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Inhaltsverzeichnis

Weitere Besuche im Hause Mao-Changs ließen nicht lange auf sich warten. Nichts anderes ist darüber zu verzeichnen als mein Schmerz, daß Seine Majestät mit den weißen Personen Umgang pflegte und jedesmal, wenn er in den Palast zurückkehrte, in den Mantel des berauschten Schlummers gehüllt war, der sich am nächsten Tage in ein Bleigewand verwandelte. Manchmal besuchten wir auch andere Häuser in dem gleichen Viertel, zuweilen in Gesellschaft der weißen Personen, zuweilen allein. Gespräche wie jenes beim ersten Besuch kamen in dieser Zeit nicht vor. Und an jedem darauffolgenden Tag war es meine Aufgabe, Seiner Majestät Leiden zu betreuen.

Denn seltsam: In der Zeit, die in dieser Weise vergangen war, hatte sich das Vertrauen Seiner Majestät restlos mir zugewendet. Ich war sein Lieblingsdiener. Ich begehrte keine Gaben von ihm und erstrebte nichts für mich selbst, denn ich verehrte Seine Majestät höher als alles andere. Ich wurde von vielen beneidet, was ich bald zu spüren bekam, aber ich fürchtete nur eine – sie, deren Schatten aus dem Palast der Nie versiegenden Quelle auf uns alle fiel, die allwissende Mütterliche Tugend. Aber es verging Tag für Tag und Woche für Woche, ohne daß sie mein Dasein zu bemerken schien. Manchmal gelang es mir, mir einzureden, daß sie den Diener ihres Sohnes mit Wohlgefallen ansah, manchmal erwachte ich mitten in der Nacht, zitternd vor Angst, ihre Handlanger könnten schon gekommen sein, um mich fortzuschleppen.

Aber ich eile zu unserem letzten Besuche bei Mao-Chang. Die zwei Personen, die ich gewohnt war, dort vorzufinden, saßen bereits unter den barbarischen Lampen, als der Sohn des Himmels in seiner Sänfte anlangte.

Es machte den Eindruck, als ob sie schon lange dagesessen hätten, denn bei unserer Ankunft war der Franzose Laplace betrunkener, als ich ihn je gesehen, und die Augen des Amerikaners Nevill blickten starr wie die Augen eines gekochten Fisches. Seine Majestät, an diesem Abend vom Wein ganz unberührt, merkte es gleich mir, und ich sah einen Ausdruck des Unmuts seine Stirn umwölken.

»Euer Majestät kommen heute abend spät«, lallte Laplace mit unsicherer Stimme.

»Um so früher warst du hier«, sagte Tung-Chih.

»Euer Majestät ist scharfblickender als die Richter in meiner Heimat. Einem solchen könnte ich einreden, daß ich soeben erst von dem elenden Renegaten zur Tür hereingelockt wurde. Aber Eure Majestät durchschauen mich sofort und erklären: Laplace, du sitzest schon lange hier! Ich sehe es an der leeren Flasche vor dir und an dem öligen Blick deiner schönen Augen.«

»Du führst wie gewöhnlich törichte Reden«, meinte Tung-Chih. »Immerhin gefällst du mir besser als der Amerikaner, der einem Ertrunkenen gleicht.«

»Haben Euer Majestät Nachsicht mit ihm! Er ist in dem tiefsten Meer ertrunken, das es gibt. Sehen Sie nur die drei Whiskyflaschen vor ihm! Er hat sie selbst alle drei trocken gelegt.«

»Du scherzest«, wunderte sich Tung-Chih. »Der Mann, der drei dieser teuflischen Flaschen leert, geht sicherlich zu den Neun Quellen.« (Poetische Umschreibung für Sterben.)

»Ich bin überzeugt«, erwiderte der Franzose, »daß Nevill die Neun Quellen noch obendrein austrinken könnte. Er ist ein Mann von großer, wenn auch verkannter Leistungsfähigkeit. Nebenbei möchte ich für die freundlichen Worte danken, die Euer Majestät eben über mich fallen ließen.«

»Welche Worte?« fragte Tung-Chih.

»Daß Euer Majestät trotz meiner eigentümlichen Redeweise an mir Gefallen finden.«

»Wenn ich es recht bedenke, hat mir vielleicht gerade diese gefallen. Du erinnerst mich an die sprechenden Vögel, die ich zu meiner Unterhaltung bekam, als ich ein Kind war. Die Macht der Kindheitserinnerungen kann gar nicht überschätzt werden.«

»Euer Majestät belieben zu scherzen«, antwortete der Franzose, der schnell genug nüchtern geworden war.

Tung-Chih schien nun in besserer Laune zu sein. Er tat einen tiefen Zug aus dem vor ihm stehenden Becher, und der Franzose beobachtete ihn verstohlen.

»Womit unterhält man derzeit Euer Majestät im Palaste?« fragte er plötzlich.

Tung-Chih sah gleichgültig vor sich hin.

»Mit allerlei Dingen«, antwortete er. »Es gibt dort noch sprechende Vögel in Hülle und Fülle. Einige sind mechanisch, andere lebendig.«

»Und gefallen ihre Reden Euer Majestät?«

Tung-Chih blickte aufs neue abwesend vor sich hin.

»Manche von ihnen glauben mich erschrecken zu können, so als ob ich noch immer ein kleines Kind wäre.«

»Aber Euer Majestät sind nicht mehr furchtsam?«

»Obwohl die Furcht keine der fünf Hauptsünden ist, gehört sie doch zu den verächtlichsten aller Fehler.«

»Und die Euer Majestät erschrecken zu können glauben, rechnen mit diesem Fehler?«

»Es hat den Anschein.«

»Ich bin überzeugt, daß sie sich irren. Ich bin gewohnt, zu beurteilen, ob Menschen furchtsam sind oder nicht. Es würde mir nie einfallen, Euer Majestät erschrecken zu wollen.«

Tung-Chih trank.

»Es gibt zwei Arten von Mut«, meinte er, »den, der von der Ruhe, und den, der von übertriebener Unruhe herrührt. Ich weiß nicht, ob ich irgendeine davon besitze.«

»Euer Majestät sind mutig«, erklärte Laplace, »aber man muß Gelegenheit haben, sich von seinem Mut zu überzeugen, um zu wissen, ob man ihn besitzt.«

Tung-Chih winkte Mao-Chang und trank die Hälfte des Bechers, den dieser hinstellte, auf einen Zug aus.

»Wir leben in Frieden«, sagte er. »Wie sollte ich da Gelegenheit haben, zu zeigen, ob ich mutig bin oder nicht?«

»Euer Majestät«, erwiderte Laplace, »ich liebe es, wenn ein Mann Herr in seinem Hause ist und ein Regent Herr in seinem Reiche. Ich bin bereit, mich für Euer Majestät zu opfern.«

Eine lange Pause entstand. Zum ersten Male hörte ich Laplace so unzweideutig sprechen. Und ich wartete auf die Antwort Seiner Majestät so gespannt, wie ein Verbrecher auf den Schiedsspruch des Richters wartet. War Laplace allzu kühn gewesen?

Minute um Minute verging, ohne daß man die Gedanken des Kaisers aus seinen Zügen erraten konnte. Plötzlich mußte ich an die Furchtbare im Palast der Nie versiegenden Quelle denken, und ich erzitterte. Gegen sie, gegen die allmächtige Mütterliche Tugend hatte der Franzose Seiner Majestät die Hilfe angeboten. Er war ein Tor! Wer hatte sich gegen sie je aufzulehnen unterfangen, ohne es mit dem Tode zu bezahlen? War es denkbar, daß sie in Mao-Changs Haus keine Spione hatte? Würde ihr ein Wort von diesem ins Ohr geflüstert, waren wir alle des Todes – ja, alle, denn ich zweifelte nicht, was ihr Wunsch im Hinblick auf die Lebensdauer des Kaisers war. Ich blickte von Seiner Majestät fort und zu dem Franzosen hin. Endlich geruhte Seine Majestät sich zu äußern:

»Kürzlich las ich eine Geschichte in dem Buch Hong-lumeng, die durch die Kommentatoren sehr berühmt geworden ist. Sie handelt von einer Schwiegertochter, die sich gegen die Schwiegermutter auflehnte. Diese entlarvte ihr Vorgehen und ließ sie in einen Brunnen werfen und sprach dazu: ›Möge sie sterben als eine Warnung für pflichtvergessene Kinder und für die Vögel, die, wenn sie flügge geworden sind, ihren Müttern die Augen aushacken.‹ Laplace, mein Freund, scheint diese Erzählung dir nicht von großem literarischem Wert?«

»Keineswegs«, antwortete frech der Franzose.

Der Kaiser trank.

»Und was vermögen die kleinen Vögel gegen den Adler?« bemerkte er schließlich.

»Eine ganze Menge«, sagte der Franzose, »wenn sie ein paar alte Falken an der Spitze haben«.

Seine Augen blitzten. Er wölbte die Brust vor und warf Nevill einen Blick zu, der keinen Zweifel darüber ließ, welche Personen er meinte. Tung-Chih folgte seinem Blick.

»Schade«, äußerte er, »daß gewisse Falken so wenig kampffähig wirken.«

»Vorübergehend, Euer Majestät, vorübergehend, der Grund liegt darin, daß die Zeit zu lange weichlich war. Sie brauchen nur eine Gelegenheit, um sich auszuzeichnen. Glauben Euer Majestät, daß eine solche Gelegenheit sich in nächster Zukunft bieten könnte?«

Tung-Chih trank sein Glas mit einer hastigen Bewegung aus.

»Schon in uralten Zeiten«, sagte er, »wurden die Falken zur Jagd verwendet. Hier ist es sehr heiß. Mein Kopf schmerzt. Vielleicht sehen wir uns binnen kurzem.«

Er erhob sich und ging. Dabei hörte ich den Franzosen ein Geräusch mit den Lippen hervorbringen, wie es Stare und weiße Personen gerne ausstoßen, wenn sie befriedigt sind. Von gesteigerter Unruhe erfüllt, eilte ich der Sänfte Seiner Majestät nach.

 Frank Heller-Krimis

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