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Das Uhrwerk

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Der Schlüssel wog schwer in meiner Hand. Ich musterte seinen Schaft und den breiten Messingbart und mir fiel auf, dass feine Linien ins Metall geätzt worden waren.Im Dämmer meiner Schreibstube hatte ich diese Verzierung nicht weiter bemerkt,doch jetzt, wo ich bei Tag auf den Stufen zum herrschaftlichen Wohnsitz meines Onkels stand, schimmerten die Kreise und Arabesken wie gereinigtes Quecksilber. Eine kunstvolle Arbeit. Warum hatte sein Dienstbote mir den Schlüssel gebracht? Der beigelegte Brief – eigentlich war es nur ein verknickter Zettel gewesen – gab mir nur wenige Anhaltspunkte, weshalb Gustav von mir verlangte, ohne Umschweife zu seinem Landsitz hinauszufahren:

Lieber Cornelius,Weimar, 23.9.1874

es ist mir wirklich unangenehm, Dich mit einem dringlichen Aufruf behelligen zu müssen. Ich weiß, wie sehr Dich Deine medizinischen Studien zurzeit einspannen, aber widrige Umstände zwingen mich dazu, Dich unverzüglich zu mir zu bitten.

Gustav Berling

P.S.: Dreimal links, einmal rechts

Das klang ernst. Anderntags hatte ich meinen Koffer gepackt, war am Flügeltor aus der Kutsche gestiegen und den Kiespfad zum Herrenhaus hinaufgeschlendert, das mein Onkel, wie ich sah, arg verkommen ließ: Welker Efeu überrankte die Balkone der Oberetage, die unteren Erkerfenster, früher bunt schillernde Glaskunstwerke, wirkten trübe und schmutzig; außerdem bemerkte ich ein Loch im Dach, es fehlten mehrere Tonschindeln – dort kam der Holzgiebel durch.

Hatte Gustav etwa Schulden, dass er die Reparaturkosten nicht aufbringen konnte? Als Uhrmacher war er schon vor Langem in den Ruhestand getreten, mit einem stattlichen Vermögen, soweit mir bekannt. Merkwürdig, etwas stimmte hier nicht. Und was wollte er von mir?

Wir beide hatten längere Zeit kein Wort miteinander gesprochen – nicht, weil wir im Streit auseinander gegangen wären, es lag an meiner Doktorarbeit, die mich seit Monaten zum Einsiedlertum verdammte; alles, was ich in den letzten Wochen zu Gesicht bekommen hatte, waren Kolben, Bunsenbrenner, Chemikalien gewesen. Die einzige lebende Seele in meiner Nähe brachte mir täglich das Essen, meine Haushälterin Elise; andere soziale Kontakte vernachlässigte ich sträflich. So gesehen kam mir dieser ungeplante Besuch doch sehr gelegen. Etwas Abstand zu meinen Forschungen konnte ich dringend gebrauchen – drei Tage Urlaub, sofern mich mein Onkel mit offenen Armen empfing. Mehr aber nicht.

Die Fronttür war erwartungsgemäß abgeschlossen, und so schob ich den Messingschlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal im Uhrzeigersinn, bis ich mich der letzten Zeile des Briefes entsann und den Schlüssel wieder herauszog, um ihn erneut hineinzustecken. Dreimal links, einmal rechts – ein lautes, metallisches Knirschen drang zu mir durch, dann hörte ich einen Mechanismus anlaufen, offenbar Zahnräder, die ineinandergriffen, ehe die Türe wie von Geisterhand aufschwang. Vor mir befand sich die Eingangshalle, ein holzgetäfelter Boden, Vasen aus Porzellan, weiter hinten graue Gemälde im Schatten. Zögernd trat ich ein.

*

Drinnen war es totenstill, kein Ticken oder Klacken, kein Pendel, das schwang. Sofort fiel mir auf, dass die Standuhr fehlte – ein wahres Monstrum aus Gusseisen, mit barockem Gehäuse und einem Zifferblatt so groß wie ein Teller, Dutzende Zentner schwer. Warum hatte sie mein Onkel aus dem Haus geschafft? Möglicherweise an einen Sammler verkauft?

Eine leichte Unruhe befiel mich, während ich an der leeren Stelle vorbeischritt, wo sich die Silhouette der fehlenden Uhr auf der Tapete abzeichnete, ein heller, fast weißlicher Fleck; Jahrzehnte hatte sie dort gestanden, nun war sie plötzlich verschwunden.

»Gustav?«, rief ich halblaut, mich dem Rauchsalon nähernd. Ich stieß die Türe auf und ging am Piano vorbei zu den Lehnsesseln am Kamin. Das Feuer war nahezu ausgebrannt, nur blasse Zungen leckten über die knackenden Scheite. Tiefe Schatten, die Vorhänge waren zugezogen. Ich stellte den Koffer ab.

»Gut, dass du gekommen bist.« Der Tonfall seiner Stimme wirkte kraftlos, dumpf und kratzig und seltsam weit fort.

Und als ich den Sessel passierte, ihm die Hand reichen wollte, traf mich beinah der Schlag: Gustavs Kopf, sein Hals, seine Schultern waren dürr und eingefallen – Haut und Haare glänzten wächsern wie bei einer Spielzeugpuppe oder schlimmer: wie bei einer Leiche, die man einbalsamiert hatte. Ein Schauer kroch mir den Nacken herunter.

»Mein Gott, du bist schwerkrank. Hast du deinen Leibarzt konsultiert?« Aus diesem Grund hatte er mich also herbeigerufen, und das, obwohl er wusste, dass ich weder einen Doktortitel noch größere Berufserfahrung vorweisen konnte. Außerdem befassten sich meine Forschungen mit dem Zelltod, nicht mit der Heilung von Krankheiten. Ich ergriff seine Hände, sie waren eiskalt. »Wie ist dein Zustand, Onkel? Hat dich schon jemand untersucht?«

Mechanisch hob Gustav eine Hand und deutete auf den zweiten Sessel. »Bitte, setz dich.«

Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht schien wie gelähmt, eine Maske – kein Muskel rührte sich unter der wächsernen Haut. Auch wenn ich auf diesem Gebiet kein Experte war, vermutete ich einen Schlaganfall oder ein schweres Leberleiden. »Du musst unverzüglich ins Spital. Wo ist dein Dienstbote Heinrich? Er soll dich –«

»Hör mir genau zu«, unterbrach er mich heiser. »Ich habe etwas Furchtbares getan, von dem ich dir beichten will, ehe es zu spät für uns ist. Bitte, es kostet mich Kraft, also unterbrich mich jetzt nicht.«

Ich zögerte, dann setzte ich mich, lehnte meinen Rücken ans Polster. »Na schön, was möchtest du mir erzählen?«

Schläfrig drehte Gustav den Kopf, betrachtete meine Brust mit glasigen Augen. Er schien unendlich müde; die Lippen bewegten sich kaum, während er sprach:

»Soweit ich zurückblicken kann, übten leblose Dinge eine weit größere Faszination auf dich aus als lebende. In deiner Kindheit hast du Schmetterlinge gejagt, um sie auf Kork zu spießen, seltene Steine gesammelt oder tote Hasen seziert. Du warst schon immer der Forscher und ich habe dein Talent unterstützt, auch weil ich mich in dir widerspiegeln konnte: Was für dich Muskeln und Sehnen, waren für mich Zahnräder und Metallfedern; mit Leidenschaft habe ich meine Uhren hergestellt, die mir ein bescheidenes Vermögen einbrachten.«

»Ja, Onkel.« Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. Worauf wollte er hinaus? Immer noch starrte er auf meine Brust, völlig unbewegt. Mir kam der schreckliche Gedanke, dass Gustav vielleicht bald sterben würde. War es das, was er mir im dramatischen Vortrag beibringen wollte: dass er unheilbar krank war? Soweit mir bekannt, hatte er die Siebzig längst überschritten.

Seine Halswirbel knackten, als er den Kopf zum Kamin drehte. »Lieber Cornelius, ich habe in den letzten Jahren viel Zeit alleine verbracht. Ava, meine zweite Frau ist mir, wie du ja weißt, durch diese furchtbare Schwindsucht unter den Händen weggestorben. Mein Sohn Karl wurde in der Schlacht bei Sedan erschossen. Und du warst mit deinen Forschungen beschäftigt. Als alter Mann fühlt man sich leicht einsam, kommt dann auf seltsame Ideen, gefährliche Vorhaben, denen man nachgeht, oder sollte ich besser sagen: denen man schnell verfällt. Ich habe viel gelesen in diesen Jahren, mich mit Sachen beschäftigt, die besser –«

»Worauf willst du hinaus?«, ging ich gereizt dazwischen. Geduld gehörte nicht zu meinen Stärken.

Doch Gustav fuhr einfach fort, als hätte er meine Frage überhört: »...interessierten mich Newtons astronomische Lehren, seine allumfassende Weltenmechanik, deren Teile – Planeten, Monde, aber auch der Mensch – nur als Zahnräder eines komplexen Räderwerks erscheinen. Der Kosmos als Maschine gedacht, deren Mechanismen festen Regeln folgen. Eine Weltenuhr, Cornelius. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?«

»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Auf Gustavs Wangen bemerkte ich ein rotes, fiebriges Glühen, das aber auch vom Feuerschein herrühren konnte. Ich räusperte mich. »Wir –«

»Mit dem geeigneten Wissen und Werkzeug kann man also jeden Zustand der Weltenmaschine ermitteln, in der Gegenwart, aber auch in Vergangenheit und Zukunft. Man kann seinen eigenen Tod betrachten.«

Irgendwo klackte es mechanisch. Ich horchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. »Du hast Fieber, Gustav, du delirierst. Wir sollten dich schleunigst zu Bett bringen.«

Anstatt zu antworten, hob Gustav die Arme, die er matt auf beiden Lehnen niederlegte. »Newton war Okkultist, wusstest du das? Sein Gravitationsgesetz hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und: Er verstand das Universum als eine vom Allmächtigen entworfene Geheimlehre. Das Rätsel, so glaubte er, würde sich dem Initiierten durch reine Geisteskraft offenbaren. Ich konnte mir eine Abschrift seiner obskuren Schriften über Alchemie und Mystik beschaffen. Dann habe ich weitergeforscht. Und es ist mir tatsächlich gelungen, eine Apparatur nach kosmischem Vorbild zu entwerfen, zu bauen und in Gang zu setzen. Aber mir wurde kein Blick in die Zukunft geschenkt ...«

Er machteeine längere Pause. Das Feuer prasselte. »Nein, diese Maschine hatte eine andere Wirkung, eine gänzlich fatale, die ich nicht mehr abwenden kann: Das Jüngste Gericht wurde eingeleitet. Das Reich der Toten steht offen.«

Was sollte ich darauf erwidern? Selbstverständlich waren seine Worte lächerlich, ein hanebüchener Unsinn, den er im Fieberwahn daherfaselte. Aber ich wollte ihn nicht aufregen, das wäre Gift für seinen jetzigen Zustand gewesen. Sein Zustand war besorgniserregend – so ausgemergelt und kränklich er in seinem Sessel kauerte, die leblosen Augen starr aufs Feuer gerichtet.

»Lieber Onkel«, begann ich, doch wieder kam ich nicht dazu, meinen Satz zu beenden. Ich hörte ein metallisches Knirschen.

»Natürlich glaubst du mir nicht, hältst alles für das Geschwafel eines senilen Mannes. Also tu mir einen Gefallen: Bleib bis zur Dämmerung im Haus. Untersuche die Räume, die Kammer der Uhren, meine Werkstatt, und du wirst feststellen, dass hier vieles nicht mehr mit rechten Dingen zugeht. Es gibt ... seltsame Erscheinungen, grauenhafte Bilder, die –« Gustav brach ab. Wieder ein Klacken, das offenbar unter dem Teppich hervordrang.

»Gut, ich werde bleiben«, sagte ich und stand auf. »Man kann dich ohnehin nicht –«

»Lass mich allein. Erst am Abend erwarte ich dich zurück.« Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht mehr.

*

Noch gut zwei Stunden, bevor es dämmern würde. Draußen hatte das Licht bereits nachgelassen und ein gräulicher Schleier lag auf den Möbeln der Eingangshalle, die ich durchschritt, um mir die Uhrensammlung im Obergeschoss genauer anzusehen. Es behagte mir nicht, Gustav unten im Rauchsalon alleine zu lassen, andererseits schien er dringend Schlaf zu brauchen. Sollte er sich etwas ausruhen – denn ich hatte mir fest vorgenommen, ihn gleich am nächsten Morgen in ein Spital einzuweisen.

Auf den Treppen wurden meine Schritte durch einen Brokatläufer gedämpft; und eine beklemmende Stille umgab mich, wurde noch drückender, als ich das zweite Stockwerk erreichte. Anscheinend übte Gustavs Schauergeschichte doch eine Wirkung auf mich aus, obwohl ich mir das nicht eingestehen wollte: Ich war Mediziner, mich interessierten Fakten, keine okkulten Hirngespinste. Das Reich der Toten steht offen – das war geradezu lächerlich, so etwas erzählte man Kleinkindern!

Warum regte ich mich eigentlich dermaßen auf? Gustav war alt und krank, ich sollte mehr Nachsicht mit ihm haben.

Tief durchatmend betrat ich die kleine vom Gaslicht erleuchtete Kammer, in der mein Onkel seine größten Kunstwerke ausstellte: reich verzierte Pendulen nach französischem Vorbild und andere Uhren, die wundervolle, mechanische Figuren besaßen, Glockenschläger, Musiker und Hochzeitspärchen. Ihre Gelenke glänzten poliert im Schein der Lampen.

Sie waren reizend – früher hatte ich oft mit ihnen gespielt – doch Ungewöhnliches erkannte ich nicht an ihnen. Ich überlegte kurz, widerstand dann aber der Versuchung, eine der teuren Schmuckuhren aufzuziehen und das Schauspiel ablaufen zu lassen; Gustav war stets fuchsteufelswild geworden, wenn er mich als Kind dabei erwischt hatte, und auch heute –

Was war das? Eine leise, glockenhelle Melodie, wie aus einer Musikdose, drang an meine Ohren – Mozarts Requiem, unverkennbar. Ich suchte die Stelltische ab, doch keine der Uhren war in Gang gesetzt, weder der Zeiger noch der Spielmechanismus. Aufmerksam horchte ich nach dem Ursprung der Sequenz und hätte dabei fast die Figuren übersehen, welche nun anstelle der mir vertrauten in den Uhrgehäusen standen – starrende Dämonen, Skelette, Leichen, die begannen, sich mit schauerlichen Posen zu bewegen: Knochenhände wurden nach mir ausgestreckt, die Finger quietschten wie Scharniere; plötzlich ein tiefes, polterndes Dröhnen, als der Boden unter mir erbebte und eine Pendule vom Sockel stürzte, deren Schutzglas splitternd zerbrach.

Ich schrie, war vom Anblick so erschrocken, dass ich zurück zum Türrahmen stolperte und aus der Kammer stürzte. Erst auf dem Flur kam ich wieder zur Besinnung. Herzklopfen. Ich keuchte in schweren Zügen. Und noch immer spielte Mozarts Requiem, wurde lauter, klanggewaltig wie ein Orchester. Die Türe war zugefallen.

Fieberhaft versuchte ich diesen Vorfall zu deuten, war aber vom Schrecken so benebelt, dass es mir schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Spuk? Welche andere Erklärung konnte es sonst dafür geben? Aber das war völlig unmöglich! Es gab keine Nachwelt, das war reiner Aberglaube! Der Mensch besaß überhaupt keine Seele, alles war Körper und Fleisch, nur eine Maschine aus Muskeln und Sehnen, nicht mehr und nicht weniger. Ich war Forscher, so schnell ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen! Also zwang ich mich, erneut die Kammer zu betreten, doch zu meiner Verwirrung ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Mehrmals stemmte ich mich dagegen, bevor ich erschöpft aufgab.

*

In der abgedunkelten Werkstatt meines Onkels herrschte das übliche Chaos: Metallfedern, Klangwalzen, Schrauben, Werkzeuge und viele andere Einzelteile lagen scheinbar wahllos verstreut auf den Tischen und Drehbänken. Nur eine einzelne Gaslampe streute Licht in den Raum, pechschwarze Schatten in allen Ecken. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnten – erst danach entdeckte ich die Gestalt, welche an einer der Werkbänke hockte, den Rücken nach vorne gebeugt. Ihre Hände bewegten sich träge, offenbar setzte sie eine Schmuckuhr zusammen, aber es war nicht Gustav, der dort saß, dafür waren die Schultern zu schmal. Eine Frau, schoss es mir durch den Kopf und mein Eindruck bestätigte sich, während ich nähertrat. Sie trug ein weißes Rüschenkleid und ihre Arme waren entblößt, die Ärmel unzüchtig bis zum Oberarm hochgekrempelt.

»Geehrtes Fräulein?«, sprach ich sie an, und sogleich drehte sich ihr Kopf zu mir um – nur der Kopf! – wie bei einer Spielzeugpuppe, deren Glieder lose waren; die Schultern blieben reglos. Ein eiskalter Schauer fuhr mir durch Mark und Bein, als ich in ihr Gesicht schaute: leichenblasse Haut, ein lidlos starrendes Auge, das zweite fehlte, ebenso der Unterkiefer!

Ich wusste nicht, ob nach vorn oder zurück; dann fand ich mich, schweißnass und keuchend, in der Eingangshalle des Hauses wieder. Dort stand die Uhr – das riesige, gusseiserne Ungetüm, das vorhin noch verschwunden war, und schlug mir die Stunde, ihren schwarzen, alles verschlingenden Schatten drohend über mich werfend. Ich schrie um mein Leben, während sieben höllische Paukenschläge Wände und Decke erschütterten. Weiter, nur hinaus!

Halb blind vor Entsetzen stieß ich die Tür des Rauchsalons auf, wollte zum Kamin weiterhetzen, als ich mit einer Geistergestalt zusammenprallte, die in langen wehenden Schleiern im Kreise tanzte. Noch ein Geist am Klavier, er spielte das Requiem– ich taumelte vorwärts, dann seitlich, riss die Gestalt mit zu Boden und sah gerade noch, wie sich beide Lehnsessel umdrehten: mein Onkel als Zwilling, auf linkem und rechtem Polster.

*

»Dein ganzes Haus ein Uhrwerk, das sieht dir ähnlich.« Ich prostete meinem Onkel zu. Wir tranken Branntwein, hatten es uns am Kamin gemütlich gemacht. Das Feuer prasselte fröhlich. »Da hast du mich aber schön drangekriegt.«

»Richtig. Und gleich mehrfach, mein Junge.« Gustav schmunzelte in seinen Bart. »Ich spiele mit dem Gedanken, deine trüben Forscheraugen gegen gläserne austauschen.«

»Bloß nicht!«, rief ich und lachte. »Besser, du hebst sie für deine Automatenfrau auf. Sie schaut ganz grässlich aus ohne.«

»Das stimmt wohl«, erwiderte mein Onkel und stand auf, um seinem Doppelgänger erst das Hemd, dann den Brustkorb zu öffnen: Das Blech schwang auf und ich konnte das mechanische Innenleben des Maschinenmenschen betrachten.

»Wie hast du die Standuhr verschwinden lassen?«

»Durch eine Holzklappe. Die Hebebühne wird mit Dampfkraft betrieben.«

»Du kannst sie beliebig herauf- und herunterfahren?«

»Ganz recht. Bin ich froh, dieses Ungetüm endlich aus den Augen zu haben! Das schreckliche Ding bedrückt mich ... zählt meine Stunden bis zum Tod, lass dir das gesagt sein!«

»Würde mich nicht verwundern, Onkel. Und wie konnten die anderen Apparate ans Laufen –«

»Versteckte Bodeninduktoren, die durch Gewicht ausgelöst werden.«

»Aha, ich verstehe.« Ein Schluck aus meinem Glas. »Ganz schön ausgebufft für einen alten Strolch wie dich.«

»Werd bloß nicht unverschämt, Junge, sonst setzt es zwei hinter die Löffel!«

»Und diese Scheibe da? Welche Funktion hat sie?«, fragte ich rasch. »Etwas in der Art habe ich noch nie zuvor gesehen.«

Onkel Gustav wandte sich um; er nickte. »Das ist eine Wachsplatte, auf welcher ich meine kleine Krankenrede für dich aufgespielt habe. Meine neueste Erfindung. Durch ein verteufelt geniales Räderwerk mit Greifarm und mehrfacher Hemmung kann ich auf einzelne Segmente dieses Stimmenträgers zugreifen. Eigentlich wollte ich über zweihundert einzelne Sätze einprägen, aber es klappte nicht so richtig. Du kennst doch die Automate von Hoffmann oder diesen echten Schachtürken von … wie hieß der Bursche noch? Ich hatte mir jedenfalls in den Kopf gesetzt, so etwas Ähnliches nachzubauen.«

»Aus welchem Grunde?«

»Mein Junge, diese Frage kannst du dir mittlerweile doch selbst beantworten: Ich bin ein alter Mann, da fühlt man sich schnell einsam und kommt auf Ideen, seltsame Vorhaben, denen man nachgeht, oder vielleicht sollte ich besser sagen –«

Ich winkte ab. »Danke, das reicht. Ich habe verstanden.«

»Du solltest dich wirklich mehr um die Lebenden kümmern. Deine Forschungen machen dich zum Einsiedlerkrebs.«

»Meine Worte, Gustav. Meine Worte.«

Gustav lachte aufgeräumt, ehe er seinen Doppelgänger verschloss. »Führ ab und an eine hübsche Dame zum Essen aus. Und denk an deinen vergreisenden Onkel. Mein Bote Heinrich ist nur selten im Haus, das sich, wie ich zugeben muss, in einem beschämenden Zustand befindet.«

»Gut, ist versprochen, beides.«

»Dein Wort drauf?«

»Ich bin ein Ehrenmann, Gustav.«

»Ein Gauner bist du«, rief mein Onkel und griff nach dem Glas. »Jetzt lass uns speisen!«

*

Oben in der Kammer standen die Uhren still, bis auf eine. Sie hatte kein Ziffernblatt, sondern nur dünne, silberne Zeiger, die sich langsam im Kreise drehten – neun und zehn, dann elf, dann zwölf: Die kleine Tür öffnete sich, ein Skelett kam hervor und verbeugte sich grinsend, streckte seine Sense ins Gaslicht. Es schlug Mitternacht.

Das Lied der Grammophonbäume

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