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IX

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Sie warteten auf ihn, und es war, als fehlte ihnen etwas; immer noch war er das ausschlaggebende Element; Fräulein Warren und der junge Italiener trugen ihre frohe Erwartung ebenso zur Schau wie Nicole. Der Salon des Hotels, ein Raum mit märchenhafter Akustik, war zum Tanzen ausgeräumt, doch befand sich darin eine kleine Galerie mit Engländerinnen einer gewissen Altersstufe, mit Halsbändern, gefärbten Haaren und rosagrau gepuderten Gesichtern, und mit Amerikanerinnen einer gewissen Altersstufe, mit schneeweißen Perücken, schwarzen Kleidern und kirschroten Lippen. Fräulein Warren und Marmora saßen an einem Ecktisch – Nicole vierzig Meter weit von ihnen entfernt am andern Ende des Raumes, und als Dick hereinkam, hörte er ihre Stimme:

»Können Sie mich hören? Ich spreche ganz natürlich.«

»Tadellos.«

»Hallo, Doktor Diver.«

»Was bedeutet das?«

»Denken Sie sich, die Leute in der Mitte der Tanzfläche können nicht hören, was ich sage, aber Sie können es.«

»Ein Kellner hat uns darauf aufmerksam gemacht«, sagte Fräulein Warren. »Man kann von einer Ecke zur anderen hören – es ist wie Rundfunk.«

Es war aufregend oben auf dem Berg, wie in einem Schiff auf See. Alsbald gesellten sich Marmoras Eltern zu ihnen. Sie behandelten die beiden Warrens mit Hochachtung – Dick schloß daraus, daß ihr Vermögen etwas mit einer Bank in Mailand zu tun hatte, die ihrerseits etwas mit dem Vermögen der Warrens zu tun hatte. Aber Baby Warren wollte mit Dick sprechen, wollte mit ihm sprechen aus dem Drang heraus, der sie allen neuen Männern unstet entgegentrieb, als befände sie sich auf einem straff gespannten Seil und zöge in Betracht, daß sie eigentlich so schnell wie möglich an sein Ende gelangen sollte.

»– Nicole hat mir erzählt, daß Sie sie mit betreut und eine Menge zu ihrer Genesung beigetragen haben. Was ich nicht begreife ist, was wir nun tun sollen – im Sanatorium haben sie sich so unklar ausgedrückt, sie haben mir nur gesagt, sie sollte natürlich und vergnügt sein. Ich wußte, daß die Familie Marmora hier ist, darum bat ich Tino, sich an der Drahtseilbahn mit uns zu treffen. Und man sieht, was dabei herauskommt – das erste ist, daß sie ihn am Wagen entlang von einem Abteil zum andern kriechen läßt, als wenn sie beide übergeschnappt wären –«

»Das war durchaus normal.« Dick lachte. »Ich halte es für ein gutes Zeichen. Sie haben sich voreinander großtun wollen.«

»Aber wie soll ich das wissen? Ehe ich es mich versah, fast vor meinen Augen, ließ sie sich in Zürich die Haare abschneiden, nach einem Bild in ›Vanity Fair‹.«

»Das ist ganz in Ordnung. Sie ist eine Schizoide – wird immer eine Exzentrikerin sein. Daran ist nichts zu ändern.«

»Was ist das?«

»Was ich Ihnen sagte – eine Exzentrikerin.«

»Ja, aber wie soll man wissen, was exzentrisch und was übergeschnappt ist?«

»Von Übergeschnapptheit ist keine Rede – Nicole ist neugeboren und glücklich. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Baby bewegte ihre Knie hin und her – sie war die Verkörperung all der unbefriedigten Frauen, die vor hundert Jahren Byron geliebt hatten. Trotz des tragischen Erlebnisses mit dem Gardeoffizier war etwas Onanistisches um sie.

»Es ist mir nicht wegen der Verantwortung«, erklärte sie, »aber ich schwebe in der Luft. Wir haben noch nie etwas Derartiges in der Familie gehabt – wir wissen, daß Nicole irgendeinen Schock gehabt hat, und meiner Meinung nach war ein junger Mann im Spiel, aber wir wissen es nicht genau. Vater sagt, er hätte ihn niedergeknallt, wenn er dahintergekommen wäre.«

Das Orchester spielte »Arme Butterfly«; der junge Marmora tanzte mit seiner Mutter. Es war eine Melodie, die ihnen allen ziemlich neu war. Dick lauschte und betrachtete die Schulter von Nicole, indes das junge Mädchen mit dem älteren Marmora plauderte, dessen Haare weiß gesprenkelt waren wie die Tastatur eines Klaviers; er mußte an die sanfte Rundung einer Geige denken, und dann dachte er an die Schmach, an das Geheimnis. O Butterfly, die Minuten werden zu Stunden –

»Wissen Sie, ich habe einen Plan«, fuhr Baby mit einer gewissen Strenge fort. »Vielleicht wird er Ihnen völlig unausführbar erscheinen; aber es heißt, daß Nicole noch ein paar Jahre unter Aufsicht sein muß. Ich weiß nicht, ob Sie Chicago kennen –«

»Nein.«

»Also, es gibt den nördlichen und den südlichen Stadtteil, und beide sind sehr verschieden voneinander. Der Norden ist schick und so, und wir haben immer dort gelebt, zum mindesten viele Jahre lang; aber eine Menge alter Familien, alter Chicagoer Familien, wenn Sie wissen, was ich damit meine, lebt immer noch im südlichen Stadtteil. Dort befindet sich die Universität. Ich glaube, manche Menschen finden es langweilig, auf jeden Fall aber ist es dort anders als im Norden. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?«

Er nickte. Mit einiger Willensanstrengung war er imstande gewesen, ihr zu folgen.

»Nun haben wir natürlich eine Menge Beziehungen dorthin – Vater hat Einfluß auf die Besetzung von Lehrstühlen und die Dotierung der Professoren an der Universität, und ich hatte gedacht, wenn wir nun Nicole nach Hause mitnehmen und mit den Leuten zusammenbringen würden – sehen Sie, sie ist ziemlich musikalisch und spricht so viele Sprachen – was könnte ihr, in ihrer Lage, Besseres passieren, als daß sie sich in irgendeinen guten Arzt verliebt –«

Eine plötzliche Heiterkeit durchströmte Dick: Warrens hatten die Absicht, Nicole einen Arzt zu kaufen. »Haben Sie einen netten Arzt, den Sie uns ablassen können?« Es hatte keinen Zweck, sich über Nicole Gedanken zu machen, solange ihre Familie in der Lage und imstande war, ihr einen netten, jungen frischgebackenen Arzt zu kaufen.

»Aber wo kriegen Sie den Arzt her?« fragte er automatisch.

»Es muß doch eine Menge geben, die auf eine solche Chance fliegen.«

Die Tänzer waren zurückgekommen, aber Baby flüsterte hastig:

»Das ist der Plan, den ich im Sinn habe. Aber wo ist Nicole? Sie ist irgendwohin gegangen. Ist sie oben in ihrem Zimmer? Was muß ich jetzt tun? Ich weiß nie, ob es sich um etwas Harmloses handelt oder ob ich auf die Suche nach ihr gehen soll.«

»Vielleicht will sie nur allein sein – Menschen, die viel allein waren, gewöhnen sich an die Einsamkeit.« Er hielt inne, als er merkte, daß Fräulein Warren nicht zuhörte. »Ich werde mich nach ihr umsehen.«

Im Augenblick war die Welt draußen von Nebel verhüllt, wie ein Frühling hinter zugezogenen Vorhängen. Alles Leben konzentrierte sich in der Nähe des Hotels. Dick ging an Kellerfenstern vorbei, hinter denen Hotelpagen auf Bettkästen saßen und bei einem Liter spanischem Wein Karten spielten. Als er sich dem Promenadenweg näherte, fingen die Sterne an, über den weißen Gipfeln der hohen Alpen zu erscheinen. Auf dem hufeisenförmigen Pfad, von dem aus man den See überblicken konnte, stand eine Gestalt bewegungslos zwischen zwei Kandelabern; es war Nicole, und er ging schweigend quer über den Rasen auf sie zu. Sie wandte den Kopf mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: »Da sind Sie ja«, und eine Sekunde tat es ihm leid, daß er gekommen war.

»Ihre Schwester war unruhig.«

»Oh!« Sie war daran gewöhnt, beaufsichtigt zu werden. Sie bemühte sich, eine Erklärung zu geben: »Manchmal macht es mich etwas – es wird mir etwas zuviel. Ich habe so still gelebt. Diese Musik heute war zuviel. Ich hätte am liebsten geweint –«

»Das verstehe ich.«

»Es war überhaupt ein furchtbar aufregender Tag.«

»Ich weiß.«

»Ich möchte kein Spielverderber sein – ich habe den Menschen genug Mühe verursacht. Aber heute abend hatte ich das Bedürfnis wegzugehen.«

Plötzlich fiel es Dick ein – so wie es vielleicht einem sterbenden Mann einfällt, daß er vergessen hat zu sagen, wo sich sein Testament befindet –, daß Nicole von Dohmler und den gespenstigen Generationen vor ihm zu einem neuen Menschen gemacht worden war; es fiel ihm auch ein, daß es sehr vieles gab, was ihr gesagt werden mußte. Aber nachdem er diese Weisheit innerlich zu Protokoll genommen hatte, strich er die Segel vor der Macht des Augenblicks und sagte:

»Sie sind ein reizendes Geschöpf – bleiben Sie Ihrem eigenen Urteil über sich selbst treu.«

»Gefalle ich Ihnen?«

»Freilich.«

»Würden Sie –«

Sie schlenderten dahin, dem dunklen Teil des Hufeisens zu, der zweihundert Meter über ihnen lag. »Wenn ich nicht krank gewesen wäre, würden Sie – ich meine, wäre ich ein Mädchen von der Art gewesen, wie Sie es hätten – ach was, Sie wissen, was ich meine.«

Nun packte es ihn doch, und eine ungeheure Unvernunft beseelte ihn. Nicole war ihm so nah, daß er fühlte, wie sein Atem schneller ging; wieder jedoch kam ihm seine Schulung zu Hilfe und äußerte sich in einem jungenhaften Lachen und einer abgedroschenen Bemerkung.

»Sie machen sich unnütze Gedanken, meine Liebe. Ich habe einen Mann gekannt, der verliebte sich in seine Krankenschwester –« Die Geschichte plätscherte dahin, begleitet von dem Geräusch ihrer Schritte. Plötzlich unterbrach ihn Nicole in kurzem, knappem Chicago-Jargon: »Scheibenkleister!«

»Das ist ein sehr ordinärer Ausdruck.«

»Na, und?« brauste sie auf. »Sie meinen, ich hätte keinen Verstand – bevor ich krank wurde, hatte ich keinen, aber jetzt ist es anders. Und wenn ich nicht merken würde, daß Sie der bezauberndste Mann sind, der mir je begegnet ist, müßten Sie mich immer noch für verrückt halten. Es ist mein Pech, schön – aber tun Sie nicht so, als wüßte ich nichts – ich weiß über Sie und mich genau Bescheid.«

Dick war doppelt im Nachteil. Er erinnerte sich an die Bemerkung des älteren Fräulein Warren über die jungen Ärzte, die man in den Viehhöfen der Intelligenz in Süd-Chicago käuflich erwerben konnte, und wappnete sich augenblicklich mit Widerstand.

»Sie sind ein entzückendes junges Ding, aber ich könnte mich nicht verlieben.«

»Sie wollen mir nur keine Chance geben.«

»Waaas?«

Die Unverfrorenheit, das Geltendmachen von Besitzrechten, das darin enthalten war, verblüfften ihn. Da ihm Anarchie fremd war, konnte er sich keine Chance vorstellen, auf die Nicole Warren Anspruch hätte erheben können.

»Geben Sie mir jetzt eine Chance.«

Die Stimme wurde leise, tauchte in ihre Brust zurück und breitete einen festen Schild um ihr Herz, als sie ihm nahe kam. Er spürte die jungen Lippen; erlöst seufzend lehnte sie sich in den Arm, der an Kraft zunahm, während er sie hielt. Jetzt gab es für Dick ebenso wenig Pläne mehr, als wenn er eigenmächtig eine unlösliche Mixtur aus zusammengehörigen und untrennbaren Atomen hergestellt hätte. Man konnte sie ganz und gar ausschütten, doch niemals konnten sie wieder in eine Atomskala zurückgegliedert werden. Als er das Mädchen hielt und spürte, und als sie mit Lippen, die ihr selbst fremd schienen, sich ihm mehr und mehr näherte – erstickt und verzehrt von Liebe und dennoch erquickt und jubelnd –, war er dankbar für seine bloße Existenz, wenn er sie auch nur in ihren nassen Augen widergespiegelt sah.

»Mein Gott!« stöhnte er. »Es macht Spaß, Sie zu küssen.«

Das waren Worte, aber Nicole hatte jetzt mehr Macht über ihn und nützte sie aus; sie entwand sich ihm kokett, ging von ihm fort und ließ ihn in Ungewißheit zurück, wie am Nachmittag in der Drahtseilbahn. Sie dachte: Dies wird ihm zeigen, was für ein guter Einfall das war, und was er alles mit mir anfangen könnte; oh, es ist herrlich! Ich habe ihn, er gehört mir. Nun, hinterher, wich sie zurück, aber alles war so süß und neu, daß sie zögerte, weil sie alles auskosten wollte.

Unvermittelt fröstelte sie. Zweitausend Fuß tiefer unten sah sie wie ein Halsgeschmeide und Armband von Lichtern Montreux und Vevey liegen und weiter entfernt, als blasses Schmuckgehänge, Lausanne. Irgendwo von unten erklang leise Tanzmusik. Nicoles Verstand arbeitete jetzt ganz klar und kühl; sie versuchte, die Gefühle ihrer Kindheit unter die Lupe zu nehmen, genau so bewußt, wie sich ein Mann nach der Schlacht betrinkt. Aber sie hatte immer noch Angst vor Dick, der bei ihr stand und sich in charakteristischer Weise an den Eisenzaun lehnte, der das Hufeisen umgab; und das veranlaßte sie, zu sagen: »Ich erinnere mich noch, wie ich im Garten auf dich wartete und mein ganzes Herz auf den Händen trug wie einen Korb mit Blumen. So jedenfalls erschien es mir – ich fand mich liebreizend – wie ich so wartete, um dir den Korb zu überreichen.«

Er atmete über ihrer Schulter und drehte sie nachdrücklich zu sich herum; sie küßte ihn mehrere Male; jedesmal wurde ihr Gesicht groß, wenn es ihm nahe kam, ihre Hände lagen auf seinen Schultern.

»Es regnet stark.«

Plötzlich dröhnte es von den Weinbergen jenseits des Sees; man schoß mit Kanonen nach Hagelwolken, um sie zu zerstreuen. Die Lichter des Promenadenweges gingen aus und wieder an. Dann brach das Unwetter los; erst stürzte es vom Himmel herab, dann ergoß es sich mit doppelter Gewalt in Strömen von den Bergen und flutete brodelnd durch Straßen und Steingräben; es brachte einen erschreckend schwarzen Himmel mit sich, wildgezackte Blitze und ohrenbetäubende Donnerschläge, während unheilbringende Wolken in Fetzen am Hotel entlang jagten. Berge und See verschwanden – das Hotel duckte sich inmitten von Tumult, Chaos und Finsternis.

Mittlerweile hatten Dick und Nicole das Vestibül erreicht, wo Baby Warren und die drei Marmoras sie besorgt erwarteten. Es war wundervoll, aus dem nassen Sprühregen zu kommen, die Türen hinter sich zuzuschlagen und lachend und vor Erregung zitternd dazustehen, Sturm in den Ohren und Regen auf den Kleidern. Im Tanzsaal spielte das Orchester gerade einen Straußwalzer, fröhlich und mitreißend.

... Sollte ausgerechnet Doktor Diver eine Geisteskranke heiraten? Wie konnte das geschehen? Wann hatte es begonnen?

»Wollen Sie nicht wieder herkommen, wenn Sie sich umgezogen haben?« fragte Baby Warren nach eingehender Musterung.

»Außer ein paar Hosen habe ich nichts zum Wechseln mit.«

Als er sich in einem geliehenen Regenmantel zu seinem Hotel hinaufkämpfte, mußte er andauernd höhnisch vor sich hinlachen.

»Das große Los – jawohl! Grundgütiger! Sie haben beschlossen, einen Arzt zu kaufen. Nun, es ist besser, sie halten sich an jemand, den sie in Chicago haben.« Da seine Härte ihm gegen den Strich ging, ließ er Nicole Gerechtigkeit widerfahren, indem er sich vergegenwärtigte, daß nichts sich jemals so taufrisch angefühlt hatte wie ihre Lippen, daß die Regentropfen auf ihren mattglänzenden Porzellanwangen Tränen glichen, die sie um ihn vergoß ... Die Stille, die dem Sturm folgte, weckte ihn gegen drei Uhr, und er ging ans Fenster. Nicoles Schönheit kam über den welligen Abhang zu ihm herauf, drang in sein Zimmer, raschelte gespenstig in den Vorhängen ...

... Am nächsten Morgen stieg er zweitausend Meter hoch auf den Rocher de Naye und amüsierte sich darüber, daß sein Bergführer vom vorhergehenden Tag seinen dienstfreien Tag dazu benutzte, um ebenfalls eine Kletterpartie zu machen.

Dann stieg Dick den ganzen Weg bis nach Montreux hinab, um im See zu schwimmen, und kam rechtzeitig zum Dinner ins Hotel zurück. Dort erwarteten ihn zwei Briefchen.

»Ich bereue den gestrigen Abend nicht – es war das Schönste, was ich je erlebt habe, und selbst wenn ich Sie niemals wiedersehen würde, Mon Capitaine, wäre ich glücklich, daß es geschah.«

Das war ziemlich entwaffnend – der drohende Schatten von Dohmler wich, und Dick öffnete den zweiten Umschlag:

»Lieber Doktor Diver: Ich rief Sie an, aber Sie waren nicht da. Dürfte ich Sie um einen großen Gefallen bitten? Unvorhergesehene Umstände rufen mich nach Paris zurück, und ich kann Zeit sparen, wenn ich über Lausanne reise. Können Sie Nicole bis nach Zürich mitnehmen – da Sie doch am Montag zurückfahren – und sie im Sanatorium absetzen? Oder ist es zuviel verlangt?

Mit bestem Gruß

Beth Evan Warren.«

Dick war wütend – Fräulein Warren hatte gewußt, daß er sein Fahrrad dabei hatte, doch hatte sie ihren Brief so abgefaßt, daß eine Weigerung unmöglich war. Uns verkuppeln! Liebe Verwandtschaft und das Warrensche Geld!

Er irrte sich; Baby Warren hatte keineswegs solche Absichten. Sie hatte Dick mit nüchternen Blicken gemustert; sie hatte ihn mit dem verdrehten Maßstab der Englandfreundin gemessen und hatte ihn unzulänglich befunden – trotz der Tatsache, daß sie ihn nett fand. Aber ihr war er zu »intellektuell«, und sie reihte ihn ein in eine Kategorie mit Leuten von schäbiger Eleganz, die sie früher in London kennengelernt hatte. Er war zu temperamentvoll, um wirklich gesellschaftsfähig zu sein. Sie wußte nicht, wie sie ihn mit ihrem Begriff von Aristokraten in Einklang bringen sollte.

Dazu kam, daß er widerspenstig war – sie hatte beobachtet, wie er ein halbes dutzendmal ihrer Unterhaltung auswich und sich hinter seine Augen zurückzog, in der merkwürdigen Art, die manche Leute an sich haben. Ihr hatte Nicoles freies, ungezwungenes Wesen als Kind nicht gefallen; und jetzt hatte sie sich bewußt daran gewöhnt, sie als ein rettungslos verlorenes Wesen zu betrachten; jedenfalls war Doktor Diver nicht die Sorte Arzt, die sie sich in ihrer Familie vorstellen konnte.

Sie wollte sich seiner nur in aller Einfalt als Bequemlichkeit bedienen.

Aber ihre Bitte hatte die Wirkung, daß Dick ihr die Absicht unterstellte. Eine Eisenbahnfahrt kann eine schreckliche, eine traurige oder eine komische Angelegenheit sein; sie kann eine probeweise Flucht darstellen; sie kann ein Vorgeschmack auf eine andere Reise sein, so wie irgendein Tag mit einem Freund lang sein kann, angefangen mit dem Gefühl der Eile am Morgen bis zur Wirklichkeit des gemeinsamen Hungers und des gemeinsamen Essens. Dann kommt der Nachmittag, an dem die Reise welkt und stirbt, sich aber am Ende wieder belebt. Dick stimmte es traurig, Nicoles kärgliche Freude zu sehen; dennoch war es ein Trost für sie, in das einzige Heim zurückzukehren, das sie kannte. An diesem Tag tauschten sie keine Zärtlichkeiten, aber als er sich vor dem traurigen Eingangstor am Zürichsee von ihr trennte und sie sich umwandte und ihn ansah, wußte er, daß ihr Problem von nun an für sie beide ein gemeinsames war.

F. Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht

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