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Wie Johann geboren wurde

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Johanns Mutter hieß Maria, sein Vater Josef. Dieser Umstand könnte als Zeichen göttlichen Beistands gedeutet werden. Der aber war nicht gegeben. Das wiederum war auch kein Wunder. Maria war eine faule, ungepflegte Frau, Josef ein fauler, ungepflegter Mann. Beide lernten sich auf einem Volksfest kennen. Im Suff, versteht sich. Da war sie siebzehn und er zweiundzwanzig Jahre alt. Sie arbeitete in einer Bäckerei, er auf einem Schrottplatz. Neben ihrer Faulheit und mangelnden Körperhygiene hatten sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die sie aber nicht automatisch zum idealen Paar machten. Beide konnten nicht besonders gut lesen und noch weniger schreiben. Beide waren gut am Glas, vertrugen aber unterschiedlich viel. Maria kotzte mehr als sie trank, Josef trank mehr als er aß. Ihre Wohnungen waren klein und miefig. Sie besaßen beide nicht viel mehr als die Kleidung an ihrem Leib und etwas Tand und Kitsch, den sie aus ihren Jugendjahren mitgeschleppt hatten.

>> Hey, Kleine! << , sagte Josef und versuchte krampfhaft, dem jungen Mädchen, das ihm gegenüberstand, in die Augen zu sehen. Es gelang ihm nicht. Weder seine Augen noch seine Beine verstanden es, mehr als einen Augenblick lang stillzustehen. Auch seine Sprache sollte bei mehr als zwei Worten in Bedrängnis geraten. Ungeachtet seiner Unfähigkeit, wichtige Körperfunktionen unter Kontrolle zu bringen, fuhr er mit der Balz fort.

>> Wie heißt Du, Süße? << Nach dieser intellektuellen Großleistung offenbarte sich ziemlich deutlich, warum es hin und wieder nicht eines ausländischen Cabriolets oder der Fähigkeit, über die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts sprechen zu können, bedarf, um das andere Geschlecht für sich zu vereinnahmen und zu dem Sinn des Lebens vorzustoßen, der Fortpflanzung. Die Angesprochene, selbst nicht in der Lage, irgendein Jahrhundert von einem anderen abzugrenzen, hatte sich gerade unfreiwillig den Magen entleert und antwortete:

>> Maria. << Sollte das an sich noch nichts bedeuten, begann sie mit einem kurzen >> Und Du? << allen Skeptikern den kärglichen Rest jeden Glaubens daran zu nehmen, es müsse mehr als drei Minuten oder vier gestammelte Sätze dauern, den unaufhaltsamen Paarungsakt zum einzigen Ziel weiterer Überlegungen werden zu lassen. Der Dialog sollte sich in etwa so entwickeln:

>> Ich bin der … << , er musste aufstoßen und unterbrach die freie, nicht einstudierte Rede. Leider konnte er nicht geschmeidig fortsetzen und wiederholte sich ein wenig:

>> … der Josef. Und Du? << Dieser Lapsus war nach ihrem „und Du?“ völlig nebensächlich. Sie antwortete brav:

>> Maria! << Die erste Minute neigte sich dem Ende zu. Josef fiel nichts mehr ein, womit er eine Pause bis zur körperlichen Vereinigung hätte füllen können. Er sagte:

>> Du bist schön! << Das „schön“ dehnte er über den Zeitraum, den er brauchte, sie plump zu umarmen und seine Hand an ihr Gesäß zu legen. Ob das der Beginn des Aktes war, kann dahin gestellt bleiben. War es das nicht, kann es dem Vorspiel zugeschrieben werden, welches darüber hinaus nichts zu bieten hatte. Maria besaß noch den Rest von Anstand, einen Ortswechsel zu fordern:

>> Nicht hier, Josef! << , womit sie ihn einige Meter weiter hinter eine Würstchenbude zerrte und dort ihr Kleidchen, das ein wenig von ihrem Mageninhalt beschmutzt war, über die Hüfte raffte. Josef machte sich ebenfalls nicht die Mühe, sich mehr als nötig seiner Kleidung zu entledigen, wozu er auch nicht mehr in der Verfassung gewesen wäre. Dass er dennoch in der Verfassung war, die notwendige Präzision und Technik eines koitalen Vergnügens aufzubringen, zeigte erneut, welche Schwerpunktsetzung die Evolution vornahm.

Der Vollzug körperlicher Zuneigung war ab diesem Moment bis auf weiteres schnelles Thema bei beiden und wurde kompromisslos in die Tat umgesetzt. Und so war Maria noch keine achtzehn, als die fleischlichen Gelüste ihr das erste Kind aufzwingen wollten. Zufällig aber bemerkte sie die Schwangerschaft an dem Tag, an dem sie ihren Lohn bekam. Wie auch immer man über das Recht zu leben denken mag, diese Fügung bewahrte das herannahende Leben vor einer lieblosen Jugend, jedoch nicht vor einem furchtbaren Tod. Die rostigen Werkzeuge eines groben Hinterhofpfuschers pflückten die Frucht des Leibes. Maria war immer noch keine achtzehn, als sie ihr erstes Kind austragen sollte. Der Lohn kam einen Tag zu früh, das Geld war in dunklen Kaschemmen umgesetzt und Maria fehlte später auch die Lust zur Wiederholung der blutigen Prozedur. Josef weigerte sich nicht, seine Volksfestbekanntschaft zu ehelichen.

>> Wollen Sie die hier anwesende Maria Schubert zu Ihrem rechtlich angetrauten Eheweibe nehmen, so antworten Sie mit einem deutlichen Ja! << , forderte ihn der Standesbeamte Günther Gerke auf. Das „Ja“, das er fertig brachte, war weniger deutlich, als Gerke es gewohnt war. Es vermischte sich mit einem Gähnen, das seine Ursache in der frühen Stunde der Eheschließung hatte. Das aber war gut für den Erfolg des Vorhabens, da um diese Zeit noch gute Chancen bestanden, die Ehewilligen halbwegs nüchtern vor sich zu haben, sah man von den Resten des Vorabends einmal ab. Unsicher blickte Gerke den Bräutigam an. Der bemerkte dies und sah sich genötigt, seiner Antwort mehr Rückhalt zu verleihen. Er schrie förmlich:

>> Ja, verdammt, ich will! << Gerke zuckte zusammen und fuhr fort:

>> Und wollen Sie, Maria Schubert, den hier anwesenden Josef … << Maria unterbrach ihn. Von ihrem zukünftigen Mann ermutigt, meinte sie, der Sache mit etwas Elan mehr Gewicht zu verleihen:

>> Ja, verdammt, ich will! << Gerke wischte sich die Stirn ab. Es würde keinen Sinn haben und seine Besoldung völlig unberührt lassen, allzu viel Zeit damit zu verbringen, den Anspruch auf Autorität durchzusetzen. Er würde diesen Fall einfach unter dem Gesichtspunkt der Eilbedürftigkeit abhandeln.

>> Dann erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau. Bitte unterschreiben Sie hier. << Hätte er gewusst, vor welche Probleme er sie damit stellte, er hätte ihre Unterschriften gefälscht und sie ziehen lassen. So aber zog er sich den Zorn seiner Klientel zu. Josef wütete:

>> Was soll denn der Scheiß. Wir wollen heiraten, und keine Waschmaschine kaufen! << Die Braut fand das irrsinnig komisch. Sie lachte hysterisch und fügte hinzu:

>> Du kannst Dir Deine Unterschrift sonst wo hinstecken. << Gerke versuchte noch, den bürokratischen Erfordernissen gerecht zu werden und stammelte ein leises:

>> Sie müssen verstehen, so ist nun mal das Gesetz. << Er knickte vollends ein, als er sich der Breitseite maskuliner Argumentationskunst gegenüber sah:

>> Scheiß auf Dein Gesetz! Wir sind jetzt Mann und Frau! << , kam es von Josef, der sich Maria zuwandte und sie an sich zog.

>> Richtig! << , quiekte Maria, während sie ihre Zunge in den Mundraum ihres Gemahls verpflanzte.

>> Richtig << , bestätige Gerke kleinlaut, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte. Akten dienen einzig und allein dazu, einige Jahrzehnte lang aufbewahrt zu werden, und das Öffnen einer Akte kann nur zwei Gründe haben: Frevelei oder dummer Zufall. Das war Gerke bewusst und so stellte er dem Brautpaar auch ohne deren Unterschrift die Papiere aus, welche dokumentierten, dass hier das Wunder der Liebe wieder einmal zugeschlagen hatte.

Maria und Josef gaben ihre kleinen miefigen Wohnungen auf und bezogen gemeinsam eine etwas größere miefige Wohnung, die sie wenig liebevoll einrichteten. Ihr erstes Kind war ein Junge, genauso wie alle weiteren Kinder, die noch folgen sollten. Sie nannten den ersten Stammhalter Horst und bestätigten damit die Vermutung, dass sie nicht vorhatten, an die biblischen Vorzeichen ihrer eigenen Namen anzuknüpfen, genauso wenig wie sie beabsichtigten, an biblische Werte anzuknüpfen. Horst wurde kein Jahr alt, da gesellte sich Helmut hinzu, binnen Jahresfrist bildete sich mit Brüderlein Harald ein Burschentrio. Bevor jedoch das Quartett mit Johann vollständig wurde, vergingen vier Jahre und drei Fehlgeburten. Zur Nummer fünf kam es nicht mehr. Johann hinterließ an Marias Gebärmutter solchen Schaden, dass von echter Fruchtbarkeit nicht mehr viel übrig war. Wir wissen, dass Maria recht teilnahmslos war und auch von dem Umstand ihrer Einschränkung vorerst nichts wusste, ansonsten hätte die fehlende Liebe gegenüber Johann den Schluss nahe gelegt, dass sie ihm das Ende der Gebärfreudigkeit persönlich übel nahm.

Die Zeugung Johanns verlief durchaus kurios. Wie gewöhnlich waren beide Beischlafpartner betrunken, wie gewöhnlich verzichteten sie auf eine irgendwie erotisch oder mindestens liebevoll geartete Einleitung und kamen praktisch mit dem Vorsatz zum Vollzug. Dieser jedoch wurde nicht beendet, was nicht an der Manneskraft Josefs liegen konnte, stand diese doch zeitlebens völlig jenseits jeden Zweifels. Auch war es nicht einer Gefühlskälte Marias oder einer Unterbrechung durch Dritte zu verdanken; beides sollte beide niemals abhalten, eine einmal angefangene Vereinigung über die Ziellinie zu führen. Es war eine Müdigkeit, die beide übermannte und die diesen Akt zu dem kürzesten ihrer Ehe- und Vorehejahre werden ließ. Schnarchend lagen sie aufeinander, als eine winzig kleine, halb verkrüppelte männliche Keimzelle, die entweder vom letzten Feldzug zurückgelassen oder als Vorhut produziert worden war, in jedem Fall ohne den Einsatz eines Katapults flügellahm daherkam, sich den Weg in die Höhle der Fruchtbarkeit erschloss und eine völlig überraschte weibliche Keimzelle, die auch schon auf dem absteigenden Ast war, erfolgreich zum Teilen aufforderte.

Maria bemerkte ihre Schwangerschaft bis zur letzten Woche nicht. Erst, als ihr Fruchtwasser die Beine herunter plätscherte, entdeckte sie Parallelen zu ihren früheren Geburten und marschierte zum Arzt. Der stellte mit Mühe das Herannahen des vierten Kindes fest, überwies sie ins Krankenhaus, wo es einige Tage dauern sollte, ehe die Mutterfreuden offiziell hätten werden können. Obwohl Johanns Herztöne eindeutig waren, die Messungen im Ultraschall seine Reife attestierten, die Fruchtblase geplatzt war, konnte niemand Johann so richtig ertasten, geschweige denn dazu bringen, ins Licht der Welt zu blicken. Alle Apparaturen, Tinkturen und Spritzen halfen nichts. Das Kind rührte sich nicht. Als der Bauch schließlich aufgeschlitzt wurde, fand man nichts. Köpfe kratzend nähte man Maria wieder zu und war schon dabei, einen Beitrag für das Magazin medizinischer Sonderbarkeiten zu entwerfen, da entdeckte eine OP-Schwester zwischen Marias Schenkeln den kleinen Racker. Lautlos und unbemerkt hatte er sich doch kurz vorm Kaiserschnitt ganz natürlich heraus geschlichen und wartete geduldig auf das Durchtrennen der Nabelschnur.

Für Maria war Kinderkriegen Routine geworden, für Josef Vaterglück ein Fremdwort. Als er seine Gattin aus dem Krankenhaus abholte, war er gut betrunken - ein Zustand, den die vierfache Mutter auch für sich herbeisehnte und kurzerhand erreichte. Zuhause angekommen plärrten drei Kinder. Der älteste unter ihnen, Horst, fragte nach seinem Brüderchen, worauf die anderen mehr oder weniger einstimmten. Den jedoch hatten die Eltern im Krankenhaus vergessen. Als Maria am nächsten Tag und ein wenig nüchterner dem Drängen der Kinder nachgab und ihren Johann zu sich holen wollte, konnte man ihn erneut nicht finden. Ohne besonderes Pflichtbewusstsein hatte man ihn auf der Säuglingsstation in ein Bettchen gelegt, auf dessen Schild noch der Name des Vormieters angebracht war. Und so hatten alle Kinder einen Namen, der nicht dem Marias entsprach. Über diese Tatsache nicht sichtlich beunruhigt wollte die Rabenmutter unverrichteter Dinge von dannen ziehen, da glich jene OP-Schwester vom Vortag die Akten ab und bemerkte den Irrtum. Johann entging so nur knapp dem Waisenhaus. Ob das schlechter für ihn gewesen wäre als das, was ihn in den Folgejahren in familiärer Obhut erwartete, darüber darf man durchaus diskutieren. Sicher war, dass durch die Verwechslung ein bürokratisches Durcheinander geschaffen wurde, welches durchaus noch von Bedeutung sein sollte. Als nämlich der Standesbeamte Günther Gerke den Namen der neuen Erdenbürger einsammelte, entging ihm Johann - was zur Folge hatte, dass die wesentlichen behördlichen Listen ohne diesen auskommen mussten. Als das Krankenhaus am Monatsende alle Neugeborenen aufreihte, war Johanns Name darunter und schaffte es in nachgeordnete Listen, in die Register der Schulbehörde, der örtlichen Spar- und Darlehensgenossenschaft, der Telefongesellschaft, des Militärs und des Verbands der werbetreibenden Konsumindustrie, die das Krankenhaus mit einer großzügigen Spende bedachte und auch den zuständigen Sachbearbeiter nicht vergaß, der bei der Gelegenheit neben den Geburtsdaten des Kindes üblicherweise auch noch die Einkommens- und Gesundheitsverhältnisse der Eltern offen legte. Letztere Information sorgte im Übrigen fast alleinig dafür, dass Johann von der Werbeindustrie ignoriert wurde.

Der Name der Schwester, die den kleinen Racker schon zum zweiten Mal nicht übersehen hatte, war Magdalena Wolfer, Ehefrau des Kriminaloberkommissars Heribert Wolfer. Sie hatte eine besondere Zuneigung für schwächliche Neugeborene, hatte sie doch selbst erst vor kurzem ein klitzekleines Töchterchen zur Welt gebracht, dessen linker Arm für immer unbrauchbar sein würde. Das Töchterchen hieß Annegret und machte seiner Mutter trotz der körperlichen Einschränkung sehr viel Freude. Viel mehr Freude als ihrem Mann, der mit der Geburt seiner Tochter nur seine statistische Pflicht erfüllt sah und ansonsten über die Kosten/Nutzen-Relation des heranwachsenden Mädchens philosophierte, dessen Behinderung zum Missfallen seiner Gattin stets mit einkalkulierend.

Johann erhielt eine provisorische Schlafgelegenheit neben dem elterlichen Bett. Dort wurde über ihn gestolpert, hin und wieder bekam er eine achtlos fallen gelassene Flasche an den Kopf. Gleiches geschah jeden Abend mit Kleidungsstücken, unter denen er schließlich doch immer recht glücklich dem Erstickungstod entrinnen konnte. Seine Brüder schenkten ihm in den ersten Wochen ein wenig Aufmerksamkeit und hielten auch ihre Mutter an, eine solche für das Neugeborene aufzubringen. Das und die Schmerzen in der Brust führten dazu, dass das Kind hin und wieder gestillt wurde. Schnell lernte Johann, dass er sich nicht auf die mütterliche Versorgung verlassen konnte und entwickelte die Fähigkeit, feste Nahrung aufzunehmen, die bei der Speisung der Brüder für ihn abfiel. Ebenso schnell gelang es ihm, trocken zu werden. Zum Windelwechsel bestand auch keine Chance, da er keine Windel angezogen bekam. Um den Zorn der Eltern und der größeren Geschwister für seine Unpässlichkeiten zu entgehen, erledigte er seine Geschäfte schon im Alter von neun Monaten selbst. Sein Überleben in den Säuglings- und Kindesjahren hat Johann der glücklichen Fügung zu verdanken, dass er bei seinen Brüdern immer Kleidung fand, aus denen diese herausgewachsen waren, immer Spielzeug hatte, für das sich niemand mehr interessierte und immer einen Teil des Essens ergattern oder zumindest die Reste - sofern es welche gab - für sich beanspruchen konnte. Er sah sich bei seinen Brüdern das Laufen und das Sprechen ab; er konnte alles, was sie auch konnten, mit einer Ausnahme: Er konnte nicht lügen.

Wäre er ein Bursche gewesen, an dem jemand Interesse gehabt hätte oder der irgendwann einmal aufgefallen wäre -die Unfähigkeit zu lügen hätte ihm der Züchtigung, die ihn meist nur zufällig ereilte, ein gehöriges Maß an „mehr“ eingebracht. Vater und Mutter waren mit ihrer Hand genauso schnell am Allerwertesten und im Gesicht ihrer Kinder wie sonst am Glas. Aber auch Horst konnte nicht von sich behaupten, Ausgeglichenheit gepachtet zu haben. Horst war von Geburt an kräftig gebaut. Zu jeder Zeit war er der größte und stärkste seiner Altersgenossen. Diese Eigenschaft nutzte er zu seinem Vorteil, indem er zulangte, wann immer es sich anbot. Im Alter von acht Jahren hatten seine Lehrer genug von den Beschwerden der Eltern seiner Klassenkameraden und stellten ihn vor die Wahl, die Schule zu verlassen oder einem Boxverein beizutreten. Davon versprachen sie sich die Kanalisierung seiner Aggressionen. Sie behielten Recht. Zum Leidwesen aller anderen boxenden Kinder seiner Altersklasse. Kein Monat Training war vonnöten, da siegte er schon in der Städtemeisterschaft. Der K.O. ist im Jugendboxen keine gewöhnliche und vor allen Dingen keine Sache, die von den Vereinen gerne gesehen wird, ist doch die Zukunft der Sportler noch lang, und sollte doch trotz malträtiertem Hirn noch der eine oder andere Schulabschluss möglich sein. Horst bereitete in diesen Gesichtspunkt einige Probleme. Vom Niederschlag konnten seine Gegner nur die Aufgabe oder das Mitleid des Ringrichters retten. Man entschloss, ihn entgegen einer anderen guten Gewohnheit gegen Ältere antreten zu lassen. Nach einigen Versuchen war die Gruppe gefunden, die ihm gewachsen war. Der Unterschied belief sich auf sage und schreibe 6 Jahre. Als Ausgleich dafür, dass er endlich auch einmal Schläge einstecken musste, wurden ihm aber Jahr für Jahr die Meisterschaftspokale aller Jahrgänge, die er übersprungen hatte, verliehen. So kam es, dass er im Alter von 10 Jahren bereits 11 Meisterschaften gewonnen hatte. Ein Rekord, der von ihm noch einige Zeit weitergetrieben wurde, bis die Altersklassen komplett den Gewichtsklassen wichen. Hier, so versteht es sich, schaffte er mühelos jeden Triumph und spielte sogar im landesweiten Vergleich eine führende Rolle. Horsts Eltern unterstützten ihn bei seiner Sportlerkarriere, soweit es ihnen möglich war. Sie besuchten seine Kämpfe, grölten mit den anderen in den Zuschauerrängen und ließen sich während der Schmeicheleien der Trainer und Box-Fans gerne auf einen Schluck einladen und dazu hinreißen, von ihrem Sprössling zu prahlen. Johann träumte nicht selten davon, dass seine Eltern mal von ihm prahlten. Leider konnte er sich, anders als seine Brüder, nicht richtig in Szene setzen. Sein größtes Talent, schneller als andere lernen zu können, schneller als andere Situationen zu begreifen, blieb unentdeckt. Genauso wie er selbst.

Das Schicksal treibt schon ungewöhnliche Possen. Anders ist es nicht zu bewerten, dass Marias und Josefs Kinder allesamt etwas Besonderes waren. Jedes auf seine Weise, jedes mit unterschiedlichem Erfolg. Helmut, der zweitälteste, zeigte, obschon nicht halb mit der Auffassungsgabe Johanns gesegnet, außerordentliche schulische Leistungen. Gemeinsam mit Johann lernte er lesen und hatte fortan nur noch zwei Beschäftigungen: Lesen und Vortragen. Das meiste von dem, was er las, verstand er nicht, doch sein Ehrgeiz und sein überragendes Gedächtnis ließen ihn sich alles merken, um es später unter Beifall der Eltern, seiner Lehrer und Mitschüler Wort für Wort zu repetieren. Helmuts Wuchs zeigte deutlich, dass eine sportliche Karriere ihm nicht bevorstand. Er war dünn, schlaksig und neigte schon früh dazu, etwas gebückt zu gehen. Er setzte seine Füße beim Gehen mit der Fußspitze auf, was etwas eigentümlich aussah. Viele hielten ihn für hochnäsig, was er auch war. Ebenso wie die Begriffe arrogant, hinterlistig, durchtrieben, berechnend, heuchlerisch und opportunistisch auf ihn passten, obwohl sich dies nicht allen Menschen offenbarte. Helmut verstand es nämlich, im richtigen Augenblick als zuvorkommend, aufmerksam und mitfühlend zu gelten, ein Eindruck, den er bei denen, die ihn besser kannten, nicht lange aufrechterhalten konnte. Da aber die meisten Menschen das Gute im anderen suchen, widerfuhr ihm aufgrund seines wahren Charakters nur selten ein Schaden.

Harald hatte mit dem Erstgeborenen nur wenige physische Gemeinsamkeiten. Statt der Kraft zeichnete ihn die Gerissenheit im besonderen Maße aus. Auch er nutzte seine Gabe, um den Begriff Fairness zu seinen Gunsten zu dehnen. So ließ er Horst bei jeder Gelegenheit den Vortritt. Dies immer betonend schmeichelte er sich bei diesem ein. Und obwohl Horst kraft seiner Kraft sowieso alles haben konnte, was er wollte, rang ihm Harald eine Gegenleistung ab -nämlich ihn zu beschützen, wenn er für sich alle weiteren Rechte beanspruchte. Die Physiognomie Haralds entsprach nicht ganz seinem Charakter. Er war relativ klein, pummelig und pausbackig und trug schon früh eine Brille mit starken Gläsern. Insgesamt erweckte sein Äußeres ein wenig Mitleid, glaubte man leicht, einen friedlichen Trottel vor sich zu haben. Im Ganzen jedoch glich Harald weniger seinem Äußeren nach denn mit seiner Wirkung einer schönen Frau, die von nahezu jedem Mann hofiert, bedient und verteidigt wird, als wäre sie die Kombination eines Säuglings und des Staatspräsidenten. Harald machte seine Opfer natürlich anders gefügig als mit der Aussicht auf sexuelle Gefälligkeit. Er nutzte sein unschuldiges Äußeres und seine Verschlagenheit und schuf damit Abhängigkeiten. Da er selbst für einen Politiker zu hässlich war, zeichnete sich sein Lebensweg als der eines Kaufmanns ab. Die Süßigkeiten, die er mit Horsts Hilfe anderen aus den Händen zu argumentieren in der Lage war, veräußerte er postwendend denselben gegen andere Habseligkeiten oder kleine Barschaften. Er selbst war in jungen Jahren relativ anspruchslos, und so konnte er ein stetiges Wachstum seines Eigentums verzeichnen. Dies sollte sich bis in das Erwachsenenalter fortsetzen.

Kleiner Johann

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