decke die Ganasche.

Gauch trat näher.

Er sei froh, meinte der schlecht rasierte Mann, der eines Klumpfußes wegen zwei ungleiche Schuhe trug, dass sie nicht jedes Mal zu zweit sterben würden, es hätte ihn und den Wagner viel Zeit und Mühe gekostet, im Spritzenhaus den Wagen so herzurichten, dass beide Särge gleichzeitig auf der schmalen Brücke Platz gefunden hätten. Für den nicht seltenen Fall, dass Mutter und Kind bei der Geburt den Tod finden würden, sei die Karosse seit jeher eingerichtet, so dass es einfach sei, den kleinen weißen und den großen schwarzen Sarg in die dafür vorgesehenen Aufnahmen zu stellen, die ein Verrutschen oder gar Herunterfallen verhindern würden. Aber solches gehöre nun einmal zu seinem Handwerk – denn wie einer auch zu ihm gestanden habe, wenn sie einmal kalt seien, müssten sie alle wohl oder übel mit ihm das letzte Fährtlein machen; solche, um die es ihm leidtue, aber auch jene, die ihn als landlosen Wegmacher ihr ganzes Leben lang kaum gegrüßt und nie ernst genommen hätten.

Bajass

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