Читать книгу Die Industrialisierung in Deutschland - Flurin Condrau - Страница 8

I. Einleitung

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Begriff der industriellen Revolution

Der Begriff der „industriellen Revolution“ bezeichnet jenen fundamentalen Transformationsprozess, der die vormoderne Gesellschaft der frühen Neuzeit in die industrielle Gesellschaft der neuen und neuesten Zeit überführte. Aber wer glaubt noch an die „industrielle Revolution“? – Diese in den letzten Jahren immer häufiger zu hörende, relativierende Frage wäre für zeitgenössische Beobachter des komplexen wirtschaftlichen und sozialen Wandels undenkbar gewesen. Wenig andere historische Fragen stellen sich vor dem Hintergrund eines so breiten Konsens der Zeitgenossen. Damals überboten sich die Beobachter gegenseitig mit euphorischen oder apokalyptischen Beschreibungen und Weissagungen für die Zukunft, aber alle waren sich einig über den revolutionären Charakter der Industrialisierung. Seit den 1970er Jahren ist dieser Konsens brüchig geworden. In dem Maße wie die industrielle Gesellschaft selbst in die Krise geraten ist und Deutschland möglicherweise in eine postindustrielle Phase trat, wurde auch die Industrialisierung historisiert. Statt als entscheidende Stufe auf dem Weg zur modernen Gesellschaft, begann Industrialisierung zur Vorstufe einer Welt zu werden, die zunehmend nicht mehr der unseren entspricht. Einige der früher angenommenen Entwicklungspfade des wirtschaftlichen Wachstums haben sich als ungenau erwiesen. Neben das Konzept der Revolution trat jenes der Evolution, eines langsamen, chronologisch schwer zu fassenden Wandels, der viel zu langsam und uneinheitlich stattfand, um ihn mit dem Begriff der Revolution zu adeln (12, III, S. 237 – 304).

Datierung der Industrialisierung

In der Tat bringt das Reden über die industrielle Revolution eine ganze Menge „Gepäck“ mit sich. Der moderne Revolutionsbegriff meint bekanntlich seit der Französischen Revolution eine Kombination aus politischem Aufstand und langfristigem Strukturwandel (12, V, S. 653f.). Revolutionen der politischen Geschichte haben den für Historiker überaus praktischen Vorteil, dass sie typischerweise datierbar sind. Sie enthalten Elemente der Überraschung, des dramatischen wie auch kurzfristigen Wandels und implizieren auch ein gewisses Maß an Irreversibilität. Das führt bezogen auf die Industrialisierung zu direkten Fragen nach dem genauen Zeitpunkt oder der Zeitdauer des Wandels, um den revolutionären Charakter der Industrialisierung zu überprüfen. Ihr Beginn lässt sich in Deutschland grob etwa auf 1840 datieren. Aber schon eine solche Datierung macht die Bestimmung der Vorperiode als Früh- oder Protoindustrialisierung notwendig, was ein Ausdruck dafür ist, dass es historisch unmöglich ist, einen genauen Zeitpunkt des Beginns der „wirklichen“ Industrialisierung festzulegen. Die meisten Versuche zur genauen Datierung dienen der griffigen chronologischen Einteilung mehr als der präzisen Grenzziehung (30, S. 15 – 17). Das Erkenntnisinteresse des Historikers entscheidet darüber, ob 50, 100 oder 250 Jahre noch als rascher Wandel oder gar kurzer Zeitraum aufgefasst werden. Einmal ist es viel, ein andermal ist es eben wenig, je nachdem welche Fragestellung man verfolgt. Aber den revolutionären Charakter des Wandels zu diskutieren, heißt auch, intentionales Handeln der beteiligten Gruppen zu unterstellen. Ebenso wie Revolutionen Monarchien stürzen, muss auch der Bau der Eisenbahn als Revolution verstanden werden, wenn sie als Bestandteil einer industriellen Revolution gelten soll.

Revolution oder Evolution?

Die Kontroverse darüber, ob „Revolution“ oder „Evolution“ die treffendere Bezeichnung für die Industrialisierung ist, ist vorrangig im angelsächsischen Sprachraum geführt worden (45, S. 1 – 30). Deutsche Historiker haben den Begriff der industriellen Revolution oft vermieden, ohne ihn explizit abzulehnen (8). In der Regel sind zwar deutsche Geschichtswissenschaftler nicht scheu, mit harten Bandagen für ihre Interpretation der Vergangenheit zu kämpfen, aber diese Kontroverse ist hier zu Lande nie richtig ausgebrochen. Was soll denn schon revolutionär sein an einer Entwicklung, die Deutschland mit rund 70 Jahren Verspätung gegenüber England erfasste? Aber wenn sich der Begriff der industriellen Revolution bewähren soll, muss er auch auf Deutschland zutreffen, wo der Wandel ja keinesfalls weniger umfassend war, aber doch für die Zeitgenossen nicht ganz so überraschend kam. Aus historiographischer Sicht kann man in der vermeintlichen Schwäche des deutschen Beispiels allerdings auch eine Stärke sehen. Die Analyse des beobachtbaren Wandels wird klarer, weil die Zeitgenossen schon in etwa wussten, was kommen würde. Deutsche Industrialisierung studieren heißt demnach aber immer, die internationale Industrialisierung mit zu denken. Ohne englische Geschichte lässt sich die deutsche Industrialisierung eben einfach nicht verstehen. Das ging den Zeitgenossen übrigens genauso, die das Überspringen der industriellen Revolution von England auf den Kontinent beziehungsweise nach Deutschland als Problemstellung klar erkannten (75, I, S. 347 – 352). Dabei ist auch auf die neueren Ansätze der Beziehungsgeschichte zu verweisen, die vor allem den Transfer von Wissen und kultureller Praxis systematisch untersuchen (35). Manchmal ergeben sich einfach aus der englischen Wirtschaftsgeschichte bestimmte Fragen, die im Unterschied zur Frage nach Revolution/Evolution für Deutschland von entscheidender Bedeutung sind. So gesehen ist die „nachgeholte Industrialisierung“, wie sie Alexander Gerschenkron für Deutschland beschrieben hat, für den Historiker ein Glücksfall, denn sie erleichtert und differenziert seine Arbeit (25).

Historiographie der deutschen Industrialisierung

Die Geschichte der deutschen Industrialisierung und der industriellen Welt in einem kompakten Band darlegen zu wollen, ist ein vermessenes Unterfangen. Selbst wenn man sich auf die wichtigeren Themen und die dazugehörige Historiographie beschränken möchte, bleibt die Aufgabe für einen Band und einen Autoren nahezu unlösbar. Zu vielfältig ist die Liste der möglichen Themen, zu voluminös der Forschungsstand und zu anspruchsvoll die Forderung, den Überblick über die Epoche mit detaillierter Spezialkenntnis zu verbinden. Schon Hermann Aubins und Wolfgang Zorns Handbuch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte war ein voluminöses Werk, das für Generationen von Historikern der Ausgangspunkt ihrer weiteren Forschung war (2). Auch wer einen der bisher erschienenen Bände des monumentalen Handbuch zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands von Friedrich-Wilhelm Henning zur Hand nimmt, wird rasch erkennen, dass Lehrende, Studierende, aber auch die Autoren solcher Handbücher gleichermaßen unter der Last der Vergangenheit, hier absolut wörtlich gemeint, zu leiden haben (31). Ähnliches gäbe es von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte zu sagen, die im Unterschied zu Henning auch noch den Versuch wagt, die rund 4000 Seiten deutscher Geschichte seit 1750 unter eine integrierende Theorie zu stellen (75). Dies kann und soll der vorliegende Band nicht leisten. Aber selbst wenn man die vorliegenden Einführungen in die Geschichte der Industrialisierung zu Rate zieht, wird schnell klar, dass es sich um ein ungeheures Arbeitsfeld handelt.

Einführende Darstellungen

Diese verschiedenen einführenden Darstellungen haben jeweils ihre unterschiedlichen Stärken und Schwerpunkte. Im Interesse der sich anschließenden Diskussion von Forschungskontroversen sei an dieser Stelle kurz auf die einzelnen Bände eingegangen. Hennings bekannte UTB-Bände zur Industrialisierung sind sicherlich ein Spezialfall der historischen Literatur. Sie sind jedem interessierten Leser als komprimierte Darstellung der wichtigsten Daten ans Herz zu legen; den Anspruch, mehr als eine stichwortartige Zusammenfassung zu sein, haben sie indes nicht (30). Als Darstellung im eigentlichen Sinn sind sicher zunächst Christoph Buchheims einführende Bücher zu nennen. Sein Band Industrielle Revolutionen konzentriert sich auf die Analyse des langfristigen Wirtschaftswachstums und ist einer international vergleichenden Perspektive unter Einbezug aktueller entwicklungspolitischer Fragen verpflichtet (14). Die Einführung in die Wirtschaftsgeschichte ist das einzige Lehrbuch seiner Art, das sich allerdings im Wesentlichen auf eine knappe, jedoch auch recht abstrakte Grunddarstellung der industriellen Revolution konzentriert (13). Der von Jörg Fisch verfasste Band Europa zwischen Wachstum und Gleichheit ist ein eigenwilliges Produkt, enthält es doch 20 Länderstudien, vier Sachkapitel und einen ausführlichen Forschungsüberblick (20). Hubert Kiesewetters Studie besticht vor allem durch die Verbindung von detaillierter Übersicht über den sektoralen Strukturwandel mit seiner ausgewiesenen Expertise in politik- und regionalgeschichtlichen Aspekten der Industrialisierung (36). Den regionalen Schwerpunkt hat er auch in einer eigenständigen Darstellung vertieft und theoretisch gehaltvoll untermauert (37). Toni Pierenkempers Umstrittene Revolutionen schließlich verbindet die international vergleichende Perspektive mit einer an laufenden Forschungsfragen orientierten Darstellung, die wie Buchheims und Kiesewetters Bände von seinen eigenen Forschungsinteressen geleitet werden (50). Schließlich ist Hans-Werner Hahn die vielleicht kompletteste Darstellung der Industrialisierung gelungen, die eine ganze Palette von Forschungsproblemen in überzeugender Breite darstellt (26). Ferner liegen einige Sammelbände mit Einführungscharakter vor. Methodisch besonders gehaltvoll ist der Band von Gerold Ambrosius, Dietmar Petzina und Werner Plumpe mit dem Anspruch, eine Einführung für Historiker und Ökonomen zu sein (1). Der Jubiläumsband der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bietet zahlreiche einführende Aufsätze zu verschiedenen, für den vorliegenden Band einschlägigen Spezialgebieten (57). Auch der von Sheilagh Ogilvie und Richard Overy herausgegebene, englischsprachige Band zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist zu erwähnen, der hervorragende Analysen mit einer angelsächsischen Perspektive verbindet (46).

Der vorliegende Band unterscheidet sich von der in beachtlicher Zahl veröffentlichten Literatur durch seinen Schwerpunkt auf historiographisch bedeutsame Kontroversen und Themenbereiche. Dabei soll die Industrialisierung, verstanden als der allgemeine Prozess, der je nach Standpunkt als revolutionär bezeichnet wird, bewusst auch als breites Forschungsfeld bearbeitet werden, das über die Wirtschaftsgeschichte hinaus geht. In ihrem interdisziplinären Charakter ist die Industrialisierung innerhalb der deutschen Geschichte weitgehend einzigartig – und genau deshalb lohnt es sich, sie immer und immer wieder zu studieren. Dabei steht nicht die Vermittlung neuer historischer Grundkenntnisse, sondern die Darstellung verschiedener Konzepte und historiographischer Positionen im Vordergrund.

Industrialisierung als Globalisierung

Ganze historische (und sozialwissenschaftliche) Spezialdisziplinen haben sich in den letzten Jahrzehnten an der Industrialisierung und der daraus resultierenden industriellen Welt abgearbeitet; dabei mangelte es auch keineswegs an Kontroversen, weshalb der Platz in dieser Reihe zweifellos gerechtfertigt ist. Nutzen und Nachteil der Industrialisierung selbst wurden immer schon kontrovers diskutiert und von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen jeweils unterschiedlich bewertet. In den 1750er Jahren glaubten die englischen Handwerker nicht daran, dass Gutes aus dem Fabriksystem erwachsen könnte (65). Auch 2005 wird im Rahmen der Globalisierungsdebatte immer wieder Kritik an zahlreichen industriellen Prinzipien laut, etwa in Bezug auf die moderne Arbeitsteilung oder die Funktionsweise des Arbeitsmarktes. Überhaupt legen neuere Beiträge etwa von Knut Borchardt und Richard Tilly auch nahe, den Prozess der Industrialisierung als historische Vorläufer der Globalisierung zu verstehen (9; 70). Wann genau allerdings eine solche Globalisierung einsetzte, bleibt dabei nach wie vor ungeklärt (47).

Der Hinweis auf die Industrialisierung als Epoche birgt bereits gehörigen historiographischen Zündstoff. Anders als politikhistorische Epochenbegriffe wie das „zweite deutsche Kaiserreich“ oder der „Nationalsozialismus“ ergibt sich bereits aus dem Begriff „Industrialisierung“ beziehungsweise „industrielle Revolution“ sowie der Datierung eine schwierige und komplexe Diskussion, weil die Epochengrenzen sehr viel weniger klar sind, als das in der Politik- und Diplomatiegeschichte zumeist der Fall ist. Diese „Weichheit“ der Epochen bringt es mit sich, dass von Anfang an nicht von einem unbestrittenen Faktenbestand ausgegangen werden kann. Einem Ereignis wie etwa der „Machtergreifung“ Hitlers steht vielleicht ein Ereignis wie die erste Fahrt des „Adler“ genannten Zuges zwischen Nürnberg und Fürth 1835 gegenüber. Was aber im einen Fall eine weltgeschichtliche Zäsur darstellt, an deren Bedeutung nicht zu zweifeln ist, wird im anderen Fall zu einer kleinen Episode, die wenig geeignet ist, die deutsche Industrialisierung im 19. Jahrhundert auf den Punkt zu bringen. Der „Adler“ erhält wie manch anderer Aspekt der Geschichte der Industrialisierung seine Bedeutung erst in der ex-post-Perspektive nach dem Bau von Tausenden von Streckenkilometern.

Europäische Dimension der Industrialisierung

Das Schrifttum über die Industrialisierung hat mittlerweile ein enormes Volumen erreicht und harrt dringend einer international vergleichenden historiographischen Aufarbeitung. Der vorliegende Band konzentriert sich aber darauf, anhand ausgewählter Themenbereiche, einige zentrale Arbeitsfelder der Geschichte der Industrialisierung darzustellen. Nicht immer nimmt die wissenschaftliche Forschung dabei den Charakter einer offenen Forschungskontroverse an. Gelegentlich bleiben jedoch die Befunde höchst umstritten, wie etwa in der „Borchardt-Kontroverse“ um Zwangslagen und Handlungsspielräume der deutschen Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Der vorliegende Band strebt an, zu einer Erweiterung des Blicks in doppeltem Sinne beizutragen. Erstens: Die Industrialisierung ist bekanntlich keine deutsche „Erfindung“. Gerschenkron sprach von der nachgeholten Industrialisierung Deutschlands, womit er die im Vergleich zu Großbritannien verspätete Entwicklung meinte (25). Jede Analyse der Industrialisierung in Deutschland muss damit eine europäische Dimension aufweisen. Zweitens: Wie noch zu zeigen sein wird, steht die Industrialisierung als Forschungsthema disziplinengeschichtlich genau zwischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und war damit seit jeher methodisch aufwändig gehalten (72). Aus diesem Grund gehört es zum Selbstverständnis dieses Bandes, die methodischen Grundlagen der besprochenen Forschungsbeiträge ebenso intensiv zu diskutieren wie die empirischen Befunde selbst. Dabei stellt die Diskussion um quantitatives Arbeiten in der Geschichtswissenschaft sicherlich eine Leitlinie dar, die sich durch den Band zieht. Wenig schreckt Geschichtsstudenten gegenwärtig mehr ab, als die Anforderung, sich einigermaßen routiniert und statistisch korrekt mit Zahlenmaterial auseinander zu setzen. Das ist sicherlich kein deutsches, sondern ein internationales Problem. Aber entgegen der heute weit verbreiteten Annahme, dass früher oft quantifiziert wurde, sei an dieser Stelle festgehalten, dass quantitative Geschichte an Deutschlands historischen Seminaren, Instituten und Departments nie vollwertige Aufnahme in die historische Methodenlehre gefunden hat. Eine moderne und gleichzeitig für Historiker zugängliche Einführung in das quantitative Arbeiten stellt einen gravierenden Mangel in den deutschsprachigen Lehrbuchsammlungen dar (19; 33). Deshalb will der vorliegende Band immer wieder auf Daten- und Messprobleme hinweisen, um quantitative Quellen als eine Quellenart neben anderen zu berücksichtigen.

Was heißt Industrialisierung und Industrielle Welt?

Was aber meint „Industrialisierung“ und „Industrielle Welt“ als Titel? Der Begriff „Industrialisierung“ ist bekanntlich wie jeder historische Grundbegriff auf sehr unterschiedliche Weise definiert worden. Phyllis Deane bezeichnet „Industrialisierung“ als den wirtschaftlichen Prozess, der eine vorindustrielle, von niedriger Produktivität und Stagnation gekennzeichnete Gesellschaft in eine moderne Industriegesellschaft überführt, die von steigender Produktivität und Wirtschaftswachstum gekennzeichnet ist (17). Konkreter wird mit dem Begriff der Industrialisierung die Veränderung des Produktionsprozesses bezeichnet, indem sich eine maschinelle Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen durchsetzte. Bereits im Verlagswesen des frühneuzeitlichen Europas wurden gelegentlich Maschinen eingesetzt und in manchen Manufakturen der Frühindustrialisierung oder auch in größeren Zunftwerkstätten wurde auch schon arbeitsteilig gearbeitet.

Perspektiven der Industrialisierung

Der Begriff der Industrialisierung zielt hier aber auf eine gesamtgesellschaftliche Durchsetzung des Prinzips, meint also die Industrialisierung der Gesellschaft genauso wie die oft dramatischen Veränderungen der Produktionsprozesse. Aus währungs- und finanzgeschichtlicher Perspektive lässt sich die Industrialisierung auch als Durchsetzung moderner Investitionsinstrumente verstehen. Basierte das Verlagswesen noch auf einer dezentralen Produktionsstruktur, die der Verleger meist mit seinem privaten Vermögen betrieb, erforderte die Industrialisierung mit ihrer kapitalintensiven Produktionsweise den Aufbau moderner Banken und Börsen. Der gewaltige Kapitalbedarf des Eisenbahnbaus muss an dieser Stelle als Beispiel für den Veränderungsdruck im Finanzwesen genügen. Ein mehr technikhistorischer Begriff der Industrialisierung betont die Mechanisierung und Technisierung der Produktion etwa mit Hilfe der Dampfmaschine, die zu einer Schlüsselinnovation der Industrialisierung wird, weil es mit ihr erstmals in großem Stile gelingt, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Durch die Eisenbahn und andere Verkehrsmittel lassen sich schließlich sowohl entscheidende Nachfrageimpulse geben als auch die Transaktionskosten (zum Beispiel durch kostengünstigeren Güterverkehr) von Marktteilnehmern reduzieren. Schließlich lässt sich die Industrialisierung als Prozess verstehen, der die Nachfrage nach standardisierten, industriellen Massenprodukten entscheidend fördert. Diese Güter werden auf überregionalen Märkten gehandelt, wie insgesamt die Bedeutung von Faktor- und Gütermärkten im Zuge der Industrialisierung sprunghaft zunimmt. Die zentrale Bedeutung eben dieser Märkte für die Organisation der Gesellschaft wird mit dem treffenden Begriff der Ökonomisierung umschrieben (63).

Disziplinengeschichte

Die Disziplin der Sozial- und/oder Wirtschaftsgeschichte befindet sich wissenschaftspolitisch in der Defensive. International angesehene Professoren werden erimitiert, Lehrstühle gestrichen, Projekte abgebrochen und der wissenschaftliche Nachwuchs wendet sich anderen Dingen zu. Das gilt nicht etwa nur für Deutschland, sondern trifft auch auf die ehemals führenden wirtschaftshistorischen Standorte Großbritanniens oder der Vereinigten Staaten zu. Angesichts der in der öffentlichen Diskussion absolut dominanten Bedeutung der Wirtschaft verblüfft diese schrittweise Verdrängung ökonomischer Fragestellungen (oder Probleme) innerhalb der Geschichtswissenschaften. Wenn sich die Geschichtswissenschaften weiterhin an der Analyse der modernen Welt beteiligen wollen, können sie sich jedoch die – durchaus drohende – Marginalisierung der Wirtschaftsgeschichte buchstäblich nicht leisten. Dieser Band versteht sich deshalb auch als Versuch, durch die Vermittlung komplexer Methoden um Verständnis für ökonomische Zusammenhänge zu werben. Auf beiden Seiten muss gehandelt werden: Die Wirtschaftsgeschichte wird nicht umhin können, mehr zu ihrer Vermittlung zu leisten. Umgekehrt werden auch die verschiedenen Spezialdisziplinen der Geschichtswissenschaft in die Pflicht zu nehmen sein, sich mit vorhandenen Konzepten und der Verwendung von quantitativen Materialien ernsthaft auseinander zu setzen. Der tatsächliche Graben zwischen den Disziplinen ist sicher nicht unüberbrückbar (61).

Industrialisierung als Revolution?

Aber was war die Industrialisierung nun: Revolution oder langsamer Wandel? Die Frage wird seit langem diskutiert und wirkt mittlerweile etwas abgegriffen. Moderne Skepsis steht zeitgenössischer Euphorie gegenüber. In der Mitte des 19. Jahrhundert war es für Friedrich List ganz selbstverständlich von einer „industriellen Revolution“ zu sprechen, und seit Arnold Toynbees klassischen Vorlesungen zur industriellen Revolution bürgerte sich der Begriff als feststehende Epochenbezeichnung ein. Die Rede von Industrialisierung als Revolution hielt sich bis in die 1970er Jahre, als erste Kritik an dem Modell laut zu werden begann (26, S. 52). Mit der komplexer werdenden Forschungslage zur Geschichte der Industrialisierung musste ein relativ klarer und letztlich einfacher Begriff wie derjenige der Revolution problematisiert werden. Besonders unter dem Eindruck der Forschungen von Nicholas Crafts zu den Wachstumsraten der englischen Industrie kamen fundamentalere Zweifel am revolutionären Charakter des wirtschaftlichen Wandels auf. Crafts argumentiert, dass der Prozess der Industrialisierung schon im 17. Jahrhundert eingesetzt habe und deswegen langsamer verlaufen sei als bisher angenommen wurde (16). Auch der unbestreitbar massive Strukturwandel seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird nicht mehr nur der zunehmenden Bedeutung der Industrie zugewiesen.

Ende der großen Erzählung

Schließlich dürfte sich mit dem schleichenden Zerfall der „großen Erzählung“ in der Geschichtswissenschaft auch ein zu großem Zusammenhang neigender Begriff wie derjenige der industriellen Revolution weniger Beliebtheit erfreuen, zumal er sich – selbst wenn er eng verstanden wird – auf einen Zeitraum von fünfzig bis hundert Jahren zu beziehen hat. Große Epochenbegriffe gelten heute nicht mehr viel, gar zu sehr eignen sie sich zur Dekonstruktion. In der Tat wurde die industrielle Revolution sogar schon als Mythos, als Artefakt der Geschichtswissenschaft ohne Realitätsbezug bezeichnet (23).

Industrialisierung als Epoche

Die Bedeutung und Problematik der großen Epochenbegriffe für die Geschichtswissenschaft und die Vermittlung historischer Kenntnisse lässt sich hier nicht abschließend studieren. Für den Themenbereich dieses Bandes gilt jedoch, dass es nach wie vor zahlreiche Historiker gibt, die das Revolutionäre der Industrialisierung nicht preisgeben möchten. Sie betonen, dass Strukturwandel natürlich Zeit braucht, aber dass keine vorhergehende und auch keine seither folgende Epoche einen derartig weitgehenden sozio-ökonomischen Strukturwandel bedeutet hat. Dabei lässt sich über die Dauer, Veränderungsraten oder die Bedeutung des Revolutionsbegriffs trefflich streiten. Aber es möchte doch niemand ernstlich in Frage stellen, dass sich Deutschland beziehungsweise die verschiedenen Einzelstaaten auf dem Gebiet des späteren deutschen Reiches zwischen 1800 und 1900 eklatant verändert hat. Die industrielle Welt des 20. Jahrhunderts wird von Strukturelementen charakterisiert, die es vor 1800 ganz einfach nicht gab. Man braucht nur auf die Eisenbahn (und später das Automobil) oder die Märkte für industrielle Güter in vielen Bereichen des täglichen Lebens hinzuweisen, um diesen fundamentalen Wandel zu betonen (77). Ein zentrales Problem bei jeder Epocheneinteilung ist zweifellos die Distanz zwischen beurteilendem Historiker und der beurteilten Epoche. Das gilt besonders für die Industrialisierung, zumal aus heutiger Perspektive der Wandel nicht mehr so revolutionär erscheint angesichts mehrerer Generationen, die sich bereits im Alltag mit der industriellen Welt auseinander setzen konnten. Dabei handelt es sich hierbei um ein altes, der Geschichtswissenschaft schon seit dem 19. Jahrhundert bekanntes Problem. Ranke selbst und mit ihm der Historismus hielt bekanntlich die zeitliche Distanz zwischen Historiker und Untersuchungsgegenstand für hilfreich, ja sogar für notwendig, um dem Historiker einen vorurteilsfreien Blick auf die Geschichte zu ermöglichen. Im Fall der Industrialisierung dreht sich diese Perspektive allerdings um: Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, was die Eisenbahn, das Fabrikwesen und die Verlängerung der Lebenserwartung für die Zeitgenossen bedeuteten.

Gewöhnung an die industrielle Welt

Aus heutiger Sicht ist das vielleicht nicht mehr spektakulär; die Gewöhnung an die industrielle Welt sollte jedoch nicht zur Unterschätzung der historischen Dramatik verleiten. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man sich von der Nationalgeschichte löst und sich einer kleinräumigeren Perspektive verschreibt wie das Pat Hudson und Maxine Berg anhand der industriellen Revolution in England vorgeführt haben (5). Dann ist es nicht mehr so wichtig, ob die gesamtgesellschaftlichen Wachstumsraten wirklich revolutionär waren, solange die betroffenen Menschen den Strukturwandel als revolutionär perzipierten. Daran aber gibt es nun wirklich keinen Zweifel. Ob der revolutionäre Charakter der kritischen Prüfung der Geschichtswissenschaft standhält, wird jedoch sicherlich von der gewählten Perspektive und der genauen Forschungsfrage abhängen. Insofern braucht es an dieser Stelle keine Entscheidung für und wider die industrielle Revolution. Die in diesen einleitenden Fragen angedeuteten Grundprobleme können hier nicht endgültig entschieden werden. Aber es bleibt festzuhalten, dass die Wahl zwischen „Industrialisierung“ oder „Industrieller Revolution“ dazu dienen kann, die Kriterien historischen Arbeitens an der historischen Evidenz zu überprüfen und verschiedene Argumentationsmuster zu betrachten (41).

Industrialisierung als Durchsetzung des industriellen Prinzips in vielen oder gar allen Lebensbereichen bedeutet im engeren Sinn einen Strukturwandel der wirtschaftlichen Produktion. Alte Produktionsregime wie etwa das städtische Zunftwesen oder das ländliche Verlagswesen wurden von einer industriellen Produktionsweise abgelöst. Aus ökonomischer Sicht ermöglicht das Fabrikwesen erhebliche Produktivitätsvorteile gegenüber althergebrachten Herstellungsmethoden. Das hängt sicherlich mit der strikten Arbeitsteilung zusammen, welche die Produktion an einem zentralen Standort erleichtert. Eine Schlüsselrolle übernimmt dabei aber vor allem der technisch-wissenschaftliche Fortschritt, der entsprechend ökonomischer Modellierung die Produktionsfunktion verschiebt, was eine langfristig kostengünstigere und oftmals auch qualitativ höherwertige Herstellung von Investitions- oder Konsumgütern ermöglicht. Wenn damit zunächst die fundamentalen Veränderungen in der Produktion beschrieben werden können, so ist in einem nächsten Schritt sicherlich der Wandel der Arbeit zu bedenken. Das Ende der zünftigen Gewerbewirtschaft sowie die Krise des Verlagswesens führt zu einer Verlagerung der Arbeitsplätze aus relativ kleinräumigen, dezentralen Arbeitsstätten zum Fabrikarbeitsplatz. Einerseits fand diese Verlagerung durch rasches Wachstum des industriellen Sektors statt, der zunehmend in der Lage war, abwanderungswillige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft aufzunehmen. Andererseits setzte schon bald ein Konzentrationsprozess in der industriellen Betriebsstruktur ein, der bestehende Betriebe rasch wachsen ließ und auch über die noch nie da gewesene Konzerngröße zur Veränderung der Arbeitsstruktur beitrug. Diese Veränderung der Arbeit wirkte sich auch auf die einzelnen Arbeitsplätze aus: abhängige Lohnarbeit, die von Fabrikordnungen und den neu eingeführten Zeitmessverfahren strukturiert wird, löste die kleinräumige Selbst- oder wenigstens Mitorganisation der Arbeit im eigenen Haus oder im kleinen Zunftbetrieb zunehmend ab.

Anfangsphase der Industrialisierung

Diese ersten Veränderungen charakterisierten insbesondere die Anfangsphase der Industrialisierung in Deutschland bis circa 1870. Nach wie vor war die Landwirtschaft der zentrale Arbeitsbereich für die Mehrheit der Bevölkerung; es zeichnete sich aber bereits ab, dass der Industrialisierung die Zukunft gehören würde. Mit der Eisenbahn war zudem ein Leitsektor gefunden, dessen Bedeutung sich auch aus der symbolischen Kraft ihrer Transportleistung ergab. Seit langem hatte es schon überregionalen Handel mit und auch Konsumgüter aus vielen Ländern gegeben; aber mit der Eisenbahn gelang eine Verkleinerung der Welt in einer derart kurzen Zeitspanne, wie das vorher nicht für möglich gehalten wurde. Die Eisenbahn trug nicht nur zur Symbolwirkung der Industrialisierung bei, sie war auch als einzelne Industrie von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die Ökonomisierung der Gesellschaft wäre ohne Eisenbahnen oder wenigstens ohne modernes Transportsystem weniger rasch vorangekommen, deutsches Fähigkeitskapital in der Importsubstitution englischer Lokomotiven durch Maschinen deutscher Produktion sicher nicht schon in den 1850er Jahren abgeschlossen gewesen. Und für wen, wenn nicht für die Eisenbahn hätten Kohle- und Stahlindustrie produzieren wollen?

Hochindustrialisierung

Die zweite Phase der Industrialisierung setzte ungefähr mit Gründung des deutschen Kaiserreichs ein und ist unter dem Epochenbegriff „Hochindustrialisierung“ bekannt geworden. Die Industrialisierung wurde nun zunehmend als irreversibler Prozess verstanden.

Große Depression

Zwar erschütterte die Große Depression ab 1873 das Vertrauen in den modernen Kapitalismus; gleichwohl war es offensichtlich, dass ein Weg zurück zur alten Ständegesellschaft nicht mehr möglich war. Zu sehr hatten sich die sozio-ökonomischen Strukturen bereits gewandelt. Das Eisenbahnnetz war schon stark ausgebaut, die Transaktionskosten für den Handel sanken und immer mehr Arbeitskräfte waren in der rasch wachsenden Industrie beschäftigt. Die Industrialisierung hatte sich durchgesetzt, führte nun aber zu neuen Problemen. Insbesondere die soziale Organisation der Gesellschaft, die sich zunehmend zur Klassengesellschaft wandelte, beschäftigte nun die Zeitgenossen. Spätestens seit der bekannten Kaiserlichen Botschaft von 1878, die als Ergänzung des repressiven Sozialistengesetzes eine sozialpolitische Initiative ankündigte, wurde die sozialistische Bedrohung durch die erstarkende Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zum zentralen politischen Thema des Reiches. Es war nun nicht mehr die Frage, ob die Industrialisierung sich durchsetzen würde, sondern wie die Lasten des Prozesses gesellschaftlich angemessen verteilt werden konnten. Insgesamt verfolgte der Staat unter Bismarcks Führung seit der Großen Depression eine zunehmend protektionistische und staatsinterventionistische Politik, die der Wirtschaft insgesamt entgegen kam, wohl aber indirekt nach 1890 auch den Lebensstandard der Arbeiter moderat hob.

Krise der Sozial-und Wirtschaftsgeschichte

Mittlerweile studiert man seit wenigstens hundert Jahren die Geschichte der Industrialisierung, stellt Fragen nach ihrem revolutionären Charakter, untersucht den wirtschaftlichen Strukturwandel und weist auf die grundlegenden Veränderungen hin, die im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Deutschland und die westlichen Industrienationen erfassten. Warum eigentlich soll man diese Tradition fortsetzen? Ist nicht genug bekannt über die Prozesse und Strukturen, die dieser Band zu diskutieren sich vornimmt? Eine Antwort auf diese Frage ist in einigen disziplinengeschichtlichen Überlegungen zu finden. Was einst als Reformprojekt der politischen Geschichte abgerungen und unter dem Eindruck von 1968 als bisweilen sogar revolutionär „neue“ Geschichtsschreibung verstanden wurde, steht heute in der Krise. Manche Auguren rufen den Tod der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus. Es ist paradox: Je mehr die moderne Welt erkennt, dass Marx mit seinem Primat des Ökonomischen wohl Recht hatte, desto weniger interessiert scheinbar die Wirtschaftsgeschichte. Der 1993 an zwei Wirtschaftshistoriker, Robert Fogel und Douglass North, verliehene Nobelpreis wirkt manchmal eher wie eine posthum verliehene Ehrung denn als Fanal für eine Phase intensiver wissenschaftlicher Forschung. Die Kontroverse um das Wirken berühmter Nachkriegshistoriker wie Werner Conze oder Theodor Schieder im Nationalsozialismus brachte auch die Sozialgeschichte in Bedrängnis (60). Diese allgemeine Krise einer Spezialdisziplin hat aber sicherlich auch ganz andere Ursachen, die hier nicht alle diskutiert werden können. Sie gründet auf schwindenden Studentenzahlen in manchen historischen Spezialdisziplinen, verstärkt sich unter dem Spardruck nicht mehr zugewiesener Lehrstühle und basiert auch auf einer, allerdings schwer zu fassenden Fachdiskussion unter Historikern, ob Sozial- und/oder Wirtschaftsgeschichte angesichts der postmodernen Herausforderung noch zeitgemäß sei. Erfahrungsgeschichte hat die Strukturgeschichte stellenweise abgelöst, während die quantifizierende Wirtschaftsgeschichte zunehmend nur noch im Kontext der volkswirtschaftlichen Theoriediskussion stattfindet, da sich Historiker mehr für die Konstruktion der Daten als für ihren Aussagewert interessieren.

Dem Verhältnis von allgemeiner Geschichte zu den verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Spezialdisziplinen wie etwa der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wäre erst noch gesondert nachzuzeichnen (56). Aber die Geschichte der Industrialisierung und der industriellen Gesellschaft war und ist das Kernthema der Sozial- und/oder Wirtschaftsgeschichte. Insofern ist der Stand der Disziplin unmittelbar mit dem Erkenntnisinteresse der Geschichte der Industrialisierung verbunden. Wer für die Geschichte der Industrialisierung werben will, kommt um die Auseinandersetzung um Disziplinen und Perspektiven nicht umhin.

Sozialgeschichte als Strukturgeschichte

Mittlerweile schon etwas älter gewordene Überblicke über die Sozialgeschichte – verstanden als Teildisziplin – nennen typischerweise die strukturgeschichtlich arbeitenden Historiker um Conze und Schieder als die Gründer der modernen deutschen Sozialgeschichte (39; 54). Bereits ihnen war die systematische Kooperation mit anderen Disziplinen, allen voran der Wirtschaftsgeschichte, ein wichtiges Anliegen. Unter dem Einfluss von Hans Rosenberg und Gerhard A. Ritter formierte sich in den 1960er Jahren ein neuartiges Verständnis von Sozialgeschichte. Eine Kernforderung bestand nun im systematischen Bezug zu Theorieangeboten der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (59).

Bielefelder Schule

Das hat sich im Fall der Sozialgeschichte in zweierlei Richtungen konkretisiert: Die so genannte Bielefelder Schule der Sozialgeschichte verstand sich als historische Sozialwissenschaft, die den als überholt geltenden Historismus zu überwinden suchte. Ihre typischen Forschungsarbeiten beinhalteten fundierte theoretische Einleitungen, die unter regelmäßigem Rückgriff auf „Klassiker“ wie Max Weber dem Quellenstudium einen strukturierten Rahmen geben sollten. In ihren besten Arbeiten gelang es immer wieder, theoriegeleitete Überlegungen und traditionelle Quellenarbeit miteinander zu verbinden.

Historische Sozialforschung

Unter dem Begriff der historischen Sozialforschung firmierten demgegenüber einige Historiker, denen die „Bielefelder Schule“ zu wenig weit ging. Sie kritisierten den geringen Zusammenhang von Theorien und Quellen und forderten stattdessen, sozialwissenschaftliche Theorieansätze auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu bearbeiten, historisches Quellenmaterial demnach vor allem als Daten bei der Prüfung sozialwissenschaftlicher Theorien zu verwenden. Den wichtigsten Schwerpunkt dieser quantitativ aufwändigen Forschungstradition bildet die Zeitschrift Historical Social Research/Historische Sozialforschung, die im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft QUANTUM von Wilhelm Schröder, Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung der Universität Köln, herausgegeben wird.

Aber aus heutiger Sicht lässt sich unschwer erkennen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschsprachigen Historiker weiterhin in den Archiven saß und weiter an ihren Quellen arbeitete. Das Primat der Theorie wurde breit konzediert, aber im Grunde blieben die theoriegeleiteten Arbeiten doch immer eine Minderheit, wie Volker Berghahn zu Recht angemerkt hat (6, S. 459). Man wird hier in einer gewissen Innovationsresistenz der deutschsprachigen Geschichtsschreibung ebenso einen Grund für die Stagnation der modernen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erkennen wollen, wie in einem übertriebenen Anspruch, der zu einer Geringschätzung anderer Methoden und Zugangsweisen führte. Wehlers berühmte Formel der „Barfußhistoriker“ für die Vertreter der Alltagsgeschichte mag hier als Beispiel eines überzogenen Anspruchs dienen, der sich in der Sache als äußerst kontraproduktiv ausgewirkt hat (76).

Historische Schule der Nationalökonomie

In der Wirtschaftsgeschichte fand eine ähnliche Entwicklung statt. Seit der Jahrhundertwende hatte die „historische Schule“ um Werner Sombart und Max Weber die Nationalökonomie dominiert. Ihre Bücher suchten die Erklärung der modernen Wirtschaft in Griechenland, Rom oder China, boten historisch eloquente Analysen des Mittelalters oder studierten die Bedeutung der Protestantischen Ethik fürs moderne Wirtschaftsleben (64; 73). Noch heute lesen sich solche „Klassiker“ ganz hervorragend, war doch sprachlicher Stil ein Teil der wissenschaftlichen Rhetorik der Zeit. Aber damit wollte die New Economic History ein für alle Mal aufräumen.

New Economic History

Seit den 1950er Jahren kam aus den USA diese Bewegung, die statt gut geschriebener historischökonomischer Analysen nur noch – ganz unter dem Eindruck der wachsenden neo-klassischen Ökonomie – eine harte ökonomische Modellrechnung als gültige Methode zuließ (22). Aus heutiger Sicht wird man das Revolutionäre dieser Richtung nicht mehr recht würdigen können, aber die hohe Zeit der quantitativen Ökonomie fand vor der Verbreitung des PCs statt und stellte enorme methodische Anforderungen an die Wirtschaftshistoriker. Deutschland nahm an dieser Entwicklung zunächst nur wenig Teil; die deutsche Wirtschaftsgeschichte vermied zu jener Zeit den Anschluss an diese Richtung moderner, meist theoriegeleiteter, quantitativ orientierter Forschung mit stark volkswirtschaftlicher Ausrichtung (71; 58). Erst in letzter Zeit hat sich eine jüngere Generation von Historikern der systematischen, quantitativen Forschung verschrieben. Dieser allgemeine Perspektivenwechsel kann in zwei Denkrichtungen stattfinden: Zum einen vertreten ökonomisch geschulte Historiker die Ansicht, dass nur eine quantitativ-ökonomisch gestützte Wirtschaftsgeschichte konzeptionell auf der Höhe der Zeit sein kann (4, S. 639). Zum anderen bieten einige Wirtschaftshistoriker ihre empirisch vorliegenden Daten der aktuellen Theoriebildung zur Überprüfung ihrer Modelle an, was von Hoffmann als „retrospektive empirische Wirtschaftsforschung“ bezeichnet wurde (32).

Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften

Dem Fach Wirtschaftsgeschichte verhalf dies zu einer institutionellen Bindung an volkswirtschaftliche Fakultäten, ohne sich allerdings bei den Ökonomen dauerhaft einen Platz zu sichern (10). Aber die damit wachsende methodische Nähe zu den Wirtschafswissenschaften hatte ihren Preis, denn der Graben zwischen allgemeiner Geschichte mit ihren historischen Methoden und der zunehmend quantitativ-mathematischen Wirtschaftsgeschichte wurde und wird immer größer. Hans Pohl ging noch 1995 davon aus, dass das Interesse an Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Seiten der Geschichtswissenschaft sowie der Ökonomie weiter zunehmen würde (53). Unter Druck von Sparzwängen, aber auch unter dem Einfluss der immer spezialisierter wirkenden Theoriediskussion der Ökonomie scheint sich diese Voraussage aber nicht zu bewahrheiten. Die Nobelpreise für Fogel und North vermochten keine größere Leidenschaft der primär neoklassischen Ökonomie für Geschichte zu wecken, und bereits Mitte der 1990er Jahre war führenden Fachvertretern wie Pierenkemper oder Buchheim klar, dass Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als Fach vor einem schwer zu gewinnenden Abwehrkampf stand (15; 51). Auch von Seiten der Geschichtswissenschaft wird die wachsende Abwendung von wirtschaftshistorischen Fragestellungen zunehmend beklagt (38). Aber ein Neubeginn des Faches, eine inhaltliche Neuorientierung, die zwischen Ökonomie und Geschichte vermittelt, an die kultur- und erfahrungsgeschichtliche Wende der Geschichte ebenso anschließt wie an die komplexen theoriebasierten Überlegungen der modernen Ökonomie ist bei aller Kritik an der Übernahme der New Economic History bisher noch nicht gefunden worden (69; 49). Dabei spricht einiges dafür, dass sich Ökonomie und Geschichte gar nicht so fern sind und sogar ökonomische Theoriebildung unter Einschluss von historischen Überlegungen erfolgen könnte (61). Aber so bemüht und auch teilweise überzeugend die Integrationsversuche historisch arbeitender Wirtschaftswissenschaftler auch sein mögen, neoklassische Theoretiker sind laut Pierenkemper damit nicht zu überzeugen (52). Das Urteil über die neueren Ansätze zur modernen Institutionenökonomie steht noch aus. Wiewohl auf neoklassischer Ökonomie beruhend, hat sich besonders Clemens Wischermann um deren Integration in den Methodenkanon der Geschichtswissenschaft verdient gemacht (79; 78).

Die Industrialisierung in Deutschland

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