Читать книгу Das Geheimnis des stummen Kriegers - Ein Abenteuer aus dem alten China - Franjo Terhart - Страница 5

Ein nur zu bekanntes Gesicht

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Meiling war gerade dabei, das Haus zu fegen, als Cao Pi auftauchte. Er grüßte freundlich. Meiling deutete mit den Händen an, dass er eintreten solle.

»Mmmh, wonach duftet es denn hier?«, fragte Cao Pi.

Meiling stellte den Besen beiseite. »Ich habe Brot geröstet. Magst du?«

»Gerne«, antwortete Cao Pi. Meiling streute eine Prise Zucker über das warme Brot und reichte ihm etwas davon. Sie selbst aß nichts. Während Cao Pi genüsslich das süße Brot kaute, beobachtete Meiling, wie sein Blick durch das kleine Zimmer wanderte. Bei ihm zu Hause war sicherlich alles etwas größer und auch kostbarer eingerichtet. Das lag daran, dass sein Vater in der Armee des erhabenen Kaisers einen gut bezahlten Posten hatte, überlegte Meiling, während ihr eigener Vater hier und da mal als Handlanger arbeitete. Deshalb besaßen sie auch nicht viel. Meiling war es ein wenig unangenehm, dass ihr Haus nur zwei Zimmer besaß. Im hinteren schlief Lai Dan. Vorne gegenüber dem Herd war ihr eigenes Nachtlager. Neben dem Herd befand sich ein Tisch, an dem die Speisen zubereitet wurden. In der Ecke gegenüber, hinter einem abgetrennten Bereich, stand der Nachttopf, den Meiling täglich leeren und säubern musste.

»Dann zeig mir doch mal, was du auf dem Feld so Unheimliches gefunden haben willst«, forderte Cao Pi Meiling auf, nachdem er sein Brot verzehrt hatte.

Meiling blickte ein wenig unsicher zu dem Sack aus Chinagras, der neben dem Herd auf dem Boden lag. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Richtige tat.

»Es sieht aus, als ob Magie im Spiel wäre«, hauchte sie.

Cao Pi runzelte die Stirn: »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt! Du bist ja schon wie meine Großmutter Hü San. Für sie wird jeder Schatten zum Gespenst oder zum herumirrenden Fluch, der einen arglos treffen kann.«

Zögerlich zog Meiling den Sack aus der Ecke hervor. Wortlos reichte sie diesen Cao Pi.

»Soll ich ihn etwa öffnen? Aber du hast keine Schlange darin versteckt, die mich erschrecken soll?«

Letzteres sollte wohl ein kleiner Scherz sein, doch Meiling war nicht nach Lachen zumute. Sie deutete Cao Pi an, den Sack aufzuknüpfen und seinen Inhalt herauszuholen. Entschlossen entknotete er den Sack und griff danach beherzt hinein. Mit neugierigem Gesicht holte er eine kleine schwarze Tonfigur heraus. Cao Pi ging mit ihr Richtung Eingang. »Ich brauche mehr Licht, um mir alles genau anzusehen!«

Meiling folgte ihm. Was gut war, denn Cao Pi stieß auf einmal einen Schrei des Entsetzens aus. Dabei glitt ihm die Tonfigur aus den Händen. Wäre Meiling nicht so flink gewesen, sie aufzufangen, die Figur wäre auf den gestampften Boden gefallen und vermutlich in viele Stücke zerbrochen. Ihre Finger hielten sie fest umklammert. Meiling starrte Cao Pi an, der am ganzen Leib zitterte und leichenblass geworden war.

»Zauberei!«, rief Cao Pi erschrocken aus. Meiling wusste nicht, was ihn so sehr aufregte. Jetzt war sie es, die ruhig blieb.

»Was ist mit meinem Fund?«, fragte sie.

»Zauberei. Wirklich üble Zauberei, Meiling!«

Er deutete mit zittriger Hand auf die Tonfigur.

»Ihr Gesicht ist das meines Vaters. Auch wenn das rechte Auge und ein Teil der rechten Wange beschädigt sind. Ich erkenne sein Gesicht trotzdem darin wieder! Diese Figur aus gebranntem Ton zeigt eindeutig meinen Vater. Mein Vater, wie er als Soldat aussieht, als Offizier des Kaisers. Das ist doch Zauberei, oder?«

Neugierig betrachtete Meiling das Gesicht der Tonfigur. Der Ausdruck des Gesichtes hatte sie bereits gestern an jemanden erinnert. Nun war es eindeutig. Ja, das war zweifellos das Antlitz von Cao Pis Vater. Wie war das möglich? Jemand hatte Cao Shi in Ton nachgebildet. Warum? Das war in der Tat höchst merkwürdig. Handelte es sich um Zauberei?

Meiling wusste es nicht. Doch dafür gab es sicherlich Erfahrenere als sie selbst, die das beurteilen konnten. Meiling lächelte Cao Pi an, der mit herunterhängenden Schultern vor ihr stand und der Verzweiflung nahe schien. »Es wird sich bestimmt aufklären lassen, was diese Tonfigur soll. Vielleicht hat dein Vater einem Künstler Modell gestanden? Vermutlich will er deiner Mutter und euch allen ein Geschenk machen. Ich habe eure Nachbarn auf der Straße reden hören, dass Cao Shi nicht sehr oft nach Hause kommt, weil der erhabene Kaiser ihn als Offizier häufig genug braucht.«

Cao Pi nickte eifrig. »Das ist richtig, Meiling. Mein Vater ist viel zu selten zu Hause. Das ist auch nicht so schlimm, weil wir wissen, wie wichtig er dem Gottkaiser ist. Wir sind stolz auf ihn. Aber nun ist Cao Shi schon sehr lange nicht mehr bei uns gewesen. Zu lange, finden wir.«

Meiling legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Siehst du, Cao Pi, deshalb hat sich dein Vater auch etwas Schönes für euch ausgedacht. Dank dieser Figur habt ihr ihn trotzdem bei euch. Jedenfalls als Abbild.«

»Du willst mich wirklich beruhigen, Meiling«, antwortete Cao Pi dankbar. »Aber selbst wenn du recht hast, findest du es denn nicht merkwürdig, dass diese Figur auf dem Feld herumliegt, zudem beschädigt ist und von meinem Vater weit und breit nichts zu sehen oder zu hören ist?«

Cao Pi hatte den Finger zielsicher in die Wunde gelegt, dachte Meiling. Sie wollte ja auch nur, dass er sich nicht zu sehr aufregte. Denn seltsam war die ganze Sache in jedem Fall.

»Ich werde die Tonfigur meiner Großmutter Hü San zeigen.«

Cao Pi klang entschlossen. »Hü San ist weise, sagt Vater, auch wenn sie zu oft Spuk und Dämonen am Werke sieht. Sie wird deinen Fund vom Feld genauestens untersuchen. Erst dann bin ich beruhigt.«

Die chinesische Schrift

Die chinesische Schrift kennt keine Buchstaben, sondern nur Bildzeichen. Es gibt ein Grundzeichen – Radikal genannt – und ein oder mehrere Beistriche. Im Lexikon sucht man zuerst das betreffende Radikal. Dann zählt man die Anzahl der Beistriche. Daraus ergibt sich das betreffende Wort. Das Wort »Musik« wird z.B. mit demselben Schriftzeichen wie »Freude« dargestellt. Die Anzahl der Schriftzeichen beläuft sich auf ca. 50 000. Ein Gelehrter kennt in China ungefähr 10 000 Schriftzeichen. Kein Mensch soll jemals alle 50 000 Schriftzeichen gekannt haben. Zur Zeit des ersten Kaisers schrieben die Chinesen auf Holztäfelchen, Bambusstreifen oder auf Seide. Auch auf Orakelknochen oder Bronzegefäßen findet man Schriftzeichen.

Meiling nickte langsam. »Das wird das Beste sein! Hü San wird selbst von Dschou Sin, dem höchsten Beamten im Dorf, um Rat in solchen Dingen gefragt. Darf ich mitgehen?«

»Gerne, Meiling! Du hast das Rätsel schließlich entdeckt«, stimmte Cao Pi zu.

Sie verließen das Haus und begaben sich zum Haus des ehrenwerten und tapferen Soldaten Cao Shi, wie Cao Pis Vater im Dorf genannt wurde. Sie brauchten nicht lange nach Hü San zu suchen, denn die alte Frau war im Garten dabei, Wäsche von den Bambuspfosten zu nehmen. Cao Pi bat sie, sich einen Moment von ihrer Arbeit abzuwenden. Die Alte sah ihn neugierig an. »Was hast du denn dort in der Hand?«, fragte sie und zeigte auf die Figur.

»Meiling hat sie auf dem Feld an der großen Straße gefunden. Sie sieht aus wie Cao Shi.«

Hü San runzelte die Stirn.

»Was willst du damit sagen, Junge?«

»Schau sie dir an, Großmutter. Was sollen wir von Meilings Fund halten?«

Die alte Frau griff nach der Tonfigur und hielt sie sich nahe vors Gesicht. Ihre Augen waren schon lange nicht mehr die besten. Doch jäh stieß sie die geheimnisvolle Figur wieder von sich.

»Das ist Zauberei!«, rief sie erschrocken aus. »Jemand will meinem Cao Shi Schaden zufügen.«

»Meiling denkt, dass Vater sie anfertigen ließ, um uns damit eine Freude zu machen«, sagte Cao Pi so leise, als wollte er es selbst nicht recht glauben. Hü San blickte Meiling nachdenklich an.

»Mag sein, aber warum findest du sie dann an einer Stelle, wo sie nicht hingehört?«

Meiling schluckte. »Ich habe mal von einem Händler, der ins Dorf kam und Kunstwerke verkaufen wollte, gehört, dass ein Künstler seine Sachen mit einem persönlichen Zeichen versieht. Wenn diese Figur so etwas besitzt, dann kann sie doch unmöglich das Werk eines Bösen sein, oder?«

»Kluges Mädchen!«, lobte Hü San. Meiling wurde rot bis über beide Ohren. Die Großmutter drehte und wendete die Figur in ihren Händen, konnte aber offenbar nichts Besonderes entdecken. Schließlich reichte sie das seltsame Ding ihrem Enkel.

»Guck du mal nach. Meine Augen werden immer schlechter, fürchte ich.«

Cao Pi untersuchte die Figur nach Schriftzeichen und fand zunächst nichts. Doch dann drehte er die Figur auf den Kopf. »Da! Seht her! Auf der rechten Fußsohle befindet sich eine Art Stempel, wie sie die Beamten des Kaisers verwenden.«

Meiling reckte neugierig ihren Kopf. Wieso war sie nur zu feige gewesen, die Figur selbst etwas genauer zu untersuchen! Gemeinsam entzifferten die Kinder die Schriftzeichen Yi für Sonne und Yue für Mond. Zusammen ergaben sie den Begriff Leuchtkraft.

»Leuchtkraft?«

Auch Cao Pi runzelte fragend die Stirn.

»Dort steht Leuchtkraft auf seinem rechten Fuß«, sagte Meiling zu Hü San.

Aber die alte Frau winkte ab. »Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Pah, Leuchtkraft! Aber eines weiß ich mit Bestimmtheit zu sagen. Diese Inschrift beweist auf keinen Fall, dass es sich hierbei nicht um Zauberei handelt.«

Damit wandte sich Hü San um und humpelte zu ihrer Wäsche auf den Bambuspfosten zurück.

Das Geheimnis des stummen Kriegers - Ein Abenteuer aus dem alten China

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