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Günther Weber, 23. Februar 1945, Leipzig

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Der Kasernenkomplex in der Nähe der sächsischen Großstadt lag einigermaßen versteckt in einem vorwiegend mit Kiefern bewachsenen Waldgebiet. Diese Nutzbäume waren vor einigen Jahren als Plantage angelegt worden und nicht von selbst aus der Natur heraus entstanden. So war bereits bei der Pflanzung der Setzlinge darauf geachtet worden, das damals noch in der Planung befindliche militärische Gelände so zu gestalten, dass Flächen für Verkehrswege und Gebäude freigehalten wurden. Ende der zwanziger Jahre waren dann die Bauarbeiten begonnen worden und in relativ kurzer Zeit hatte sich dort ein ziemlich ausgedehnter Bereich für die Nutzung durch die Reichswehr entwickelt. Zu dieser Zeit war den deutschen Militärs schon klar gewesen, dass zukünftige Kriege eine viel stärkere Motorisierung als die vergangenen Auseinandersetzungen erfordern würden, und dass vor allem eine Waffengattung eine wichtige Rolle spielen sollte: die Panzerwaffe. Nicht von ungefähr und fast zeitgleich mit dem Baubeginn dieses Komplexes in Sachsen hatte es eine geheime Übereinkunft zwischen der Sowjetunion und Deutschland gegeben, um bei Kasan in einer Kaserne und dem nahegelegenen Übungsgelände eine gemeinsame Panzerschule in Betrieb zu nehmen. Deutsche und sowjetische Soldaten wurden zusammen in der Theorie und der Praxis des Panzerkampfes geschult. Zum Einsatz kamen die ersten Modelle zukünftiger deutscher Kampfwagen, deren wahre Zweckbestimmung hinter Begriffen wie „Landwirtschaftlicher Schlepper“ versteckt wurden. In diesem Kontext war in Deutschland viel Wert darauf gelegt worden, ähnliche Übungsgelände im eigenen Land zur Verfügung zu haben. Der Bereich um Leipzig war für Braunkohlevorkommen bekannt. Die Deckschichten des Bodens bestanden an vielen Orten aus sandigem Material und die Gelände waren ohne größere Erhebungen fast eben. Blickte man von der Mitte Deutschlands aus über die Grenzen auf die Landmassen im Westen und Osten in die zukünftigen Kampfgebiete, fand man ähnliche geologische Bedingungen vor. So gesehen konnte man im Übungsgelände ähnliche Bedingungen wie vor allem im Osten antreffen.

Günther Weber war mit den fünf überlebenden Grenadieren seines Bataillons nach dem Erreichen der eigenen Frontlinie in Ungarn sofort in die Etappe kommandiert worden. Den Stabsoffizieren war vermutlich klar gewesen, welches Martyrium die Soldaten auf sich genommen hatten. Alle sollten für sieben Tage in den Heimaturlaub gehen und sich dann in der Kaserne bei Leipzig melden. Weber hatte die Tage bei seinen Eltern verbracht und deren große Sorge um ihn verspürt. Deswegen war sein Auftreten gespielt optimistisch gewesen und er meinte sie in dem Glauben zurückgelassen zu haben, dass sich alles irgendwie noch zum Guten wenden würde. Als er sich in der Kaserne gemeldet hatte war er direkt in die Standortkommandantur zu einem Brigadeführer befohlen worden. Dort angekommen wurde ihm mitgeteilt, dass er aufgrund seiner Verdienste um Deutschland im Kampf gegen die Feinde des Reiches vom Führer mit der Verleihung des Ritterkreuzes ausgezeichnet worden wäre. Darüber hinaus würde ihm die Ehre zuteil, ein Panzerjagdbataillon aufzustellen, dessen Führung er übernehmen sollte. Das Bataillon würde logischerweise ausschließlich aus SS-Soldaten bestehen, die aus verschiedenen Splitterverbänden und Abgängern von Junkerschulen zu einer schlagkräftigen Truppe geformt werden sollten. Insgesamt würde der Verband um die 320 Soldaten haben, 17 Offiziere und 103 Unteroffiziere. Die drei Panzerjägerkompanien hätten jeweils drei Züge, und diesen sollten wiederum jeweils vier Kampfwagen zugeteilt werden. Zwei Panzer würden der Führungsgruppe der Einheit zugewiesen werden. Insgesamt käme man rein rechnerisch auf 38 Panzerkampfwagen. Leider wäre es so, dass man hier von der Sollausstattung reden würde, aber die momentane Situation in Bezug auf die Zuführung von Material und Menschen würde wohl eher erwarten lassen, dass man real deutlich weniger Fahrzeuge und Soldaten erhalten werde. Etwas tröstlich sei in diesem Zusammenhang die zugesagte Zuführung von acht Jagdpanzern IV und 13 Jagdpanzern 38, die man sinnigerweise als „Hetzer“ bezeichnen würde, sowie von zwei „Jagdpanthern“. Der Stab sollte zwei Panzer IV Ausführung J erhalten. Die Jagdpanzer hätten sich ja bereits vielfach im Abwehrkampf bewährt und wären eine brachiale Waffe, mit denen man den Horden der roten Panzer garantiert Herr werden würde. Insbesondere die „Jagdpanther“ würden gewaltig hinlangen und wo sie auftraten dann kein Gras mehr wachsen. Einige der Kampfwagen wären schon zugeführt worden, und die Besatzungen bereits in der Ausbildung. Die Infanteristen könnten auf die Panzerfaust und den „Panzerschreck“ zurückgreifen, diese Nahkampfwaffen würde es jetzt wie Sand am Meer geben. Während die Panzerfaust ja ein Einwegmodell wäre, könnte der „Panzerschreck“ mehrfach verwendet werden, und wäre wegen des Raketenantriebs erheblich wirksamer und der potentielle Panzerknacker. Für die Bedienung müsste man aber Spezialisten ausbilden. Der Februar wäre nun fast schon vorbei und so wie die Dinge stünden, würde der Iwan sicher demnächst wieder antreten, um Berlin einzunehmen. Er wolle weiß Gott nicht unken, hatte der Brigadeführer zu Weber relativ offen gesagt, aber es würde in den kommenden Wochen sicher um Sein oder Nicht-Sein des Reiches gehen. Weber könnte jetzt Fragen zu seiner neuen Verwendung stellen.

Günther Weber hatte zwar mit der Übertragung des Kommandos über eine Einheit gerechnet, aber keineswegs mit der Befehlsgewalt über so einen speziellen Verband. Da er wusste, dass die Würfel sowie so schon gefallen waren, hätte eine Ablehnung ohnehin keine Erfolgsaussicht mehr gehabt. Dennoch wollte er klarstellen, dass er zwar mit seinen Grenadieren schon immer zusammen mit schweren Waffen im Gefecht gestanden hatte, aber eben noch nie als Kommandeur so einer Waffengattung. Der Brigadeführer hatte sich Webers Einlassung angehört aber dann ärgerlich abgewunken. In dieser Schicksalsstunde des Landes müsse jeder seinen ihm zugewiesenen Platz einnehmen, und er, Weber, wäre ein dermaßen erfahrener und fronterprobter Offizier, dass er diese Aufgabe sicher ohne Tadel ausführen könne. Jetzt würde es darum gehen, den Verband möglichst schnell einsatzfähig zu machen. Der Stab wäre schon formiert worden, und er solle sich für den Anfang an Obersturmführer Langhagen wenden. Diesen Offizier traf Weber im Anschluss an das Gespräch mit dem Brigadeführer ein paar Zimmer weiter entfernt.

„Ja, die Fahrzeuge laufen gerade zu“ hatte der Offizier Weber berichtet „alles fabrikneue Ware. Riecht zum Teil noch nach Farbe. Tolle Dinger. Damit werden wir dem Iwan Moses lehren.“

„Mores“ berichtigte Weber.

Eine Erinnerung an den Lateinunterricht in der Schule blitzte auf. Sein phantastisches Gedächtnis sagte Weber, dass „mores“ so viel wie Sitte oder Anstand bedeutete. Wenn er auf die Schulzeit zurückblickte dachte er sich, dass Lehrer und Schüler gemeinsam viel Zeit und Kraft investiert hatten, um Wissen zu vermitteln, und zu erlangen. Alles hatte das Ziel gehabt die jungen Menschen darauf vorzubereiten einen Beruf erlernen zu können oder gar zu studieren. Auf dieser Basis hätten sie sich einen Partner suchen und eine Familie gründen können. Weber hatte sich noch nie in Grübeleien über den Sinn des Lebens verloren. Für ihn sah es so aus, dass er vielleicht einen winzigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Mathematik hätte leisten können. Stattdessen war er über die Zeit des Krieges hin zu einem kaltblütigen Krieger mutiert, der seine Fähigkeiten dahingehend perfektioniert hatte, andere Menschen möglichst effektiv zu töten. Das belastete ihn kaum, schließlich dachten und handelten seine feindlichen Gegenüber genauso. Gefühlsduseleien waren Weber schon immer fremd gewesen, und deswegen kamen irgendwelche moralischen Bedenken nicht an ihn heran. Er hatte einen neuen Auftrag, und er würde ihn gut erfüllen.

Weber hatte seine in der Aufstellung befindliche Einheit bei einem Apell inspiziert. Die Kampfwagen waren tatsächlich neu und für den Apell extra gereinigt worden. Die Besatzungen hatten daneben Aufstellung genommen, die Grenadierzüge standen perfekt in Reih und Glied. Alles machte auf Weber einen hervorragenden Eindruck. Er war in einer Ansprache an die Truppe kurz auf deren Auftrag und die Wichtigkeit eines Erfolges eingegangen. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass die überwiegende Anzahl der Infanteristen blutjunge Männer waren. Sicher brachten sie die notwendige Motivation für den Kampf mit, aber das konnte die fehlende Erfahrung nicht ersetzen. Viele von ihnen würden in den nächsten Wochen sterben. Möglicherweise ahnten sie das selbst, aber sie waren fast ihre gesamte bisherige Lebenszeit im Geiste des Nationalsozialismus erzogen worden. Deswegen war es für sie selbstverständlich für ihr Vaterland zu kämpfen, und wenn es nicht anders ging, auch ihr Leben zu opfern. Vorher würden sie aber mit wilder Entschlossenheit gegen den Feind vorgehen, so wie es viele andere junge SS-Männer schon an der Invasionsfront in Frankreich oder anderswo getan hatten. Der Widerstand dieser fanatischen Kämpfer würde den Gegner große Verluste kosten.

Weber beobachtete die Übung des Bataillons von einer etwas erhöhten Stelle des Geländes aus. Ziel war es, das Zusammenwirken der Panzerjäger und der Grenadiere zu trainieren. Egal ob es sich bei den Panzerfahrzeugen um Angriffspanzer oder Panzerjäger handelte, sie mussten im Nahbereich durch die Infanterie geschützt werden. Gerade schob sich einer der beiden „Jagdpanther“ in Webers Blickfeld und blieb ungefähr 30 Meter vor ihm und den anderen Beobachtern sanft federnd stehen. Günther Weber würde sich selbst nicht als Ästhet bezeichnen, dazu war er zu rational veranlagt. Aber er hatte ein natürlich gegebenes Gefühl für die Stimmigkeit von Formen und Proportionen. Der in seiner Sichtachse stehende Panzer war ein Koloss. Mit der weit über das geneigte Bugblech herausragenden Kanone war er knapp 10 Meter lang, 2 Meter 70 hoch, fast 3 Meter 50 breit, 45 Tonnen schwer. In der Seitenansicht kam die ballistisch hervorragende Formgebung gut zur Geltung. Die gesamte Fahrzeugfront von der Wanne bis zur Oberkante des Aufbaus verlief in einer 35 Grad geneigten Frontplatte. Auch die Seitenwände und das Heckblech waren abgeschrägt. An diesem Fahrzeug gab es keine einzige senkrecht stehende sichtbare Fläche. Rein mathematisch musste Weber nicht groß über den Vorteil geneigter Panzerplatten nachdenken, deren effektive Panzerungsstärke infolge der Geometrie größer als die physikalische Dicke der Panzerung ist. Weiterhin konnten mit schrägliegenden Panzerungen bessere Ablenkungseffekte der Geschosse erreicht werden. Abgesehen von diesen Überlegungen erschien Weber das Fahrzeug wie ein konstruktiv gut gelungener Körper, dessen Proportionen Stärke und Widerstandskraft ausdrückten. Weiter hinten erkannte Weber vergleichsweise kleine Panzer, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem „Jagdpanther“ aufwiesen. Es waren „Jagdpanzer 38 (t)“, „Hetzer“ genannt. Offensichtlich hatten der Entwicklung dieses Fahrzeuges die gleichen Konstruktionsprinzipien wie bei dem größeren Fahrzeug zugrunde gelegen. Sofort fielen allerdings die Größenunterschiede ins Auge, die auch bei der Waffe deutlich wurden. Der „Jagdpanther“ wirkte wie ein ausgewachsener Elefantenbulle, der „Hetzer“ wie sein Kind. Dennoch waren beide Fahrzeuge für die Gegner höchst gefährlich, auch das kleinere. Bei aller Begeisterung über diese Fahrzeuge sagte sich Weber aber auch, dass die Konzentration auf solche Typen das Eingeständnis eines Scheiterns war. Mit den Jagdpanzern wurde ein defensiver Ansatz verfolgt, es ging nur noch um das möglichst lange Standhalten. Eventuell würden sich die Sowjets an diesen Panzern die Zähne ausbeißen, aber besonders realistisch war das nicht. Dazu waren die Kräfteverhältnisse mittlerweile viel zu ungünstig für die Deutschen, und mit jedem weiteren Tag wurden sie noch schlechter. Weber würde den Soldaten aber dennoch unerschütterlichen Optimismus vermitteln denn er war selbst nicht bereit, sich jetzt schon geschlagen zu geben. Obwohl die Zeitgeschichte einige unerwartete Wendungen bereitgehalten hatte glaubte er nicht mehr an einen Umschwung, aber er hielt es mit dem Motto auf seinem Koppelschloss:

„Meine Ehre heißt Treue.“

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 23

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