Читать книгу Die großen Western Classic 38 – Western - Frank Callahan - Страница 3
ОглавлениеFäuste schlagen an die Türen, hämmern auf Tischplatten herum, donnern an Schränke. Dazu ertönen, sich blitzschnell über das ganze Jail mit seinen drei Stockwerken fortpflanzend, die grimmigen, wilden Rufe der Sträflinge.
Einer von ihnen hat versucht, aus der Hölle von Saint Quentin zu entfliehen, aber man hat ihn erwischt. Dennoch gibt es nichts, was in den Köpfen der Sträflinge mehr umherspukt als die Flucht, der Gedanke an die goldene Freiheit.
Jeder Sträfling kennt die Strafe für Ausbruchsversuch, und jeder hasst auf seine eigene Art die Wächter und dieses verfluchte Gefängnis.
»Rankin, du Satan«, knurrt Christie und gibt dem Banditen einen Schubs. »Daran wirst du noch denken. Hast du zu reden, wenn du nicht gefragt bist?«
»Nicht schlagen … Aaah, aah!«
Rankins markerschütternde Schreie lassen das Dröhnen der Stiefel verstummen. Der Bandit wälzt sich brüllend am Boden, rollt hin und her und schreit dabei: »Ah, nicht doch, ich, hab nichts getan. Nicht schlagen! Aaah – oaaah!«
Und dann bricht die Hölle los, in den Zellen scheinen keine Menschen, sondern Wölfe zu sitzen. Das Geheul, das nach einem bösartigen Schweigen nun einsetzt, muss außerhalb des Jails zu hören sein.
»Schweine, Schweine! Totschläger – Mörder! Ihr Mördergesindel!«
»Allmächtiger«, sagt Larabee keuchend und ist mit zwei Sätzen bei Rankin. »Das hast du Halunke nicht umsonst getan, Rankin. Versuchter Aufruhr, mein Freund. Hoch mit dir, Mensch! Daran denkst du noch, das verspreche ich dir.«
Andere Wärter rennen durch die Gänge, stürmen auf die Glocken zu und beginnen zu läuten. Die schrillen Klänge vermischen sich mit dem Geschrei der Sträflinge zu einem Furioso. Dann klappern die Schritte in den Gängen vor den Zellen. Die ersten Türen werden aufgerissen.
Und seltsam, in den Zellen, die offen sind, schreit niemand mehr. Sie liegen friedlich auf ihren Pritschen und haben zum Teil die Decken über den Ohren, scheinen zu schlafen.
»Ruhe, sonst gibt es drei Tage kein warmes Essen!«
Das Geschrei verebbt langsam. Der große Bau kommt Larabee nach wenigen Minuten wie ausgestorben vor.
»Zelle schließen! Und dann weg mit dem Kerl!«
Ja, denkt Rankin, nur weg hier. Je eher, desto besser, Mr Larabee. Du hättest dir die Füllungen der Schrankrückwand doch genauer ansehen sollen, aber das findet ihr Narren nie. Ihr müsstet schon die ganze Rückwand auseinanderreißen. Die Füllungen sitzen in Nuten. Mit einem Draht kann man die Nuten so sauber machen, dass ein Loch entsteht. Und in das Loch kann man etwas stecken, wenn man es erst hat. Zum Beispiel eine Schnur.
Irgendwo in der Rückwand von zwei Schränken in zwei verschiedenen Zellen stecken Schnüre. Sie sind schwarz, glänzen leicht und haben eine Seele aus einer Pulvermischung. Sie brauchen nur noch die Sprengpatronen, dann …
Aber das weiß Larabee nicht.
Und er wird es zu spät erfahren.
*
Harrington atmet rasselnd, zieht automatisch die Schnursäge mit Ashton hin und her. Seit einer Woche scheint die Sonne wie durch ein Brennglas in den Steinbruch herab. Gegen Mittag ist die Hitze kaum noch zu ertragen, darum fangen sie jetzt früher mit der Arbeit an und machen eine anderthalbstündige Pause.
Happy Jack Harrington ist alles andere als das, was sein Spitzname besagt. Er ist nicht glücklich. Happy Jack Harrington hat die Wut im Bauch, seit Wochen.
»Verfluchte Schinderei!«, mault er. »Einmal möchte ich’s erleben, einmal nur, verstehst du, Ashton? Ich möchte Aufseher sein – und die Aufseher Gefangene. Denen würde ich einheizen, bis ihnen das Wasser im …«
»Ich würde sie Steine schleppen lassen«, sagt Ashton schnaufend. »Von einem Haufen zum anderen und dann wieder zurück, bis sie umfielen in der verfluchten Hitze, ihre Zungen heraushängen ließen und glaubten, sie seien Klippfische.«
»Na, habt ihr noch Luft zum Reden?«, fragt hinter ihnen plötzlich Darwin, der zweite Posten. »Dann arbeitet mal einen Schlag schneller, ihr Banditen. Los, legt zu!«
Er bleibt abwartend stehen und grinst.
Als Darwin endlich davongeht, knirscht Happy Jack Harrington mit den Zähnen.
»Den kaufe ich mir noch mal, Ashton. Ah, da kommt das Essen.«
In den Steinbruch führen zwei Wege. Der obere auf halber Wandhöhe entlang und drüben wieder hinaus. Dort taucht der Wagen auf, nimmt dann den Talweg und rollt in die Tiefe des Steinbruchs.
Ein Ende Schiene ersetzt die Glocke. Kaum ertönt der erste Ton, als einer losrennt, um zuerst am Wagen zu sein, auf dem die beiden Kessel stehen.
»Ratte Kenton, wer sonst«, knurrt Ashton. »Der ist immer zuerst da. Hat ewig Hunger, aber dicker wird er nicht. Dabei hat er schon einen feinen Job, der Kerl.«
Happy Jack Harrington beobachtet »Ratte« Kenton genau. Ihm fällt ein, dass Kenton bis vor einer Woche an der Steinsäge arbeitete. Als die Hitze kam, erhielt Kenton den Job, die Quaderblöcke mit dem Karren nach oben zu fahren. So kommt Kenton neuerdings immer wieder an die frische Luft und braucht nicht wie die anderen in der brütenden Hitze zu arbeiten.
»He, Happy, komm an den Napf!«, sagt Ashton. »Was ist denn los, Mann?«
»Nichts«, sagt Happy Jack, lässt die Säge los und geht neben ihm her. »Du, Ashton, wo steckte der Kerl eigentlich, als sie Henry mit dem Seil erwischten?«
»Die Ratte? Warte mal.«
Ashton blickt sich um, deutet dann kurz auf die Wand und den oberen Weg.
»Dort«, sagt er mit Bestimmtheit. »Sie brauchten da oben gerade Steine. Ich weiß es genau, ich war ja selbst oben.«
Happy Jack bleibt stehen und starrt auf die Wand, die Blöcke oben, die dunklen Schatten dazwischen.
In den letzten vier Monaten ist es der vierte Fall gewesen, dass man bei jemanden etwas gefunden hat, mit dem man einen Ausbruchversuch einleiten konnte. Da war Stafford, der die Wagen in Ordnung hält. Bei dem fand man eine Feile und einen Bohrer. Danach Jeffrey, der Nachschlüssel besaß. Der dritte Mann hatte sich mit den beiden anderen Zellenpartnern darangemacht, das Fenster und die Stäbe zu lockern. Und dann kam die verdammte Sache mit Rankins Strick.
Zufall? Gleich viermal Zufall? Happy Jack Harrington glaubt nicht an so viele Zufälle.
»So, du warst oben. Und Ratte Kenton hat mit dir gearbeitet, Ashton? Bist du ganz sicher?«
»Natürlich.«
Wenig später sitzen sie zusammen und löffeln die Bohnensuppe. Und wieder blickt Happy Jack Harrington zu Kenton hinüber. In ihrer Nähe ist niemand, die Gruppen arbeiten verstreut im Steinbruch. Man hat Rankin ganz oben eingesetzt. Lowry ist mit dem Steinekarren beschäftigt. Morris hat Keile zu schlagen. Und Tom Kelly, der fünfte Mann Harringtons, steckt im linken Teil des Steinbruchs.
Happy Jack löffelt schweigsam, aber seine Gedanken arbeiten ohne Unterlass. Es hat Gerüchte gegeben, dass unter den Sträflingen ein Spitzel stecken müsste, aber die Gerüchte sind nun verstummt.
Harrington kennt alle Sträflinge. Hat er keinen von ihnen bisher verdächtigt, dann fragt er sich nun, warum »Ratte« Kenton den feinen Job am Eselskarren bekommen haben mag.
»Du, Ashton.«
Happy Jack hat genug gegessen, ihm schmeckt es heute nicht.
»Ja, was ist?«
»Kenton hat also bei euch gehockt, als die Geschichte mit Rankin passierte. Neben dir?«
»Nicht neben mir, der hockt immer allein. Du weißt doch, dass keiner ihn mag. Er setzt sich zwischen die Felsen, abseits von uns.«
»Wo?«
»Siehst du die Wegbiegung mit den großen Steinen davor?«
»Ja. Und, war er immer allein?«
»Ja. Hör mal, Jack, du denkst doch nicht, dass Kenton …«
»Dem Rattengesicht traue ich nicht über den Weg. Komm mit, Ashton!«
Sie bringen ihre Blechnäpfe zurück, machen dann aber einen Umweg und halten zwischen den Steinen an. Es ist die Stelle, an der Rankin ein Seil versteckte und sich die Stränge in die Hosennähte zog.
Happy Jack Harrington dreht sich um, blickt auf die schroffen Felsen an der Wegbiegung.
»Ashton, komm her!«
Für Ashton genügt ein Blick. Er zuckt zusammen.
»Man kann von oben alles sehen, was zwischen den Steinen hier geschieht. Aber er müsste schon auf die Felsen gestiegen sein, um herabzublicken.«
»Hat er das getan, weißt du das noch?«, fragt Happy Jack. »Saß er genau dort?«
»Nicht auf den Felsen, Happy. Er hockte zwischen ihnen im Schatten.«
Harrington geht auf die steile Wand zu und wartet in ihrem Schatten, bis Kenton wieder unter seinem Karren liegt. Zwar stehen ganz oben auf der Wand die Wachtposten, aber die Sträflinge können sich im Steinbruch frei bewegen. Es ist unmöglich, über die Wände zu steigen und zu flüchten.
Keine zwei Minuten darauf ist Harrington, dem Ashton folgt, auf dem Weg und an den Felsen.
»Wo saß ›Ratte‹, Ashton?«
»Hier, hinter dem nächsten Block.«
Happy Jack macht drei Schritte, dann bleibt er stehen und blickt auf die Aschenreste in dem Spalt zwischen den Steinen. Es hat wochenlang nicht geregnet. Die beiden Felsblöcke klaffen hier auseinander. Eine Art Kimme gibt den Blick auf den Steinbruch und jene Ansammlung von Blöcken frei, in deren Mitte sich Rankin die Hosen auszog und den Strick versteckte.
Ashton wird bleich, als er von der großen Hand Happy Jacks an die Kimme geschoben wird.
»Mann«, sagt er gepresst, »das ist ja …«
»Ja, ein Loch, das von unten nicht zu erkennen ist. Hier hat die verdammte Ratte gesteckt und alles gesehen. Darum haben sie gewusst, wo der Strick unter dem Geröll versteckt lag. Jetzt ist mir alles klar.«
Er flucht, bückt sich und zerreibt die Asche zwischen den Fingern. Er scheint Ashton vergessen zu haben. Happy Jack Harrington murmelt vor sich hin, lacht plötzlich.
»Das ist es«, sagt er, als Ashton sich räuspert. »Er raucht doch so gern. Ohne Tabak kann der nicht leben. Zigarrenasche. Woher hat der Halunke die Zigarre gehabt? Wir bekommen doch nur Tabak. Komm, der Kerl schleicht da unten schon wieder herum!«
Tatsächlich hat »Ratte« Kenton seinen schattigen Platz unter dem Wagen verlassen. Und schlendert im Steinbruch umher. Happy Jack und Ashton verdrücken sich, tauchen dann – ungesehen von Kenton – unterhalb des Weges zwischen den Steinen auf und trotten wieder auf ihre Arbeitsstelle zu. Aus den Augenwinkeln beobachtet Harrington das Rattengesicht und sagt zischelnd: »Der verfluchte Spitzel. Zigarre …, sieh mal einer an. Die haben nur die Aufseher, also kann er sie auch nur von einem der Bluthunde bekommen haben. Ashton, er liegt doch mit Alvis zusammen, oder?«
»Ja.«
»Den kennt Alvis. Der sitzt mit ihm hinten auf dem Wagen, der euch zurück ins Jail bringt. Red mit Alvis. Frag ihn, ob die Ratte vielleicht ein paar Tage von der Sache mit Henry Rankin mal in der Verwaltung bei Dewey oder Larabee gewesen ist. Alvis müsste es wissen, der lässt sich nichts gegenüber der Ratte anmerken. Frag ihn auf der Rückfahrt, verstehst du?«
Ashton blick Harrington an und denkt, dass »Ratte« bisher alle verpfiffen hat.
»Ja«, sagt Ashton. »Und wenn er bei den Aufsehern gewesen ist, was dann?«
»Nichts, was du wissen musst«, antwortet Harrington. »Es ist immer besser, wenn man nichts weiß, klar? Dann kann man bei allen Fragen die Achseln zucken, wenn jemand einen ›Unfall‹ hat, verstehst du, Ashton?«
*
Als Tom Kelly auf den Wagen steigt, gewinnt er den Blick in die Tiefe des Steinbruchs. Schnaufend nimmt er seinen Hut ab. Und weder Höllen-Bäcker noch Saylor, der andere Aufseher, der das Herankarren der Steine bewacht, messen dieser Hutbewegung irgendeine Bedeutung bei.
Kelly aber kann tief unten Rankin sehen. Der trägt ein knallrotes Halstuch, das sich von der nackten Brust krass abhebt.
Unten nimmt Rankin nun auch seinen Hut ab und wischt sich die Stirn. Dann arbeitet er weiter.
Während die beiden Aufseher miteinander sprechen, nimmt Kelly die Steine an, die von den anderen drei Sträflingen heraufgeschleppt werden. Nach einer Weile steigt Dexter, der dritte Sträfling, auf den Wagen, um Kelly abzulösen. Der Kasten füllt sich mit Steinen, aber es wird Mittag, ehe er vollgepackt ist.
Kelly richtet es so ein, dass er als Letzter davongeht. Baker wandert bereits mit Saylor zum Wachhaus am Drahtzaun, der den Steinbruch absperrt, um dort zu essen. Keiner der Aufseher sieht, dass Kelly einen dreieckigen Stein unter das eine Hinterrad des Wagens klemmt.
Narren, denkt Kelly und nimmt sein Hemd vom Bremshebel. Ihr seid so blind wie alte Eulen am Tag.
Er schiebt den Hebel nach vorn. Durch den beladenen Wagen geht ein Ruck. Gefährlich knirscht der dreieckige Stein hinten, aber er hält den Wagen fest. Die Rechnung, die sich jemand gemacht hat, ist aufgegangen.
Der Wagen steht kurz vor dem steil abfallenden Hang, an dessen Kante die Quader gestapelt liegen. Rollt der noch nicht ganz vollgepackte Wagen auch nur zwei Schritte, dann befindet er sich auf dem Hang und wird nicht mehr zu halten sein.
*
Rankin nimmt das Halstuch ab und wedelt sich damit Luft zu.
Das Zeichen, denkt Kelly, es ist soweit.
Er nimmt den schweren Stein, wuchtet ihn hoch. Und dann tritt er auf irgendeinen anderen Stein dieses Haufens, den er aufgeschichtet hat.
Kelly schreit erschrocken, als er kippt, aber niemand außer ihm weiß, dass es Absicht ist.
Kelly kommt genau über dem Hinterrad zu liegen, hält den Brocken in beiden Händen und stößt ihn nach unten.
Der Stein kracht auf den Brocken unten, dessen Dreiecksform genau richtig sein muss.
Ein Knirschen, ein Ächzen, als der Dreieckstein zur Seite geschoben wird. Das Rad dreht sich vor Kelly, die schwere Eisenfelge knirscht mahlend auf den kleinen Steinbrocken des Bodens.
»He, Kelly!«, schreit Baker, als der Wagen sich in Bewegung setzt. Thubman macht einen Sprung zur Seite und sieht, wie sich die Räder schneller drehen.
»Haltet ihn! Haltet ihn!«
»Nein, nicht!«, brüllt Kelly, krabbelt mit aufgerissenen Augen, Furcht im Gesicht, über die Steine. »Nicht rollen! Haltet ihn auf, haltet ihn!«
Viel zu spät, das weiß er. Baker hat eine Sekunde wie erstarrt dagestanden. Die anderen blicken entsetzt auf das rollende Ungetüm.
Schreiend klettert Kelly über die Steine. Baker rennt los, sieht Kelly sich oben festklammern, statt abzuspringen, und brüllt: »Runter, Kelly! Spring doch!«
Polternd knallen und hüpfen die Räder über den unebenen Boden. Die Deichsel schwankt, als Kelly mit einem gellenden Aufschrei, keine sechs Schritte vor den Quadern, über die Kante des Wagens hechtet. Er schlägt hart auf, sieht sich aber dennoch um. Neben ihm rennt Baker, wirft die Arme hoch, brüllt sinnlose Worte.
Und dann prallt der Wagen donnernd gegen die Quadern. Die Deichsel saust wie eine Sichel herum, als ein Stein das linke Vorderrad blockiert, direkt auf Baker zu.
Die Deichsel schmettert gegen den linken Oberschenkel und schleudert den Aufseher wie eine Strohpuppe weg.
Das tosende Poltern, das im nächsten Augenblick an der Kante ertönt, lässt sie Baker und dessen Bein vergessen. Dort stellt sich der Wagen quer, dreht sich noch einmal halb um sich selbst und kippt dann. Mit dem Endbrett voran stürzt der vollgeladene Transportwagen über die Kante. Quader fliegen nach rechts und links in die Tiefe. Den Bruchteil einer Sekunde ragt die Deichsel noch hoch. Dann verschwindet auch sie in der Tiefe.
*
Der Esel zockelt mit dem Karren, auf dem Kenton sitzt, die steile Trasse hoch.
Rechts von Kenton die Felskehre, jene Steine, hinter denen er gelegen und Rankin beobachtet hat. Unwillkürlich sieht sich das Rattengesicht nach Rankin um. Dort hinten hat Rankin die Säge losgelassen, wedelt sich mit dem Halstuch frische Luft zu. Es sieht aus, als winke Rankin ihm.
Kenton blickt nach oben, denn dort poltert es so seltsam. Schreit da nicht einer?
Das Rattengesicht erstarrt.
Der Stein kommt – einer jener Quaderblöcke, die er selbst nach oben gefahren hat. Sieht seltsam aus, wie sich das schwere Ding, das fast dreihundert Pfund wiegt, wie ein Würfel in der Luft dreht und genau auf ihn zukommt.
»Lauf!«, schreit Kenton und will seinen Esel antreiben. »Lauf, du Langohr, lauf doch!«
Er kommt nicht durch, das sieht er nun. Also herum mit dem Karren, weg hier.
Entsetzt blickt er hoch, als er den Esel nach links reißt.
Bockend zerrt das Tier an der Deichsel, will herum, kommt aber nur mit dem Kopf auf die Wand zu. Jetzt steht der Karren quer zum Weg.
Und dann kracht der erste Block herab. Steinsplitter schwirren wie Geschosse durch die Luft. Eins dieser zackigen Stücke trifft den Esel. Der schreit markerschütternd vor Schreck und springt an. Die Sielen straffen sich jäh, die Ketten des Baumes klirren. Und dann kommt ein anderer Stein herabgeschossen.
Ein Bersten, als zerbräche ein Baum. Die Deichsel zersplittert kurz hinter dem Esel und vor dem schreienden Kenton, der die Arme über den Kopf reißt.
Springen, Kenton!
Er will hoch, aber da bricht die Deichsel durch. Der Karren kippt nach hinten, die Quadern kommen ins Rutschen. Und ›Ratte‹ Kenton stürzt rücklings auf sie. Einen Augenblick gewinnt er die Sicht nach oben, während er nach hinten gerissen wird.
Der Wagen, denkt Kenton und sieht das Ungeheuer oben erscheinen, der Wagen kommt.
Hinter ihm kracht der erste Quaderblock hart an die schroffe Kante des Weges. Der zweite, auf dem Kenton liegt, prallt auf den ersten, dreht sich.
›Ratte‹ Kenton wirft sich herum, kommt gerade noch zu Boden und sieht den zweiten Quader in die Tiefe sausen. Eine halbe Sekunde blickt Kenton in den Steinbruch hinab, schaudert vor der Tiefe zurück und wirbelt weg, will springen.
Als er sich dreht, ist sein Karren da. Das Hinterende kommt gegen Kentons Brust und schiebt den Mann ganz langsam über den Felsblock hinweg. Die Räder schurren, als kein Esel mehr die Deichsel hält, auf dem schrägen Weg dem Abgrund entgegen.
»Nein, nein!«
Unten steht einer, hat die Säge losgelassen und hört die anderen Burschen brüllen.
Henry Rankin starrt auf den Staub, den Wagen, der jetzt – wie ein Spielzeug anzusehen auf die Entfernung über die Kante kippt. Ein kleiner Punkt, mehr nicht, das ist ›Ratte‹ Kenton. Im nächsten Augenblick löst sich der Punkt von der Wegkante hoch oben. Ein kleiner Fleck, der in die Tiefe stürzt.
Sträflinge schreien, lassen ihre Arbeit liegen und rennen los. Rankin sieht nur den kleinen Punkt unten an der Wand. Der Wagen schlägt auf die Kante, reißt den Quader mit. Beide fallen dem kleinen Punkt nach, der schon unten angekommen ist.
Happy Jack Harrington stößt Rankin in die Seite.
»Komm, sonst fällt es auf! Keiner achtet auf uns. Lauf, Henry!«
Da reißt es ihn aus seiner Erstarrung. Er setzt sich in Bewegung, stürmt den anderen nach. Von allen Seiten rennen sie auf die Stelle zu, an der jener schwere Wagen herabgefallen ist.
Trümmer, gebrochene Räder. Eine Deichsel liegt zwanzig Schritte weiter. Verstreut die Speichen wie Knochen eines Skeletts am Boden.
Und unter dem Wagen …
»Hochheben, schnell, Stangen her! Packt alle an, wuchtet die Trümmer hoch!«
Christie brüllt, Darwin und Ames, der andere Aufseher, schreien durcheinander. Als die Sträflinge zugreifen und den Unterbock des Wagens so weit hochwuchten, dass Christie Kenton herausziehen kann, steht einer dicht daneben und blickt aschfahl Happy Jack Harrington in die Augen.
Nichts als Eiseskälte ist in Harringtons Blick. Und nur Hass und Genugtuung in den Augen von Rankin.
Männer tragen, argwöhnisch nach oben blickend, den stummen Kenton in den Schatten. Dort reißt man ihm das Hemd auf, flößt ihm Kaffee ein.
»Er lebt noch«, sagt einer der Aufseher. »Sein Puls geht, Christie. Aber die Beine, sein Rücken …«
Kenton bewegt die Lippen, schlägt die Augen auf.
»Was hat er gesagt, Christie?«
»Ihm sei so kalt, Borger. Hallo, Kenton!«
Der sucht den Mann mit dem roten Tuch. Es sah aus, als habe Rankin winken wollen.
Und dann sieht er Happy Jack Harrington.
Ich muss es sagen, denkt Kenton, Christie muss ich es doch sagen. Es war Absicht.
Sie sehen alle, dass er die Lippen bewegt, aber er spricht nicht. Er stiert Rankin und Harrington an, doch reden kann er nicht mehr.
Kentons Lider flattern, sein Kopf sinkt zur Seite. Dieser Mann wird keinen mehr verpfeifen.
»Er ist tot«, sagt Christie, und Rankin denkt, dass es überflüssige Worte sind. »Teufel, wie ist das passiert?«
Sie sind fünf und könnten es ihm genau sagen. Aber sie schweigen sich aus, sie wissen gar nichts. Ein Unfall, wie?
»Ich weiß nichts«, sagt Kelly, als sie ihn in die Zange nehmen und Larabee ihn durchbohrend ansieht. »Hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich selbst mit in die Tiefe gegangen, Sir. Was sagen Sie, Sir, ein Racheakt? Weiß ich, wer an den Hebel für die Bremsklötze gekommen ist. Fragen Sie doch Mr Baker, der müsste es gesehen haben. Vielleicht hat einer der anderen an den Hebel gestoßen. Wir mussten ja die schweren Steine schleppen. Da kann so was vorkommen, Sir.«
Sie wissen nichts.
Zu Alvis kommt ein anderer Mann in die Zelle.
Und Ashton träumt nur ein paar Nächte immer das Gleiche: Kelly macht die Bremse los und lässt den Wagen rollen. Aber danach träumt er von dem Girl, das er zuletzt in Chinese Flat hatte.
Man vergisst hier schnell, denn die Arbeit ist hart. Der Mai geht vorbei, der Juni hält mit noch stärkerer Hitze seinen Einzug.
Im Steinbruch lastet die Hitze wie eine Glocke über halbnackten Leibern. An der Säge stehen Harrington und Lowry. Drüben arbeitet Kelly mit Rankin zusammen. Sie treiben an der linken Wand Löcher ins Gestein.
»Übermorgen sind wir fertig«, sagt Rankin leise zu Kelly. »Sie werden den Wagen mit den Sprengpatronen herschaffen. Am Abend stopfen wir die Löcher noch voll, Tom.«
»Wir müssen es so einrichten, dass der Wagen ankommt, wenn wir gerade fertig sind.«
Rankin nickt kaum merklich.
»Es wird kurz vor Feierabend sein, ehe wir mit den Löchern fertig sind«, flüstert Rankin. »Christie meldet es dann. Sie bringen das Zeug nicht früher, verlass dich darauf. Ich wette, dass sie eins der Gespanne nehmen werden, das sonst die Wagen mit den Sträflingen ins Jail fährt. Die sparen immer. Genau das wird ihr Fehler.«
Zwei Kisten mit Sprengpatronen müssen hergeschafft werden. Im Jail werden sie sich sagen, dass es unsinnig ist, noch ein Gespann dafür zu brauchen, wenn doch zwei hier oben sind für die beiden Wagen. Also wird man das eine Gespann nehmen, um anschließend im leeren Wagen die Gefangenen nach Hause zu fahren.
»Und wer wird fahren?«, will Kelly wissen. »Wer von ihnen darf an Sprengstoff heran?«
»Larabee.«
»Ausgerechnet der? Kann es denn kein anderer machen?«
»Nicht bei Sprengstoff, Tom, wirst es sehen.«
»He, arbeitet ihr oder macht ihr Pause?«, brüllt Christie von unten herauf. »Los, macht voran! Übermorgen Abend werden die Löcher gestopft, das wisst ihr, also beeilt euch gefälligst.«
Kelly hebt den Hammer, schlägt zu, während Rankin den Bohrer langsam dreht.
»Du, Henry, und wenn wir nicht hinkommen?«
Rankin grinst spöttisch.
»Mir fällt die Werkzeugkiste runter, wenn alles andere nicht hilft«, sagt er zischelnd. »Ich wette mit dir um meinen Beuteanteil, ehe sich ein Aufseher bückt, um die Werkzeuge zu suchen, treibt er uns mit tausend Flüchen zwischen die Steine.«
Er hat recht, denkt Kelly, ein Aufseher und Werkzeug aufheben? Eher sterben die hochmütigen Burschen.
Nur kurz blickt er auf die Steine, das Ende des Gerüstes mit der Leiter. Das Gerüst reckt sich dicht neben den Steinen an der Wand hoch. Die Felsbrocken liegen in einem derartigen Durcheinander, dass das Werkzeug sonst wohin fallen kann. Zwischen den Steinen aber muss man lange suchen. Und kein Aufseher wird einem dabei helfen.
*
An den Steinen, hinter denen einmal »Ratte« Kenton gekauert und Rankins Versteckspiel beobachtet hat, bringt Charles Morris den Karren zum Stehen. Dann steigt er ab, und jeder wird glauben, dass er nur mal austreten muss.
Tom Kelly wirft das letzte Werkzeug in die Kiste. Nur noch die Stopfstange bleibt auf dem Gerüst liegen.
»He, fertig?«, fragt Christie von unten. »Dann macht, dass ihr herunterkommt.«
Rankin schultert die Kiste. Er lässt Kelly zuerst absteigen. Dann ist Tom unten, blickt abwartend nach oben und wischt sich zweimal über das Gesicht. Es ist das Zeichen für Rankin, dass die Leiter steil genug steht.
Langsam setzt Rankin die Werkzeugkiste ab. Danach steigt er vorsichtig auf die Leiter, nimmt die Kiste, zieht sie heran und wuchtet sie auf die linke Schulter. Er steigt Sprosse für Sprosse tiefer, blickt einmal auf den Geröllhaufen rechts und dreht sich, als er noch fünf Schritte über dem Boden ist, über die linke Schulter nach außen.
In der nächsten Sekunde hört er über sich das typische Klopfen. Die Holme der Leiter haben sich vom Gerüst entfernt, sind aber noch einmal zurückgeschlagen. Nur ein winziges Neigen von Rankins Oberkörper. Dann gibt es keinen festen Stand für die Leiter mehr.
Unten steht Kelly, schreit auf, macht einen Satz auf die Leiter zu und versucht sie noch zu halten. Obwohl er an die Holme packt, stößt er sie nicht nach vorn, sondern zieht sie nach außen. Dabei ruft er: »Mr Christie, schnell!«
Zu spät. Die Leiter kippt, und Rankin brüllt lauthals.
Aus vierzig Schritten Entfernung, im Rücken von Darwin, beobachtet Happy Jack Harrington jede Phase des Falls von Rankin. Genau richtig, denkt Happy Jack Harrington zufrieden, als Rankins linke Faust die Kiste im Bogen wegschleudert.
Rankin stößt sich ab. Er fällt auf den Geröllhaufen, bleibt liegen und hört neben sich das Sausen, mit dem die Leiter kommt.
»Mensch!«, zischt Lowry. »Mensch!«
Natürlich hat Kelly die Leiter nicht halten können. Er ist von ihr zu Boden gerissen worden und steht nun fluchend wieder auf.
»Diese Tölpel!«, knurrt Darwin wütend. »Das hätte verdammt mit einem Beinbruch enden können. He, Christie, ist was passiert?«
Es scheint nichts passiert zu sein, denn Rankin stemmt sich hoch. Aber als er gehen will, knickt er ein und bleibt auf den Knien liegen.
»Mein Bein. Verdammt, die Leiter, das Dreckding!«, jammert Rankin.
Er kommt erneut hoch, kann nun, wenn auch humpelnd, gehen und starrt Christie verstört an. Der baut sich vor ihm auf, deutet auf die Felsblöcke, zwischen denen die Kiste verschwunden ist, und sagt zornig: »Ihr verdammten Trottel, könnt ihr nicht aufpassen? Was, zum Teufel, geht mich dein Bein an, Rankin? Vorwärts, holt die Kiste her! Das Ding war ja offen, Kelly.«
»War sie offen?«, fragt Kelly und reibt sich den Ellbogen. »He, Rankin, war sie wirklich offen?«
»Weiß ich das? Ich hab’s klirren gehört, also muss sie offen gewesen sein. Kelly, du Idiot, du hast eingepackt. Kannst du sie nicht zumachen, du Affe?«
»Nenn mich nicht Affe!«, brüllt Kelly los. »Ich sage dir, ich habe sie zugemacht.«
»Eben nicht.«
»Ruhe!«, brüllt Christie dazwischen, als die beiden Sträflinge aufeinander losgehen wollen. »Das fehlte noch. Ganz gleich, wie es war, sucht beide!«
Sie verschwinden zwischen den Steinen. Gleich darauf hebt Rankin fluchend die leere Kiste hoch, sieht Christie an und sagt: »Alles ausgekippt und verstreut. Ich bin doch nicht verrückt, das Werkzeug zusammenzulesen. Hätte er die Kiste verschlossen, wäre das …«
»Ihr sucht beide. Habe ich das nicht laut genug gesagt?«, faucht Christie ihn an.
Rankin steckt bald darauf hinter einem Block und sieht Kelly grinsend an. Dann klirrt er mit einem Schraubenschlüssel und sagt giftig: »Dahinten liegt das Zeug. Hätte ja gleich bis in den Pazifik fliegen können. Kelly, du Trottel. Na, los, du holst es her!«
»Geh du doch, Kerl!«
Und dann sind sie weg.
Christie macht sich nicht die Mühe, ihnen nachzugehen. Er bleibt stehen, sieht Carter, den dritten Posten im Steinbruch, herankommen und unterhält sich mit ihm. Währenddessen schallen die wütenden Worte der beiden Sträflinge irgendwo zwischen den Felsen heraus. In diesen Sekunden sieht sie niemand. Dafür aber sehen sie den Karren, der in rascher Fahrt den Steilweg herabrollt. Dazwischen das Rumpeln eines Wagens. Und irgendwo pfeift jemand ein paar Takte von »Meine Tante Rosalie«.
*
Der Wagen kommt von rechts, rollt nicht zu schnell. Dafür aber hat Morris seinen Esel mit der Stange angetrieben, sodass der Karren in ungewöhnlichem Tempo über den steilen Saumweg herabdonnert.
Einen Blick nur wirft Morris auf Larabee, der den Wagen lenkt und nun zu Morris sieht. Larabee hat – eine Angewohnheit, die jeder hier kennt seine Zigarre im Mundwinkel.
»Narr!«, zischelt Morris, während sein Karren immer schneller über den Weg holpert und Larabee ihn besorgt beobachtet. »Denk nur immer, dass mir der Esel verrückt geworden ist. Am Ende bist du selbst ein Esel. So ist es richtig, es muss noch echter wirken.«
Morris richtet sich auf, während der Karren auf die Weggabelung zuschießt. Da Morris dort scharf nach links lenken muss, kann eine zu schnelle Fahrt gefährlich sein.
Doch all das scheint Morris nicht zu wissen. Vielleicht glaubt Larabee auch, dass Morris unbedingt vor ihm die Gabelung passieren will.
Sie sind kaum noch zwanzig Yards voneinander entfernt. Der Augenblick ist gekommen, an dem Morris herumlenken muss. Als er die linke Leine strafft, weiß Morris, was unweigerlich geschehen muss. Er schreit auf, tut so, als könne er den Esel nicht zügeln, und spürt im Herumreißen, dass der Karren zur Seite ausbricht. Während die Räder über das lose Gestein schurren, reißt Morris die eine Leine noch straffer an. Und der Erfolg stellt sich in der nächsten Sekunde ein.
Der Karren wird nun so weit herumgeschleudert, dass die ersten großen Felsblöcke dem rechten Rad gefährlich nahe kommen.
Jäh dreht sich der Karren ganz herum. Seine rechte Seite schießt auf den ersten Felsblock zu. Morris verliert den Halt und stürzt in den Kasten, in dem er liegenbleibt und sich festklammert. Dann folgt der berstende Knall, mit dem das Rad rechts an das Gestein donnert. Ein Krachen, Splittern und Brechen. Die Speichen des Rades wirbeln wie Streichhölzer durch die Luft. Dann kippt der Karren auf die rechte Nabe. Die reißt den Boden auf. Der Karren blockiert den Weg völlig, sodass Larabee mit dem Transportwagen nicht vorbeifahren kann.
Einen Moment verharrt Morris, als habe er sich den Kopf am Kasten gestoßen, dann stemmt er sich fluchend hoch. Torkelnd steigt er ab, hält sich den Kopf und sieht verstört auf das zerborstene Rad.
»Du verfluchter, langohriger Hundesohn!«, sagt er zu seinem Esel. »Geht mir durch, das verdammte Vieh. Dir werde ich’s zeigen.«
Morris reißt die Stange hoch und holt aus. Dabei lauscht er aber den Geräuschen in seinem Rücken.
Der Wagen kommt unmittelbar hinter dem Karren zum Stehen. Ehe Morris, der vor Wut den Verstand zu verlieren scheint, mit der Stange auf den Esel losprügeln kann, sagt hinter ihm Art Larabee scharf: »Lass das sein, Morris! Die Stange weg! Wenn der Esel durchgegangen ist, dann liegt es an dir.«
Morris blickt hoch, als erwache er aus einem Traum. Im Umwenden sieht er, dass Carter und Christie nun für nichts anderes mehr Interesse zu haben scheinen als für den schiefliegenden Karren. Auch Darwin, der dritte Aufseher, setzt sich langsam in Bewegung.
Niemand achtet auf die beiden Sträflinge, die das Werkzeug zusammensuchen sollen.
»Der bockbeinige, schreiende Halunke!«, schimpft Morris und schätzt die Entfernung zu Larabee, der auf dem Wagen steht, auf höchstens drei Yards. »Er hat mich den ganzen Tag geärgert, der Mistbock. Das schöne Rad.«
»Du bist zu schnell gefahren, das ist der Grund«, sagt Larabee. »Zieh den Karren zur Seite, damit ich vorbeifahren kann!«
Morris flucht verhalten, geht mit der Stange um den Karren und verkürzt den Abstand zu Larabee auf kaum zwei Yards. Die Entfernung ist nun so zusammengeschrumpft, dass Morris mit der Stange auch Larabee erwischen könnte, statt nur den Esel zu verprügeln.
Rechts hinter Larabee liegen die schweren Felsbrocken. Und zwischen ihnen taucht jetzt Rankin auf. Kaum sieht ihn Morris, der sich durch kein noch so geringes Augenzucken verrät, als er laut flucht, sich nach einer Radspeiche bückt und dabei zu Carter und Christie blickt.
Der Esel und der schiefliegende Karren verdecken für die beiden anderen Aufseher jene Felsen, zwischen denen nun Rankin und Kelly stehen.
Henry Rankin hebt den rechten Arm.
Und dann geschieht es.
Rankin macht nur einen einzigen Schritt, lässt den Schraubenschlüssel durch die Luft wirbeln. Es saust wie ein Wurfgeschoss auf Larabee zu.
Rankin verfolgt den Flug des Eisenstücks mit angehaltenem Atem. Die zwei Sekunden Flugzeit steht Rankin ohne eine Bewegung durch. Dann trifft der Schraubenschlüssel Larabees Hinterkopf.
Es kommt für Larabee wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Einen winzigen Moment glaubt Larabee hohles Sausen hinter sich zu hören, aber ehe er auch nur den Kopf bewegen kann, prallt ihm der Schraubenschlüssel an den Hut. Vor Larabees Augen verwandelt sich das Grau des Steinbruchs in eine rote Stichflamme.
Dann kommt die Nacht für den stellvertretenden Oberaufseher um ganze dreieinhalb Stunden zu früh. Mit einem ächzenden Laut, begleitet vom Poltern des Schlüssels, der hinter ihm im Kasten landet, kippt Larabee über den Bock.
Rankin hechtet vorwärts, erreicht das Endbrett und schwingt sich hoch.
Erst in diesem Augenblick erkennt Christie entsetzt, dass Larabee sich nicht geduckt hat oder sich setzen wollte. Dreißig Schritte von Christie und Carter entfernt erscheint Rankin wie aus dem Nichts über dem Endbrett des Transportwagens. Christie blickt in Rankins verzerrtes Gesicht. Dann ist der Sträfling bereits wieder verschwunden. Doch hinter ihm taucht noch eine Gestalt auf.
Wie, denkt Christie, und ist im ersten Schreck zu keiner Bewegung fähig, Kelly auch? Sie sind zwischen den Steinen in Larabees Rücken geschlichen. Das ist Meuterei!
Als Kelly über das Endbrett hochfliegt, kommt Rankin bereits am Bock hoch, aber er erscheint nicht allein.
Christie, der das Gewehr hochreißen will, ist zu langsam. In derselben Sekunde erscheint der besinnungslose Larabee vor Rankin – ein lebendes Schild, ein Kugelfang für jeden, der es wagen sollte, auf Rankin zu feuern!
An Larabees Kopf sitzt die Mündung des Revolvers. Und Rankin sagt fauchend: »Lass fallen! Weg mit dem Gewehr, sonst bekommt Larabee eine Kugel!«
*
Neben ihm schnellt jetzt Kelly hoch, das Gewehr, das jeder Aufseher mitführen muss, unter der Achsel! Die Mündung der Waffe schwenkt herum. Dann zeigt sie auf den Bauch von Mike Carter, der sein Gewehr noch nicht mal durchgeladen hat.
»Carter, lass fallen!«
Es ist Christie, als ziehe sich sein Magen zusammen. Vor seinen Augen haben zwei der Sträflinge Larabee ausgeschaltet. Und es gibt keinen Zweifel, dass sie jedes ihrer Worte in die Tat umsetzen werden. Larabees bleiches Gesicht wirkt verzerrt, da Rankin den Aufseher an den Haaren hochgerissen hat. Ein fürchterlicher Anblick, der Christie das Blut in den Adern stocken lässt.
Darwin, denkt Christie, Darwin ist noch da, er wird…
Aber der Gedanke an Hilfe, die Darwin, der dritte Aufseher, noch bringen könnte, verfliegt in derselben Sekunde.
Darwin ist vielleicht elf Schritte vor Happy Jack Harrington und Lowry. Wie immer hält er sich seitlich der Sträflinge, hat sein Gewehr unter dem Arm und sieht entsetzt, was auf dem Transportwagen geschieht. Als Darwin handeln will, sind Lowry und Happy Jack Harrington bereits dicht hinter ihm. Jeder hat nur auf den Wagen und den Karren geachtet, und auch Darwin hat sich nicht umgeblickt.
Harrington hält die schwere Brechstange in den Händen, mit der die Quaderblöcke bewegt werden. Das Ding ist anderthalb Yards lang, an der Spitze leicht gebogen und abgeflacht. Kaum sieht Harrington, dass Rankin und Kelly Larabee erwischt haben, als er die schwere Stange herumwirbelt.
»Carter!«, schreit Kelly in diesem Augenblick mit überschnappender Stimme. »Lass fallen!«
Die Stange fliegt los, als Darwin eine Bewegung macht, um durchzuladen und das Gewehr hochzunehmen. In der Sonnenbahn scheint ein flirrendes Rad über den Boden des Steinbruchs hinwegzuschießen. Dann stößt Darwin einen schrillen Schmerzschrei aus. Die Stange säbelt ihm die Beine weg. Seine rechte Kniekehle schmerzt jäh, als sei sie durchschlagen. Er knickt nach hinten ein, fühlt nichts als rasenden Schmerz und liegt auf dem Gewehrkolben. Dennoch macht Darwin den Versuch, seine Waffe hochzureißen. Er dreht sich, kommt auf die Seite, zieht das Gewehr unter sich heraus und sieht dann den Schatten.
Jim Lowry ist losgestürmt, stößt sich drei Schritte vor dem Aufseher ab und fliegt auf ihn zu. Der Anprall schleudert Darwins Gewehr zur Seite. Die Waffe klirrt auf das Gestein, während Lowrys Faust herabschlägt. Der Hieb erwischt Darwin und jagt eine neue Schmerzwelle hoch. In seinen heiseren Schrei hinein hört Darwin Lowrys hassvolle Stimme fauchend zischeln: »Du willst schießen, du willst schießen, du Narr, du verdammter?«
Mit weit aufgerissenen Augen stiert Darwin auf die Schatten, die sich jetzt überall bewegen. Dann taucht der riesenhafte Harrington über ihm auf. Auch Happy Jack Harrington stürzt sich auf den Aufseher.
»Schrei nicht!«, keucht Harrington. »Halt’s Maul, du Sklaventreiber!«
Ein Ruck, dann ein Stoß, und Darwins Kopf knallt gegen den Boden. Darwin sieht nur Feuerräder, spürt den zweiten Aufprall kaum und versinkt in Dunkelheit und Schweigen.
Blitzschnell rollt sich Lowry, der ihn gehalten hat, zur Seite. Dann schnappen Lowrys Hände nach dem Gewehr. Jetzt kommt das scharfe Klicken, mit dem Lowry durchlädt. Neben ihm stößt Harrington den Aufseher weg, entreißt ihm den Revolver und schnellt wieder auf die Beine.
Und dann laufen sie an verstörten anderen Sträflingen vorbei auf Christie und Carter zu.
Christie hört sie kommen, wagt sich aber nicht umzusehen. Die Furcht, dass Rankin Larabee eine Kugel in den Kopf jagen könnte, lässt Christie bewegungslos stehenbleiben.
»Haben wir euch?«, hört er Harrington sagen, dessen Stimme im Näherkommen immer lauter wird. »Da hast du deinen Teil, Antreiber.«
Vielleicht weiß Christie, was auf ihn wartet, aber er rührt sich nicht. Von oben zischt die Faust Harringtons herab. Ein Blitz vor Christie, der unmittelbar vor seinen Füßen einzuschlagen scheint. Dann geht der dritte Aufseher mit einem leisen Seufzer zu Boden. Er schlägt hin. Die Zeit steht für ihn still.
Carter aber zuckt, will sich ducken und hat den Lauf des Gewehrs im Rücken. Der Stoß, den Lowry ihm gibt, schleudert Carter nach vorn. Er fällt auf alle viere, sieht neben sich den Schatten und zieht doch zu spät den Kopf ein. Dann liegt auch Carter, die Hände ausgestreckt, und scheint sich in den Boden krallen zu wollen.
Noch immer stehen einige der Sträflinge wie erstarrt an ihren Arbeitsplätzen. Wenige nur haben erkannt, dass Happy Jack Harrington einen Plan gehabt und nun in die Tat umgesetzt hat.
»Mann«, sagt Tubman stockheiser. »Mann, wir haben sie. Wir haben die verdammten Antreiber erwischt.«
Er rennt los, aber ehe er bei Christie ist, hat Harrington schon dessen Gewehr und Revolver genommen.
»Kelly, schnell!«
Kelly ist bereits vom Wagen gesprungen. Noch sind keine fünfzehn Sekunden seit dem Zusammenbrechen Larabees vergangen, und schon haben sich vier Banditen bewaffnet. Im Abspringen wirft Kelly das Gewehr Larabees dem kleinen Morris zu. Der fängt es geschickt auf, schießt einen Blick auf Happy Jack ab und fragt fauchend: »Soll ich los?«
»Hau ab!«, keucht Harrington. »Lauf, bis du nicht mehr kannst. Du hast höchstens eine halbe Minute, Mann.«
Harrington schleudert Morris den Revolver von Christie zu. Jetzt besitzt Morris zwei Waffen. Zum Erstaunen der anderen Sträflinge, die den Plan Harringtons nicht kennen, rennt Morris jetzt in langen Sätzen den steilen Pfad hoch, über den er gerade mit dem Karren ins Tal gekommen ist.
»Zwischen die Felsen mit den Burschen, schnell, schnell! Fass an, Alvis!«
»Die Hunde!«, keucht Alvis, als ihn Harrington anschreit. »Jetzt sind sie unsere Gefangenen und sollen spüren, wie das sein kann. Her zu mir, Tippet!«
Dreizehn Männer sind hier unten im Steinbruch, vier oben zum Verladen der Quadersteine und des Schotters eingeteilt, während zwei Mann an der Lore sind, die den Schotter heraufbefördern.
Tippet und Alvis packen Christie, zerren ihn hinter die Felsen und schnallen ihm den Hosenriemen ab. Dann zurren sie ihm die Hände auf dem Rücken zusammen.
Harrington und Lowry aber schleifen Carter weg, während Thubman sich den schlafenden Darwin auf den breiten Rücken wirft.
Kaum sind die drei Aufseher zwischen den Felsen verschwunden, als Rankin Larabee mit einem Stoß vom Wagen befördert. Der stellvertretende Oberaufseher kippt auf die Steine, irgendwer zieht ihn an den Beinen in den Schutz der Blöcke und sagt heiser: »Dir schlage ich die Zähne aus, Halunke. Eine Woche Dunkelzelle, nur weil ich Logan, den verdammten Schließer, einmal gestoßen habe. Weg mit dir, du Lump!«
»Binden, schnell!«, faucht Harrington dazwischen. »Arbeitet weiter, Leute! Tut so, als sei nichts passiert. Clifford, der die Lorenmannschaft beaufsichtigt, muss jeden Moment oben erscheinen. Er darf nicht sehen, dass hier keiner seiner Partner mehr steht. Alvis, schnell, den Hut von Christie auf! Stell dich so hinter den Block dort, dass es von oben aussieht, als wache Christie über die Arbeit. Mann, schnell!«
Dies ist der einzige Punkt in Happy Jack Harringtons Rechnung, der nicht ganz genau einkalkuliert werden konnte. In diesen wenigen Sekunden steckt Harrington die Furcht im Leib, dass Clifford auftauchen und die Veränderung in der Tiefe des Steinbruchs erkennen könnte. Bemerkt der Wächter Clifford zu früh, was hier gespielt worden ist, dann kann der ganze Plan fehlschlagen.
Außer Clifford steckt noch Saylor am oberen Rand des Bruchs. Saylor bewacht an Hell-Bakers Stelle die Verladearbeiten. Am Zaun, der den Ausgang dieses Lochs hermetisch abriegelt, hält der dritte Aufseher, Meads, im Blockhaus Wache und lässt niemanden durch das Tor. Neben dem Blockhaus liegt der Stangencorral, dessen eine Seite eine Mauer aus Bruchsteinen bildet. Und im Corral sind vier Pferde. Gelingt es einem der anderen beiden Posten, Meads zu warnen, kann der sich einen der Gäule nehmen. Und jagt er dann zum Jail, während Saylor und Clifford die Sträflinge von oben in Schach halten, wartet auf Harrington und die anderen die Hölle.
»Schneller!«, keucht Harrington. »Arbeitet doch, arbeitet, als sei nichts passiert! Sie dürfen es nicht merken, sonst sind wir alle fertig. Schrei nicht, Gaston, du Narr! Es gibt noch keinen Grund zum Jubel, noch sind wir nicht draußen. Denkt an Saylor, Clifford und Meads! Los, los, Alvis, auf deinen Platz! Nimm die Hacke wieder, Lou, nimm sie endlich!«